Read only on LitRes

The book cannot be downloaded as a file, but can be read in our app or online on the website.

Read the book: «Im Hause des Kommerzienrates», page 7

Font:

Sie sah, wie sich das schöne, bärtige Gesicht des Doktors liebevoll über die treue, mütterliche Pflegerin neigte, wie er sie fest an sich zog und ihre Hand von seiner Schulter nahm, um sie ehrerbietig zu küssen. Und nun überblickten seine Augen das Zimmer.

»Nun, Leo, was sagst Du, dass ich ohne Dein Vorwissen ausgeflogen bin?« fragte die alte Dame, den Blick auffangend.

»Ich sollte das eigentlich nicht billigen. Du hast Dir in den wenigen Tagen zu viel zugemutet, und wir wissen, dass Dir häusliche Unruhe und Überstürzung stets feindlich sind; übrigens siehst Du wohl und frisch aus.«

»Du aber nicht, Leo«, unterbrach ihn die Tante bekümmert. »Du hast nicht die kräftige Farbe wie sonst, und hier« – sie strich leicht mit der Hand über seine Stirn – »liegt etwas Fremdes, etwas wie ein finsterer, quälender Gedanke. Hast Du Verdruss gehabt auf Deiner Berufsreise?«

»Nein, Tante!« Das klang aufrichtig und beruhigend, aber auch kurz abbrechend – der Kommerzienrat hatte es ja gesagt, Bruck sprach nie über seinen Beruf und dessen Vorkommnisse. »Wie mich dieses Zimmer anheimelt, trotz seiner verdunkelten Wände!« sagte er, und die Hände auf dem Rücken gekreuzt, wandelte er mit musterndem Blicke langsam nur den Tisch. »Der Friede der selbstlosen Frauenseele weht einen an – das ist’s auch, weshalb ich so gern heimgehe in unser Stillleben mit den einfachen Möbeln und Deinem geräuschlosen Walten, Tante. Ich werde viel hier sein –«

Die alte Frau lachte. »Ja, ja, bis zu einem gewissen Junitage«, versetzte sie schelmisch. »Zu Pfingsten wird Deine Hochzeit sein.«

»Am zweiten Pfingsttage.« Wie seltsam er das aussprach, so kalt und fest, so unerbittlich – der ließ sich nicht eine Sekunde von der festgesetzten Stunde abdingen. Käthe fühlte etwas, wie einen Angstschauer. Sie hielt den Atem zurück; nun durfte sie sich gar nicht sehen lassen. Von Minute zu Minute hoffte sie, dass der Doktor in sein Zimmer gehen werde, dann konnte sie leicht ihren hohen Standpunkt verlassen und hinausschlüpfen, ohne ihm begegnen zu müssen. Ihre ganze Natur empörte sich gegen dieses unfreiwillige Lauschen. Aber statt zu gehen, blieb er plötzlich am Tische stehen und nahm einen Brief zur Hand, der zwischen verschiedenen, noch nicht geordneten Bücherstößen lag.

Die Tante machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle sie ihn verhindern, zu lesen; ihr zartes Gesicht war sehr rot geworden. »Ach Gott, wie vergesslich wird doch so ein alter Kopf!« klagte sie. »Der Brief wurde vor einigen Stunden aus der Stadt mitgebracht. Er ist vom Kaufmanne Lenz; heute sollte er gar nicht in Deine Hände kommen, und nun habe ich ihn doch liegen lassen. Ich glaube, er enthält das Honorar – zu so ungewöhnlicher Zeit, Leo – ich fürchte –«

Der Doktor hatte das Couvert bereits erbrochen und überflog die Zeilen. »Ja, auch er lohnt mich ab«, sagte er ruhig und warf den Brief und etwas Papiergeld auf den Tisch. »Grämst Du Dich darüber, Tante?«

»Ich? Nicht einen Augenblick, Leo, wenn ich weiß, dass Du Dir die Undankbarkeit dieser urteilslosen Menschen nicht zu Herzen nimmst. … Ich glaube unerschütterlich an Dich und Deine Kunst und – an Deinen Stern«, sagte die sanfte Frauenstimme warm und überzeugungsfroh. »Die Steine, die Missgeschick und Übelwollen Dir zeitweilig unter die Füße werfen, beirren mich nicht – Du machst Deinen Weg.« Sie zeigte in die offene Tür des Eckzimmers. »Sieh’ Dir Dein Stübchen an! Wie ungestört und unbehelligt wirst Du hier denken und arbeiten können! Ach, und wie freue ich mich der Zeit, die wir noch traulich zusammenleben werden, wo ich noch für Dich sorgen darf –«

»Ja, Tante – aber die Einschränkungen, die Du in Folge des misslichen Umschwungs meiner Verhältnisse während der letzten Monate allmählich eingeführt hast, müssen aufhören. Ich leide nicht mehr, dass Du stundenlang auf dem kalten Steinfußboden der Küche stehst. Wenn möglich, rufst Du noch heute unsere alte Köchin zurück. Du kannst das unbesorgt.« Er griff in die Brusttasche, nahm eine schwere Börse heraus – sie strotzte von Goldstücken – und schüttete ihren Inhalt auf den Tisch.

