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Read the book: «Im Hause des Kommerzienrates», page 5

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Die Präsidentin strich mit ihren schlanken Händen langsam über die atlasspiegelnde Fläche ihres Überkleides, und ohne auf den letzten Ausspruch einzugehen, sagte sie gelassen: »Ich gebe sehr gern; nur bin ich nicht gewöhnt, meine Almosen direkt in die Hand der Heischenden zu legen, und so mag es kommen, dass man nicht weiß, wie viel und wie oft ich gebe. Dieses Misskennen lässt mich übrigens sehr ruhig, selbst wenn es mich verantwortlich machen möchte für die Rohheiten, denen wir augenblicklich ausgesetzt sind.«

»Die Rohheiten sind abscheulich. niemand kann sie strenger verurteilen als ich«, versetzte Doktor Bruck ebenso kalt; »aber –«

»Nun, ›aber‹? Sie behaupten schließlich doch, wir Frauen im Hause des Arbeitgebers hätten sie provoziert?«

»Ja, Frau Präsidentin, Sie haben den Arbeitgeber abgehalten, seinen Leuten helfend entgegenzukommen, die Forderung der Arbeiter aber war keine unbillige, keine jener hässlichen Ausschreitungen, welche gegenwärtig die an sich vollkommen gerechte Sache der Partei verdunkeln und anrüchig machen – sie wollten auch kein Almosen, sondern mit Hilfe des Fabrikherrn sich selbst emporarbeiten zu einer beglückteren Existenz.«

Die alte Dame klopfte ihn leicht auf die Schulter und sagte freundlich, aber doch in jenem bestimmten, kurz abfallenden Tone, mit welchem sie das Gespräch abzubrechen wünschte: »Sie sind ein Idealist, Herr Doktor.«

»Nur ein Menschenfreund«, versetzte er flüchtig lächelnd und griff nach seinem Hute.

Seine Braut hatte ihm längst den Rücken gewendet und war in das andere Fenster getreten. Kein Frauengesicht war mehr geeignet, den Ausdruck der Feindseligkeit anzunehmen, als dieses Profil, das die Lippen so fest über den Zähnen zu schließen vermochte. … Der Mann dort hatte mit dürren Worten gesagt, sie suche an ihrem Schreibtische mühsam fremde Ideen zusammen – unerhört, bei ihrer Begabung! Sie  hatte allerdings nie ihre feinen Sohlen mit dem Arbeitsstaub in des Schwagers Spinnerei befleckt; sie wusste auch in der Tat nicht, wie es bei den Leuten aussah, die das dringende Verlangen nach Reformen unter eine Fahne rief und sie zu einer Macht anwachsen ließ, die sich wie ein Keil zwischen die gesellschaftliche Ordnung schob und sie zu zersprengen drohte. Aber wozu denn auch? Musste man denn alles in Wirklichkeit gesehen und erlebt haben, was man schilderte? Lächerlich! wozu waren denn Geist und Phantasie da? … Bis heute hatte der Doktor ihre literarischen Bestrebungen mit keiner Silbe berührt – »aus Scheu und Respekt« hatte sie gedacht, und nun griff er dieses Wirken plötzlich so plump, so verständnislos an – er! Sie rang schwer mit sich. »Ich begreife nicht, Großmama, wie Du Dich zu der Bezeichnung ›Idealist‹ versteigen konntest«, rief sie mit funkelnden Augen herüber. »Ich dächte, Bruck hätte vorhin das große Thema trocken genug beleuchtet. Nach seinem Programme sollen wir schleunigst Komfort und Eleganz abstreifen und in Sack und Asche gehen; wir sollen uns beileibe nicht geistig beschäftigen, sondern Volkssuppen kochen. Dass wir die Stille und Abgeschlossenheit unsers Parkes verteidigen, ist Todsünde – es versteht sich von selbst, dass wir die hoffnungsvolle Schuljugend direkt unter unseren Fenstern turnen und lärmen lassen etc., und wenn wir nicht brav sind und schön folgen, da stellt er uns ein Gespenst vor die Tür.« – Sie lachte kurz und hart auf. »Übrigens verrechnet sich solch ein Menschenfreund mit seinen Sympathien ganz gewaltig. Sollte es wirklich zu dem geweissagten Zusammenstoß kommen, dann wird das Gespenst mit ihm ebenso kurzen Prozess machen, wie mit uns auch.«

»Ich habe nicht viel zu verlieren«, sagte der Doktor mit einem halben Lächeln.

Flora kam raschen Schrittes herüber. Ihre Löckchen flogen, und die schwere Sammetschleppe fegte den Marmorfußboden.

»O, seit heute Morgen darfst Du das nicht mehr sagen, Bruck«, entgegnete sie beißend. »Bist ja Hausbesitzer geworden, wie mir Moritz mitteilte. Alles Ernstes – hast Du wirklich Deine Drohung von gestern wahr gemacht und die entsetzliche Baracke drüben am Flusse erstanden?«

»Meine Drohung?«

»Nun, anders kann ich’s doch nicht nennen, wenn Du mir ein solches Schreckbild für die Zukunft hinstellst? Du hast, wie Du es gestern selbst bezeichnet, Deine Ersparnisse in einem Grundstücke angelegt, das für mich das non plus ultra der Einöde, der Ärmlichkeit und der abstoßenden Hässlichkeit ist. Zur Augenweide allein hast Du doch das Kleinod unmöglich an Dich gebracht, und deshalb frage ich Dich ernstlich: ›Wer soll darin wohnen?‹«

»Du brauchst es mit keinem Fuße zu betreten.«

»Das werde ich auch niemals – darauf kannst Du Dich verlassen. Eher –« es war ein schwer zu enträtselnder Blick, mit welchem der Doktor unterbrechend die Hand hob, aber dieser verdunkelte Blick hatte etwas so gewaltig Zwingendes, dass der rote Mund des schönen Mädchens unwillkürlich verstummte.

»Ich habe das Haus für meine Tante bestimmt und werde nur ein Zimmer für mich reservieren, das mir für meine freien Stunden einen ungestörten Arbeitswinkel im Grünen bietet«, sagte er gleich darauf weit ruhiger, als man nach seinem vorherigen Gesichtsausdrucke hätte erwarten können.

»Ah, viel Vergnügen dazu! Also ein spezielles Sommerasyl! – Und im Winter, Bruck?«

»Im Winter werde ich mich mit dem grüntapezierten Zimmer begnügen müssen, das Du in unserer zukünftigen Wohnung selbst für mich bestimmt hast.«

»Aufrichtig gestanden – ich mag die Wohnung nicht mehr. Gerade um dieses Eckhaus tost der Straßenlärm unaufhörlich und wird mich stören, wenn ich arbeiten will.«

»Nun, dann werde ich dem Hauswirte Abstandsgeld zahlen und eine andere suchen«, entgegnete er mit unerschütterlichem Gleichmut.

Flora wandte sich achselzuckend von ihm weg, und zwar so, dass Käthe ihr voll ins Gesicht sehen konnte. Fast schien es, als stampfe die schöne Braut den Boden. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah mit einem Augenaufschlage nach der Zimmerdecke, als ob sie verzweifelt ausrufen wollte: »Gott im Himmel, ist ihm denn gar nicht beizukommen?«