Die alte Frau schlug stumm und in freudiger Überraschung die Hände zusammen über das rollende Gold auf ihrer einfachen Tischdecke.

»Es ist ein einziges Honorar, Tante«, sagte er mit hörbarer Genugtuung. »Die schwere Zeit ist vorüber.« Bei diesen Worten wandte er sich ab und trat auf die Schwelle des Eckzimmers.

Man sah, die Tante hatte manches auf dem Herzen, aber sie fragte mit keiner Silbe, welcher Kur und welchem Patienten er diese große Geldsumme verdanke.

Käthe benutzte den günstigen Moment, um die Leiter hinabzugleiten. Wie schlug ihr das Herz, wie brannten ihre Wangen vor Beschämung darüber, dass sie diese intimen Erörterungen mit angehört hatte! Dort die Tür führte direkt in den Flur. Da hinaus konnte sie unbemerkt entkommen; selbst die Tante Diakonus sollte glauben, sie habe längst das Schlafzimmer verlassen und kein Wort von allem gehört, was gesprochen worden. Verstohlen flog ihr Blick hinüber in das Eckzimmer, wo die beiden eben an den Schreibtisch traten. In diesem Augenblicke hörte sie den Doktor sagen: »Sieh da, die ersten Frühlingsblumen! Hast Du gewusst, dass ich die hübschen blauen Blümchen so gernhabe?«

Ein Ausruf des Staunens unterbrach ihn. »Ich nicht, Leo – Käthchen, Deine junge Schwägerin, hat die Blumen in das Glas gestellt. … Nein, bin ich zerstreut und vergesslich!« Die alte Dame eilte herüber, aber schon drückte Käthe draußen die Tür hinter sich zu und schlüpfte durch den Flur ins Freie.

Nun ging sie langsam und beruhigt unter den Fenstern hin. Durch die nächsten schimmerten schwach die bunten Bouquets der schief und unvollendet herabhängenden Bettgardine; dann kam sie zu den zwei Fenstern mit den hübschen Filetvorhängen im Zimmer der Tante. Ein Fensterflügel stand offen, und der Hyazinthen- und Narzissenduft wehte heraus. Plötzlich schob eine schöne kräftige Männerhand ein weißes Glas mit blauen Blumen auf den Sims, zwischen die Töpfe; es war ihr kleiner Frühlingsstrauß, den der Doktor von seinem Schreibtische entfernte und hierherbrachte.

Sie fuhr heftig zusammen. Flüchtig und unbedacht, wie sie war, hatte sie sich in ein sonderbares Licht gestellt. Dass sie die Blumen auf seinen Tisch gesetzt, musste er offenbar für die Taktlosigkeit, die Zudringlichkeit eines unbesonnenen jungen Mädchens halten. Sofort blieb sie stehen, und den feuchten Glanz unterdrückter Zornestränen in den Augen, streckte sie die Hand zum Fenster empor – diese Bewegung machte den Doktor aufsehen.

»Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mir die Blumen herauszugeben, Herr Doktor? Sie gehören mir; ich hatte sie für einen Moment aus der Hand gelegt und dann vergessen«, sagte sie, mühsam ihre Aufregung unter angenommener Ruhe verbergend.

Im ersten Moment schien es, als erschrecke er leicht beim Klange der Stimme, die ihn so unerwartet ansprach, es war ihm doch wohl unlieb, dass Käthe ihn beobachtet hatte, aber er unterdrückte augenblicklich die unangenehme Empfindung und sagte freundlich: »Ich werde Ihnen die Blumen bringen.« Diese tiefe gelassene Stimme entwaffnete sie sofort – er hatte ihr nicht wehe tun wollen.

Gleich darauf kam er die Stufen herab. Mit dem prächtig niederwallenden Bart, der breiten Brust und den gemessen edlen Bewegungen war und blieb er eine Gestalt, die man sich eigentlich nur in Uniform denken mochte, und wenn auch nur im grünen Waidmannsrocke. Er reichte dem jungen Mädchen das Glas mit einer höflichen Verbeugung.

Sie nahm die Blumen heraus. »Es sind die ersten, kleinen, vorwitzigen Dinger, die nicht schnell genug in die scharfe Aprilluft herauskommen können«, sagte sie lächelnd. »Man muss sich vielmal bücken und sie mühsam zusammensuchen, freut sich dann aber auch mehr daran, als an einem ganzen Treibhaus voll Blumen.« – Nun erst war sie beruhigt; nun glaubte er ganz gewiss nicht mehr, dass sie auf die neue Verwandtschaft hin seinen Schreibtisch plump vertraulich attackiert habe.

Jetzt erschien auch die Tante am offenen Fenster. Sie entschuldigte sich und bat das junge Mädchen in warmen Worten, recht oft zu kommen.

»Fräulein Käthe geht ja schon in wenigen Wochen nach Dresden zurück«, antwortete der Doktor fast hastig an Käthes Stelle.

Sie stutzte. Hatte er Furcht, sie werde bei ihren Besuchen mit der ahnungslosen alten Frau über sein seltsames Verlobungsverhältnis sprechen? Diese Annahme verdross sie, aber er tat ihr so leid um seiner inneren Leiden willen, die er so streng in seiner Brust verschloss. Und sie konnte ihn nicht einmal beruhigen.

»Ich werde länger bleiben, Herr Doktor«, versetzte sie ernst. »Ja, es ist leicht möglich, dass sich mein Aufenthalt in Moritzens Hause über viele Monate ausdehnt. Als Henriettens Arzt werden Sie ja am besten beurteilen können, wann ich meine kranke Schwester ohne Sorge verlassen und zu meinen Pflegeeltern zurückkehren kann.«

»Sie wollen Henriette pflegen?«

»Wie es sich von selbst versteht«, ergänzte sie. »Schlimm genug, dass ihre Pflege bis heute ausschließlich in fremden Händen gewesen ist. Die Arme verbringt ihre Nächte lieber hilflos, als dass sie sich entschließt, Beistand herbeizurufen, weil die sauren, mürrischen Mienen der verschlafenen Gesichter sie beleidigen, weil sie zu stolz und vielleicht auch zu krankhaft reizbar ist, um sich ihre Abhängigkeit von Untergebenen so fühlbar machen zu lassen. Das darf nicht mehr vorkommen – ich bleibe bei ihr.«

»Sie denken sich die Aufgabe jedenfalls viel zu leicht – Henriette ist sehr krank;« er strich sich mit der Hand so langsam über die Stirn, dass die Augen für einen Moment nicht sichtbar waren; »es werden schwere, bange Stunden zu überwinden sein.«

»Ich weiß es«, sagte sie leise und tiefe Blässe deckte sekundenlang ihr Gesicht. »Aber ich habe Mut –«

»Daran zweifle ich nicht«, unterbrach er sie, »ich glaube ebenso an Ihre Geduld wie an Ihre ausdauernde Barmherzigkeit, aber es lässt sich nicht ermessen, bis zu welchem Zeitpunkt die Kranke – keine Pflege mehr brauchen wird. Deshalb darf ich nicht zugeben, dass Sie die Sache so energisch in die Hand nehmen. Sie können es physisch nicht durchsetzen.«

»Ich?« Sie hob und streckte unwillkürlich ihre Arme und sah stolzlächelnd auf sie nieder. »Kommt Ihnen Ihre Befürchtung nicht selbst unmotiviert vor, wenn Sie mich ansehen, Herr Doktor?« fragte sie mit einem heiteren Aufblick. »Ich bin von derbem Schrot und Korn; ich bin nach meiner Großmutter Sommer geartet; die war ein Bauernkind, oder vielmehr ein Holzhackerstöchterlein, ist barfuß gelaufen und hat die Axt im Walde besser geschwungen als ihre Brüder – ich weiß es von Suse.«

Er sah von ihr fort zum offenen Fenster hinüber; da stand die alte Frau Diakonus selbstvergessen hinter ihren Hyazinthen und Narzissen, und ihr Blick hing wie verzaubert an dem Mädchen. – Sein Gesicht verfinsterte sich auffallend.

»Es handelt sich weniger um die Stahlkraft der Muskeln«, sagte er ausweichend. »Ein solches Pflegeramt mit seinen Aufregungen und Ängsten richtet sich feindlich gegen das Nervenleben – übrigens«, unterbrach er sich, »steht es mir ja gar nicht zu, bestimmend auf Ihre Entschlüsse einzuwirken. Das ist Sache Ihres Vormundes. Moritz soll entscheiden; er wird voraussichtlich darauf bestehen, dass Sie zur festgesetzten Zeit in das Haus Ihrer Pflegeeltern zurückkehren.« Der Doktor sprach die letzten Worte, ganz gegen seine gewohnte Milde und Gelassenheit, ziemlich schroff.