In diesem Augenblicke schellte die Präsidentin so stark, dass das Geklingel scharf und anhaltend vom Ende des langen Korridors hereindrang. Die alte Dame sah streng und beleidigt aus – in ihrem Beisein durfte es zu solchen taktlosen Auseinandersetzungen nicht kommen. »Du magst nicht gerade vorteilhaft über die Gastfreundschaft und den guten Ton im Hause Deines Schwagers denken, Käthe«, sagte sie zu dem jungen Mädchen. »Man hat Dir weder die Reisejacke abgenommen, noch einen Stuhl zum Niedersitzen angeboten; stattdessen musst Du, gleichviel ob Du Lust hast, oder nicht, unnütze Erörterungen anhören und auf dem kalten Steinfußboden stehen, während dort die dicken, warmen Teppiche liegen.« Sie zeigte nach den zwei entgegengesetzten Zimmerecken, welche Gruppen von Polstermöbeln und in der Tat kostbare, schwellende Smyrnateppiche ausfüllten, dann gab sie dem eintretenden Bedienten Befehle für die Hausmamsell hinsichtlich der schleunigen Instandsetzung einiger Gastzimmer.

Damit war die atemlose, herzbeklemmende Spannung gelöst, welche sich bei dem zugespitzten Wortwechsel der Zuhörenden bemächtigt hatte. Der Kommerzienrat beeilte sich, der Angekommenen das Jackett abzunehmen, und Henriette verließ mit einer tiefen Fieberglut auf den eingefallenen Wangen den Wintergarten, um ihre Taube fortzutragen.

»Wollen Sie nicht zum Tee bleiben, Herr Doktor?« fragte die Präsidentin den Arzt, der sich abschiednehmend vor ihr verbeugte. Er entschuldigte sich mit einigen Krankenbesuchen, die er noch zu machen habe – Gründe, bei welchen es sarkastisch um Floras Lippen zuckte, aber das schien er nicht zu bemerken; er reichte ihr die Hand, ebenso dem Kommerzienrate, vor Käthe aber neigte er sich ritterlich ehrerbietig, durchaus nicht wie vor einer jungen, neuen Schwägerin; für ihn war und blieb sie vorderhand das Mädchen aus der Fremde, und die anderen schienen diese Auffassung ganz in der Ordnung zu finden … Mit ihm zugleich verließ Henriette das Zimmer.

»Hör’ mal, Flora, für künftig verbitte ich mir dergleichen unerquickliche Szenen, wie wir sie eben mitansehen mussten«, sagte die Präsidentin stirnrunzelnd mit sehr verschärfter Stimme, nachdem sich die Tür hinter den Hinausgehenden geschlossen hatte. »Du hast Dir die vollkommene Freiheit gewahrt, auf Dein Ziel loszusteuern, wie es Dir passt und gefällt – gut – von meiner Seite ist Dir bisher nicht das Geringste in den Weg gelegt worden, aber ich protestiere energisch, sobald Du Lust zeigst, die widerwärtige Sache vor meinen Augen auszufechten. Wie gesagt, ich verbitte mir das ernstlich! Soll ich Dir wiederholen –«

»Liebe Großmama«, unterbrach sie die junge Dame persiflierend und verächtlich, »wiederhole nicht! … Du willst doch nur sagen: ›In diesem Hause kann gemordet werden; es kann brennen – gleichviel, wenn nur die Frau Präsidentin Urach leuchtend wie ein Phönix aus der Asche hervorgeht‹ …. Pardon, Großmama! Ich will es in meinem ganzen Leben nicht wieder tun. Das Haus ist ja groß genug; man kann auch außer Deinem Gesichtskreise auf die Mensur gehen. Ach, wenn es mir nur nicht so entsetzlich schwer gemacht würde! Ich fürchte, eines schönen Tages verliere ich doch die Geduld –«

»Flora!« rief der Kommerzienrat mit einer Art von bittender Mahnung.

»Schon gut, mein Herr von Römer! Ich habe selbstverständlich jetzt auch Rücksicht auf Deine neue Standeswürde zu nehmen. Gott, was alles lastet auf meinen armen Schultern! Und womit verdiene ich die Heimsuchung, dass sich die Herzen wie die Kletten an mich hängen?«

Sie griff nach ihrem Hute und nahm die Sammetschleppe auf, um zu gehen – vor Käthe hielt sie den Schritt an.