Die Tante zog sich unwillkürlich tiefer in das Zimmer zurück; Käthe dagegen blieb ruhig stehen »Aber warum denn so unbeugsam, Herr Doktor? Warum wünschen Sie denn, dass Moritz gar so hart mit mir verfährt?« fragte sie mädchenhaft sanft. »Will ich denn Böses? Und sollte Moritz wirklich die Befugnis zustehen, mich von der Erfüllung meiner schwesterlichen Pflicht abzuhalten? Ich glaube es nicht. … Nun weiß ich aber einen Ausweg: Veranlassen Sie Henriette, mich nach Dresden zu begleiten! Dort teile ich mit meiner Doktorin die Pflege der Patientin; das wird doch meinen Nerven nicht schaden?« Sie lächelte ganz leise.

»Gut – ich werde einen Versuch machen«, sagte er sehr bestimmt.

»Dann gebe ich Ihnen mein Wort, dass ich so bald wie möglich auf- und davonfliegen werde«, versetzte sie ebenso fest mit einem sprechenden Blick, vor dem er, wie auf einem Unrecht ertappt, die Augen niederschlug.

Die Tante bog sich plötzlich aus dem Fenster und sah dem Doktor erstaunt und beweglich in das Gesicht – er war ja merkwürdig schweigsam. Da stand er nun und löste einige verdorrte Weinranken vom Spalier, die der Zugwind hin- und herschaukelte, und sagte keine Silbe mehr.

»Gehen Sie denn so gern?« fragte die alte Frau sichtlich verlegen mit liebreichem Vorwurfe.

Käthe zog eben den in den Nacken gesunkenen Schleier wieder über den Kopf und knüpfte ihn fest unter dem Kinn. Wie eine Pfirsichblüte leuchtete ihr Gesicht aus dem dunkeln Gewebe. »Soll ich aus Höflichkeit ›Nein‹ sagen, Frau Diakonus?« fragte sie lächelnd zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich bin leidlich vernünftig für die Welt und ihre Dinge, wie sie nun einmal sind, erzogen, aber all’ und jede Caprice der Individualität fegt auch die strengste Zucht nicht aus den Seelenwinkeln. Ich stehe z. B. der Großmama meiner Schwestern heute genauso verwunderlich fremd gegenüber, wie damals, wo ich ihr auf Befehl meines Vaters die Hand küssen musste; ich stoße mich insgeheim konsequent an Ecken und Eckchen, die für andere nicht da sind und welche mich schon als Kind gequält und beunruhigt haben. Und wie durchkältet ist mein Vaterhaus!« – sie schauerte – »man steht mit seinen warmen Füßen auf zu viel Marmor. Dazu ist Moritz ein so entsetzlich vornehmer Mann geworden« – zwei schelmische Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen – »man erschrickt und schämt sich ja förmlich, wenn einem die eigene kahle Visitenkarte vor die Augen kommt … ja, meine liebe Frau Diakonus, ich kehre herzlich gern nach Dresden zurück, vorausgesetzt, dass Henriette mich begleitet; außerdem« – sie wandte sich, aus dem scherzenden Tone in einen sehr entschiedenen übergehend, wieder an den Doktor – »außerdem werde ich mein Möglichstes tun, mich in die gegebenen Verhältnisse zu schicken und zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, dass Moritz mich zwangsweise nach Dresden zu befördern versucht.«

Sie grüßte herzlich zu der alten Dame hinüber, verbeugte sich leicht gegen den Doktor und verließ den Garten, um doch noch in die Schlossmühle zu gehen, obgleich bereits der Abend hereinbrach.

8

Und nun war es ganz dunkel geworden; auf dem Turme der Spinnerei hatte es Sieben geschlagen, und Käthe saß noch in dem einen Bogenfenster der Schlossmühlenstube. Sie hatte zwar vorher auf Suses dringende Bitte hin den Wäscheschrank inspiziert; die Alte traute der Müllerfrau nicht, die pflegend ab- und zuging, und behauptete, nach schöner, »selbstgesponnener« Wäsche mache »jede« lange Finger, dann hatte sie, wie bisher jeden Tag, die Abendsuppe gekocht und die Kranke zu Bett gebracht, die, wenn auch bedeutend wohler, doch noch sehr unbehilflich und schwach war. … Nun aber saß das junge Mädchen doch schon lange Zeit, die Hände feiernd im Schoße gefaltet, still in der Fensterecke und ließ sich von den Schatten des Abends förmlich einspinnen. So gut wurde es ihr drüben im Hause des Kommerzienrates nicht; da gab es kein Erholungsdämmerstündchen wie in Dresden. Sobald die Sonne erloschen, sanken unerbittlich die Rouleaus unter den Händen der Dienerschaft; die Gasflammen schlugen auf, und eine blendende Lichtflut jagte den Schatten auch aus den fernsten Ecken.