»Siehst Du, mein lieber Schatz«, sagte sie und legte der jungen Schwester den Zeigefinger unter das Kinn, »so geht es dem armen Frauenzimmer, wenn es sich für einen kurzen Moment mit der Sentimentalität einlässt und zu lieben sich einbildet. Es hat plötzlich den Fuß im Tellereisen und sieht wehklagend ein, dass die abgedroschene gute Lehre: ›Drum prüfe, wer sich ewig bindet!‹ eine abscheuliche neue Wahrheit enthält – denke an Deine Schwester und nimm Dich in Acht, Kind!«

Damit ging sie hinaus, und Käthe sah ihr mit großoffenen Augen nach. Was für eine seltsame, unbräutliche Braut war doch die schöne Schwester! –

6

Nahe der westlichen Grenze des Parkes lagen die Überreste des ehemaligen alten Herrenhauses Baumgarten. Von dem ganzen einst wohlbefestigten und mit Wassergräben umgebenen Ritterschlosse stand nur noch ein Zimmerturm von bedeutenden Dimensionen, an den sich der geschwärzte Mauerrest eines Seitenflügels festklammerte. Vor sechzig Jahren war der Bau niedergerissen worden. Der damalige Besitzer, meist im Auslande lebend, hatte das Herrenhaus im modernen Stil, als Villa Baumgarten, an das entgegengesetzte Ende des Grundstückes, an die Promenade, verlegt, um bei seinem zeitweiligen Aufenthalt in der Heimat »unter Menschen zu sein«, und die schönbehauenen Granitblöcke des alten Schlosses beim Neubau verwenden lassen. Den Turm mit seinem Ruinenanhängsel hatte man als Schmuck der Parkanlagen respektiert. Er erhob sich auf einem grünberasten künstlichen Hügel; um seine Basis drängte sich verwildertes Buschwerk; auf dem anstoßenden Mauerstück mit seinem mächtigen Fensterbogen hatten sich Stachelbeersträucher und Heckenrosen eingenistet, und der wilde Hopfen kletterte ihnen nach und streute grüne Ornamente über das dunkle Gestein.

Diese Ruine inmitten eines Wasserringes hatte jedenfalls ihren Zweck als Dekoration erfüllt, aber nach dem damaligen Besitzer war eine praktische nutzenheischende Generation gekommen – sie hatte das Wasser aus dem Graben abgeleitet und in den vortrefflichen Schlammboden Gemüse gepflanzt. Das war nach dem Ausspruche des Schlossmüllers das einzige Vernünftige gewesen, das er bei seinem Ankauf im Parke vorgefunden, und als solches hatte er auch das einträgliche Stückchen Boden sofort zur eigenen Benutzung reklamiert. Käthe war als Kind sehr gern in dem kleinen Tale, wie sie den Graben nannte, umhergewandert. Das himmelschreiende Attentat auf die Romantik und den historischen Nimbus des ehemaligen Wasserschlosses war ihr selbstverständlich damals nicht zum Bewusstsein gekommen; sie war mit Suse stundenlang pflückend durch die Wildnis der Stangenbohnen und jungen Erbsen geschlüpft, ahnungslos, dass bei einem plötzlichen Durchbruche vom Flusse her die Fluten hereinströmen und sie und Suse und die ganze grüne Herrlichkeit verschlingen könnten.

Heute nun, am fünften Tage nach ihrer Ankunft, betrat sie zum ersten Mal wieder diese entlegene Parkpartie und stand wie geblendet. Noch hingen die Hopfenranken blätterlos wie ein fahles Netz um die Mauern, und der Hügelrasen, winterdürr und zerwühlt, zeigte noch keine grüne Halmspitze, aber die Aprilsonne lag breit und glänzend auf dem ruinengekrönten Hügel und hob ihn malerisch von dem Tannenwalde, der im Hintergrunde sich über eine lange Bergwand hindehnte. Nicht eine Spur von frischem Mörtel zeigte die aufbessernde Menschenhand an den Mauern; kein neuer Stein war eingefügt worden, aber es schien auch keiner zu fehlen; nur die mächtigen Fensterhöhlen des Turmes, vor denen früher vermorschte Holzläden gelegen, gähnten weit offen, und es glitzerte so seltsam aus dem Steinrahmen, als webe ein abgesperrter Sonnenstrahl drin im tiefen Dunkel ein geheimnisvolles Goldgespinnst. Und neues liebliches Leben regte sich um den verfallenen Stammsitz Derer von Baumgarten; über der Mauerkrone des Turmes kreisten in graziösem Fluge weiße und bunte Tauben, und aus dem Dickicht, unter der uralten Nussbaumgruppe hervor, die den Turm nach Süden hin flankierte, kamen lautlos zwei Rehe und wandelten langsam über den Rasenhang. Das kleine Tal aber war verschwunden. Ein breiter funkelnder Wassergürtel umflutete wieder, wie vor Zeiten, den Hügel, alles, was drunten gegrünt und geblüht und emporgestrebt, nivellierend, als habe die regsame Menschenkraft nie seinen stillen Grund usurpiert gehabt.

Eine Brücke, in Ketten hängend, schwang sich über den Graben, und drüben, vor ihren schmalen Ausgang quer hingestreckt, lag eine riesige Bulldogge; den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, beobachtete sie mit wachsamem Auge das jenseitige Ufer.

»Da siehst Du nun Moritzens Tuskulum, Käthe«, sagte Henriette, die an Käthes Arm hing. »Einst Burgverlies mit den üblichen Marterwerkzeugen und Todesseufzern, vor noch vier Monaten unbestrittener Wohnsitz verschiedener Eulen und Fledermäuse und meiner Tauben, und jetzt Salon, Schlafgemach und sogar Schatzkammer des Herrn Kommerzienrat von Römer. … Gelt, schwarz genug sieht das Ding noch aus, und man meint, der nächste Sturmwind müsse das Mauerstück über den Haufen blasen, aber das alles ist niet- und nagelfest, und gerade dort unter den überhängenden Steinen haust Moritzens Diener – der Mensch wohnt beneidenswert.«

Flora war auch mitgekommen. »Wem’s gefällt!« sagte sie trocken und achselzuckend. »Übrigens eine merkwürdig originelle Idee für einen Krämerkopf – meinst Du nicht, Käthe?« Sie schritt an den Schwestern vorbei über die Brücke. Ein Stoß ihres schönen Fußes scheuchte den Hund aus dem Wege, dann stieg sie den Rasenhang hinauf. Schüchtern flohen die Rehe vor der seidenrauschenden Erscheinung; die Tauben flatterten geängstigt von den unteren Fenstersimsen, und der Hund knurrte widerwillig und ging der herrischen Dame um einige Schritte langsam nach. … Wie sie droben stand, die schlanken Hände auf das Schloss der eisenbeschlagenen Turmpforte gelegt und den Kopf mit dem metallisch funkelnden Blondhaar über die Schulter zurückwendend, im hellgrauen, silberflüssig schimmernden Seidenkleid mit Puffärmeln und seitwärts aufgenommener Schleppe, da war sie das leibhaftige Sagenbild der schönen Kaisertochter im Kyffhäuser.