Der dumpfe Pendelschlag der alten Wanduhr klang wie ein taktmäßiges, unterirdisches Klopfen, und durch den dicken, grünen Vorhang der geschlossenen Alkoventür glomm das Nachtlicht an Susens Bett wie ein verdüstertes Gnomenauge. Das war wieder einmal ein so atemlos stiller Augenblick im Dunkeln. Wie hatte sie als Kind in solchen Momenten gläubig auf das Huschen und Schlurfen weißbestäubter Heinzelmännchen gehorcht, wenn ihr Suse erzählte, dass im Grundsteine der Mühle abergläubischer und barbarischer Weise ein neugeborenes Kind eingeschlossen und der Mauermörtel von dem übermütigen Erbauer mit kostbarem Wein gemischt worden sei! Heute flogen ihr diese Erinnerungen nur flüchtig durch den Sinn; ihr Auge hing an dem schwachen Dämmerscheine, der durch das Südfenster hereinfiel, auf die Stelle, wo der Schlossmüller gestorben war, und sie dachte an die Art und Weise, wie Doktor Bruck ihr selbst die öffentliche Verurteilung seiner Person mitgeteilt, und jetzt begriff sie noch weniger als neulich, dass er sich ihr gegenüber zu einer Verteidigung herabgelassen hatte. … Und wenn die ganze Welt darauf bestand, sie glaubte nicht an ein keckes, gewissenloses Wagen, an dünkelhafte Selbstüberschätzung ohne Kunst und Wissen bei dem Manne, der die ernste, gedankenvolle Ruhe, die schlichte Wahrhaftigkeit und Geradheit selbst war. Und jetzt schoss ihr die Blutwelle wieder heiß und jäh nach dem Herzen, und ein starkes Zorngefühl quoll in ihr auf, wie heute Nachmittag, wo Flora in den krassesten Ausdrücken Brucks ärztliches Wirken gebrandmarkt hatte. Was für eine rätselvolle Frauennatur war sie doch, diese gefeierte Flora, dieses einst so sehr gefürchtete und doch heimlich bewunderte Idol der kleinen Käthe! … Henriette hütete sich seltsamer Weise, in den Stunden des Alleinseins mit der heimgekehrten Schwester über das Brautpaar eingehend zu sprechen, aber hier und da waren ihr doch Bemerkungen über die Lippen geschlüpft, aus denen Käthe entnahm, dass Flora anfänglich eine leidenschaftlich liebende Braut gewesen sein musste.

Doktor Bruck war, nachdem er den deutsch-französischen Krieg als Regimentsarzt mitgemacht und dann längere Zeit einer berühmten ärztlichen Kapazität in Berlin assistiert hatte, hauptsächlich auf Wunsch seiner Tante nach M. zurückgekehrt. Der vorteilhafte Ruf, der ihm vorausgegangen, und seine imposante äußere Erscheinung hatten ihn sehr bald zu einem gesuchten Arzt und zu einer wünschenswerten Partie für die Damenwelt gemacht. Es war mithin keineswegs Herablassung von Seiten der stolzen Flora Mangold gewesen, ihm die begehrte Hand zu reichen. Sie selbst hatte sich ihm auffallend genähert, indem sie einen schmerzhaft verstauchten Fuß keiner anderen Hand, als der des gefeierten neuen Doktors anvertrauen wollte – noch im Krankenhause hatte sie sich mit ihm verlobt und war darum vielfach beneidet worden. Aus diesem Grunde mochte sie auch vor dem peinlichen Aufsehen eines gewaltsamen Bruchs zurückscheuen. Darum diese perfide Lösung, die, auf ein allmähliches beiderseitiges Erkalten gestützt, schließlich von der Welt halbvergessen, geräuschlos vor sich gehen sollte.