Unwillkürlich glitt Käthes Blick von ihr weg auf Henriette, die sich dicht an ihre Seite schmiegte, und das Herz tat ihr weh. Die hinfällige Gestalt mit ihren eckigen Linien in dem knappanliegenden Überkleid von glänzenden Farben balancierte förmlich auf übermäßig hohen Absätzen. Sie atmete so kurz und hastig und sah so grellbunt, so kokett und dadurch fast lächerlich aus. Aber sie hatte in den letzten zwei Tagen an häufig wiederkehrenden Erstickungsanfällen gelitten, und sie wollte doch nicht krank sein – die Welt sollte nun einmal nicht wissen, dass sie leide. Sie konnte mitleidigen Blicken oder teilnehmenden Bemerkungen gegenüber so zornig und beißend werden. Und doch hatte sie schwerer als sonst gelitten; denn Doktor Bruck, der sie behandelte und ihr stets Linderung zu verschaffen wusste, war verreist, und zwar wenige Stunden nach seinem neulichen Weggange aus der Villa; er sei von einem Freunde telegraphisch nach L…..g berufen worden und werde mehrere Tage ausbleiben, hatte er seiner Braut in einem kurzen Billett mitgeteilt. Der ärztliche Beistand des Medizinalrat von Bär aber war von der Kranken energisch zurückgewiesen worden – »lieber sterben!« hatte sie, mit ihrer Erstickungsangst kämpfend, geflüstert. Käthe hatte die Schwester fast allein gepflegt und hütete sie seitdem mit zärtlicher Sorgfalt. Jetzt legte sie sanft ihren Arm um die gebrechliche Gestalt und führte sie über die Brücke, nach der Ruine.

Wie oft war sie als Kind den Rasenabhang hinabgelaufen und durch das Gestrüpp gekrochen! Wie oft hatte sie durch das weite Schlüsselloch der Turmpforte gelugt! In den Kellern des Turmes sollte noch Pulver aus dem dreißigjährigen Kriege liegen, und an den Wänden herumhänge »lauter grausiges Zeug«, hatten die Dienstleute gesagt. Aber es war immer rabenschwarze Finsternis drin gewesen, und eine dicke, schwere Luft hatte das lauschende Kindergesicht erschreckend angehaucht; hatten nun gar ein Paar Eulenflügel sich von droben geregt, dann war sie, wie von Furien gejagt, den Hügel hinabgesprungen und hatte sich mit beiden Händen, von Grauen geschüttelt, an Suses Schürze angeklammert. … Jetzt stand sie drin, am Fuße einer teppichbelegten schmalen Wendeltreppe, und bestaunte mit großen Augen die Wunder, die das Geld des reichen Kaufmanns bewirkt. Draußen scheinbar zusammensinkendes Trümmerwerk, und innen ein vollkommenes Ritterheimwesen. Der einst mit den Augen nicht zu durchdringende Raum war ein weites Gewölbe, das mit seinen starken Steinbögen die ganze Last der oberen Stockwerke trug. An den Wänden hing noch »das grausige Zeug«, Helme und Waffen, aber es war geschmackvoll geordnet, und die blanken Flächen sprühten den Sonnenschein zurück, der blendend und ungehindert durch die Fenster fiel. Man hatte, um dem Turme von außen den Charakter der Ruine zu belassen, selbst das Fensterkreuz vermieden und ungebrochene Spiegelscheiben in die dicken Mauern eingesetzt – daher das wunderliche Glitzern tief drinnen. … Der Bau war ein sogenannter Bergfried, in Zeit der höchsten Gefahr ein Zufluchtsort für die Burgbewohner gewesen. Als solcher hatte er damals in seinen oberen Gemächern jedenfalls nur die allerprimitivste Einrichtung enthalten, jetzt aber durfte er sich an Prachtentfaltung getrost mit den ehemaligen, nun längst von der Erde verschwundenen Bankettsälen im Haupthause messen.

Als die beiden Schwestern in das erste Zimmer des oberen Stockwerkes traten, da lehnte Flora bereits, eine glimmende Zigarette in der Rechten, graziös nachlässig zwischen den purpurfarbenen Kissen eines Ruhebettes und sah zu, wie der Kommerzienrat in der silbernen Maschine den Nachmittagskaffee braute. Er hatte die drei Schwägerinnen dazu eingeladen.