Käthe sprang plötzlich auf – der Gedanke war ihr unerträglich, dass sie, im Falle ihres Bleibens, fortgesetzt Zeugin dieser empörenden Komödie sein und mit ansehen sollte, wie der unglückliche Mann trotz seiner starken Liebe und Gegenwehr aus seinem geträumten Paradiese gestoßen würde. Nein, auch sie hielt zu Moritz und Henriette. Flora durfte und sollte ihr Wort nicht brechen; die ganze Familie musste einmütig zusammenhalten, dem grausamen Verrat gegenüber. Die Törin, dass sie so verblendet ihr Glück von sich stieß! Hatte sie ihn noch nie gesehen in seinem Heim, im Zusammenleben mit seiner treuen Pflegemutter? Wusste sie nicht, dass sie auf Händen getragen werden würde, wenn sie ihm das Glück gab, nach welchem er verlangte?

Käthe schrak heftig zusammen und schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht – hier war es dunkel, schauerlich dunkel, so tiefe Nacht, dass die Sünde auf leisen Sohlen bis an die innersten Gedanken der Menschenseele heranschleichen konnte. Hastig lief sie über die Holzstufen und riss die Stubentür auf – drunten im Flur brannte die große Hauslampe; der helle Schein quoll die Treppe herauf und warf durch die Säulen der Galerie schmale Lichtstreifen vor die Füße des jungen Mädchens, und aus dem Mühlenraum, dessen Tür eben geöffnet wurde, scholl das Lärmen und Tosen, zum Betäuben stark, durch das Haus. Licht und Geräusch verscheuchten augenblicklich den verlockenden Spuk, der sich in die unschuldige Mädchenseele gedrängt hatte. … Das war ja der große, weißgetünchte Vorsaal der Schlossmühle mit dem uralten, lebensgroßen Bildnisse des Erbauers, des geharnischten Mannes dort, der so gespenstig verwischt aus dem wackeligen schwarzen Rahmen niedersah. Einst hatte sie ihn gefürchtet, und jetzt erschien er ihr wie ein alter Freund – er führte sie in die Wirklichkeit zurück, von einem verräterischen, sündhaften Traumbild hinweg, in welchem sie eine unrechtmäßige Stelle eingenommen hatte. …

Sie stieg die Treppe hinab und verließ die Mühle. Der Zugwind blies ihre heißen Wangen nachtfrisch an, und droben funkelten die goldenen Arabesken, die Sternbilder des Himmels, in köstlicher Klarheit. Käthe schämte sich ihrer müßigen Träumerei – aber war es nicht wie ein Schwindel gewesen, dessen man sich nicht erwehren kann, und der auch die gesündesten und kraftvollsten Menschen plötzlich befällt?

Schon von weitem sah sie die Lichter der Villa durch das Geäst flimmern, und als sie das Haus betrat, da schollen Klavierakkorde durch den Korridor. Das Instrument war prachtvoll, aber es wurde malträtiert durch barbarische Hände. Die Präsidentin hatte heute einen kleinen Empfangsabend; man kam, Alt und Jung, zum Tee. Die Älteren saßen um den Whisttisch, und die junge Welt musizierte, plauderte und amüsierte sich, wie sie Lust hatte; es war ein zwangloses Zusammensein bis gegen zehn Uhr.

Käthe machte schleunigst Toilette und betrat den Salon, das große Balkonzimmer im Erdgeschosse. Es hatten sich heute nur wenige eingefunden; nur ein Spieltisch war besetzt, und der Teetisch, um den sich die jungen Damen zu gruppieren pflegten, sah einsam und verlassen aus.

Henriette saß hinter der Teemaschine. Sie hatte wieder einmal grellrote Schleifen in ihrem blonden Haar, und ein ärmelloses Sammetjäckchen von der gleichen schreienden Farbe über einem hellblauen Seidenkleid. Das graue, schmale Gesichtchen sah fast spukhaft aus dem theatermäßigen Putz, aber ihre schönen Augen glänzten förmlich überirdisch. »Bruck ist wieder da«, flüsterte sie mit heißem Atem und bewegter Stimme Käthe ins Ohr und zeigte durch den anstoßenden Musiksalon, in welchem noch immer der Konzertflügel gemisshandelt wurde, nach Floras Zimmer. »Käthe, er sieht aus, als sei er noch gewachsen, so hoch und so überlegen. … Gott im Himmel, mache doch nicht gar so ein ernsthaftes Nonnengesicht!« unterbrach sie sich heftig – sie war unerklärlich aufgeregt. »Alle sind heute so mürrisch; Moritz hat eine Depesche bekommen und ist sehr zerstreut, und die Großmama hat entsetzlich schlechte Laune, weil ihr Salon leer ist. Ach, und ich bin so froh, so froh! … Weißt Du, Käthe, dass ich vorgestern bei dem schlimmen Anfall geglaubt habe, Bruck sähe mich als Leiche wieder? Nur das nicht! Ich will nicht sterben, wenn er nicht da ist.«

Sie sprach zum ersten Mal vom Sterben, und es war gut, dass die klavierspielenden Finger drüben in erneuter Kraft über die Tasten flogen und die drei alten Herren am Kamin im lebhaften Disput ihre Stimmen erhöhten; denn der letzte Ausruf der Kranken hatte laut und leidenschaftlich geklungen; Käthe stieß sie verstohlen an – die Präsidentin warf einen scharfen, missbilligenden Blick über die Augengläser hinweg nach dem Teetisch. Henriette nahm sich augenblicklich zusammen. »Ah bah, kann mir das jemand verdenken?« sagte sie frivol und spöttisch die Achseln emporziehend. »niemand stirbt gern allein. Der Arzt ist dazu da, dass man bis zum letzten Augenblick Hoffnung aus seinem Zuspruch schöpft.«

Käthe wusste genug. Die Kranke ging nicht mit ihr nach Dresden. Sie wies die Tasse Tee zurück, die ihr Henriette mit hastigen Händen füllte, und zog eine angefangene kleine Stickerei aus der Tasche.

»Ach, lasse den Kram doch stecken!« sagte Henriette ungeduldig. »Glaubst Du, ich bleibe gefälligst hier sitzen und sehe in grenzenloser Langmut zu, wie Du den weißen Faden aus- und einziehst?« Sie erhob sich und schob ihren Arm in den der Schwester. »Gehen wir in das Musikzimmer! Margarethe Giese schlägt uns noch das Instrument und die Nerven entzwei, wenn wir der Quälerei nicht ein Ende machen.«

Sie gingen in den anstoßenden Salon, aber die Dame am Klavier, die in ihren eigenen Leistungen schwelgte, blieb unangefochten … Die breite Flügeltür, die in Floras Arbeitszimmer führte, stand, wie gewöhnlich an den kleinen Empfangsabenden, weit offen; man konnte das ganze große Zimmer übersehen. Es erschien mit seinem gedämpften Ampellicht fast dämmerig neben den brillant erleuchteten anderen Räumen, und seine dunkle Purpurfarbe nahm in den Ecken ein düsteres Schwarz an.

Flora stand mit nachlässig verschlungenen Händen am Schreibtisch, während der Kommerzienrat bequem im nächsten Fauteuil lag, Doktor Bruck aber blätterte stehend in einem Buche. Er sah ungewöhnlich bleich aus; der von oben herabfallende Lampenschein ließ zwei finstere Stirnfalten und einen tiefen Schatten unter seinen Augen scharf hervortreten, und doch erschien sein ausdrucksvoller Kopf merkwürdig jung im Vergleich zu der schönen Braut.

Henriette ging ohne Weiteres hinüber – das Brautpaar war ja nicht allein. – Käthe aber, welche sie mit sich zog, setzte nur zögernd den Fuß auf die Schwelle; Floras Mienen stießen sie zurück; es lag etwas Zornmütiges, Ungeduldiges darin. Sie war offenbar sehr übler Laune. Ihr Blick lief auch sofort mit sarkastischem Ausdruck über die Gestalt der Schwester hin, die heute zum ersten Mal das monotone Schwarz der Kleidung mit dem hellen Grau der Halbtrauer vertauscht hatte.

»Komm nur herüber, Käthe!« rief sie, ohne ihre Stellung zu verändern. »Bist zwar wie gewöhnlich in starrer Seide, siehst aus wie ein papierener Christengel und machst den robustesten Menschen nervös mit dem ewigen Rauschen und Knistern. Sage mir nur um des Himmels willen, warum Du immer diese entsetzlich schweren Stoffe trägst«, unterbrach sie sich, »die passen doch zu Deinem Küchenamt in Dresden, wie die Faust aufs Auge.«

»Das ist meine Schwäche, Flora«, antwortete Käthe ruhig lächelnd. »Es mag schon kindisch sein, aber ich höre so gerne Seide um mich rauschen – es klingt so majestätisch. Bei meinem ›Küchenamt‹ trage ich sie selbstverständlich nicht, wie Du Dir wohl selbst sagen wirst.«

»Schau, wie stolz sie das ›Küchenamt‹ zugibt! Närrisches Ding! Ich möchte Dich einmal sehen in der Leinenschürze hinter rußigen Töpfen. Nun, jeder nach seinem Geschmack – ich danke.« Ihre großen grauen Augen richteten sich langsam und lauernd auf das Gesicht des Doktors, der eben ruhig das Buch zuschlug und es auf den Tisch zurücklegte.

Käthe fühlte, wie sich Henriettens kleine Hand auf ihrem Arm zur Faust ballte. »Ach, geh’ doch, Flora!« rief sie scheinbar heiter und amüsiert; »vor noch fünf Monaten hast Du oft genug zwischen Christels Kochtöpfen drunten in der Küche gewirtschaftet – ob gerade geschickt, das will ich nicht behaupten – aber das gutgemeinte Bestreben und die hübsche weiße Latzschürze standen Dir prächtig.«

Flora biss sich auf die Lippen. »Du faselst wie gewöhnlich und bist damals nicht fähig gewesen, eine scherzhafte Anwandlung als das zu nehmen, was sie hat sein sollen – eine kleine Caprice.« Sie schlug die Arme unter, und den Kopf gedankenvoll gesenkt, ging sie langsam einige Schritte an den Fenstern hin. Sie sah sehr schön aus in der weißen Alpacaschleppe, die ihr lang und weich nachfloss.

Der Kommerzienrat sprang auf. »Nun, Flörchen, ist es Dir gefällig, mit hinüber zu kommen?« fragte er. »Der Salon ist heute zum Verzweifeln leer – aus guten Gründen; es ist ja diplomatische Soiree beim Fürsten«, beruhigte er sich selbst. »Wir müssen aber ein wenig Leben hineinzubringen suchen, sonst haben wir die Großmama einige Tage verstimmt und schlecht gelaunt.«

»Ich habe mich bereits für eine halbe Stunde noch entschuldigt, Moritz«, sagte sie ungeduldig. »Ich muss den Artikel, den ich unter der Feder habe, heute noch schließen. Das Manuskript läge längst fertig da, wenn Bruck nicht dazwischengekommen wäre.«

Der Doktor war an den Schreibtisch getreten. »Eilt das so sehr? Und weshalb?« fragte er, nicht ohne einen leisen Anflug von Humor in Gesicht und Stimme.

»Weshalb, mein Freund? Weil ich mein Wort halten will«, versetzte sie spitz. »Ah, das amüsiert Dich. Es ist allerdings nur Frauenarbeit, und Du begreifst natürlich nicht, wer in aller Welt auf eine solche Bagatelle warten mag.«

»So denke ich nicht über die Frauenarbeit im Allgemeinen –«

»Im Allgemeinen!« persiflierte sie hart auflachend. »Ach ja, der allgemeine, landläufige Begriff! Kochen, Nähen, Stricken –« zählte sie an den Fingern her.

»Du hast mich nicht ausreden lassen, Flora«, sagte er gelassen. »Ich bezog mich eben sowohl auf die geistige Tätigkeit wie auf die Handarbeit. Ich stehe der Frauenfrage durchaus nicht fern und wünsche, wie alle Billigdenkenden, dass die Frau die Mitstrebende, die verständnisvolle Gehilfin des Mannes auch auf geistigem Gebiet werde.«

»Gehilfin? Wie gnädig! Wir wollen aber keine Gnade, mein Freund; wir wollen mehr; wir wollen Gleichstrebende, Gleichberechtigte nach jeder Richtung hin sein.«

Er zuckte die Achseln und lächelte; sein interessantes Gesicht erschien durch dieses Gemisch von leisem Spott und nachsichtiger Milde ungemein beseelt. »Das ist ja die höchste Potenz der modernen Ansprüche und Forderungen, von der sich die Verständigen längst wieder abgewendet haben, und welche die Freunde des Fortschrittes auf staatlichem und religiösem Boden bekämpfen werden, so lange die Frauenwelt Exzesse begeht, wie die Bet-Orgien in den Straßen der amerikanischen Städte, so lange sie urteilslos und fanatisch mit dem schwarzen Heer der Beichtväter zu gehen pflegt. Das hieße ein mörderisches Messer in eine kleine, unvorsichtige Hand drücken.«

Flora erwiderte kein Wort. Sie war marmorweiß geworden. Anscheinend gleichmütig nahm sie eine Stahlfeder, probierte sie auf dem Daumennagel und steckte sie in den Federhalter. Dann zog sie einen Kasten auf und ergriff mit etwas unsicher tappender Hand einen kleinen Gegenstand.

Henriette riss plötzlich mit einem gewaltsamen Ruck ihren Arm aus dem der Schwester und trat einen Schritt vorwärts, während der Kommerzienrat so rasch aus dem Zimmer ging, als habe er etwas zu besorgen vergessen. Käthe erschrak – sie sah, wie die edelgeformten Finger dort leichtbebend nach dem Federmesser griffen und die Spitze der aus dem Kasten genommenen Zigarre abschnitten.

Genres and tags
Age restriction:
0+
Release date on Litres:
06 December 2019
Volume:
497 p. 30 illustrations
Copyright holder:
Public Domain