»Nun, Käthe?« rief er dem jungen Mädchen entgegen und deutete mit dem ausgestreckten Arme bezeichnend rundum über das Neugeschaffene.

Sie stand auf der Schwelle, einen schwarzen Schleier lose über die goldbraunen Flechten geworfen, hellen, lachenden Auges und so hoch und kraftvoll, als entstamme sie selbst dem alten Reckengeschlechte Derer von Baumgarten.

»Hochromantisch, Moritz! Die Täuschung ist vollkommen«, antwortete sie heiter. »Der da unten« – sie zeigte durch das nächste Fenster hinab auf den flimmernden Wassergürtel – »könnte einen durch seine ernsthafte Verteidigungsmiene erschrecken, wüsste man nicht, dass ein Kommerzienrat des neunzehnten Jahrhunderts dahinter sitzt.«

Er zog die feinen Augenbrauen finster zusammen, und sein Blick streifte unsicher ihr Gesicht – sie bemerkte es nicht. »Hübsch und löblich ist es ganz gewiss nicht gewesen, dass sich Kohl und Rüben früher auf seinem Grunde breit machen durften«, fuhr sie fort; »das weiß ich nun, wenn mich auch das kleine Tal in der Erinnerung anheimelt. Aber ist es nicht ein interessantes, wunderliches Spiel des Wechsels, dass der Kaufmann die Schranken erneut, die das alte Rittergeschlecht zuletzt selbst missachtet und als überflüssig entfernt hat?«

»Vergiss nicht, meine liebe Käthe, dass ich nunmehr der Ritterschaft selbst angehöre!« versetzte er gereizt und in sehr pikiertem Ton. »Traurig genug, dass sich die alten Geschlechter dem Zeitgeist anbequemt und ehrwürdige Institutionen achtlos aufgegeben – nicht ein Jota durften sie fallen lassen. Es ist ein unverantwortlicher Raub an uns, die wir die Nachfolgenden sind.«

»Schwachkopf! Er ist katholischer als der Papst«, murmelte Henriette ergrimmt; sie schritt tiefer ins Zimmer, während Käthe mechanisch die Tür hinter sich fester zuzog, ohne den halb erschrockenen, halb nachdenklichen Blick von dem sichtlich erregten Manne am Kredenztisch wegzuwenden. Sie hatte ihn als Kind gerngehabt, wie alle Menschen, die mit ihm verkehrten. Früh verwaist, aus einer braven Handwerkerfamilie stammend, von bestechend schönem Äußern und einschmeichelndem Wesen, war er in das Geschäft des Bankier Mangold als Lehrling gekommen und schließlich dessen Schwiegersohn geworden. Käthe wusste, dass er ihre Schwester Clotilde bis zu deren frühem Tod auf den Händen getragen; sie hatte ihn immer nur fügsam bis zur Unterwürfigkeit ihrem Vater gegenübergesehen, auch war er stets gleichmäßig freundlich und hilfreich selbst gegen die untersten Dienstleute des Hauses gewesen – und jetzt schwebte um den schön geschwungenen Männermund dort ein scharf ausgeprägter Zug von widerwärtigem Hochmut. Der Seilersohn stieß verächtlich die Leiter um, auf der er emporgeklommen; sein Glücksrausch blendete ihn dergestalt, dass er in den Jargon der eingefleischtesten Krautjunker verfiel.

Henriette hatte sich auf einen niedrigen, polsterbelegten Schemel gekauert, und die Arme um die Knie legend, sagte sie beißend: »Liebster Moritz, ich bitte Dich, tue nicht so entsetzlich herausfordernd! Es könnte irgendeine alte Ahnfrau drüber aufwachen und sehen, wie der tapfere Nachfolger und Burgherr Kaffee kocht, und das züchtige Burgfräulein bequem dort liegt und Zigaretten raucht – na, die würde Augen machen!«

Flora veränderte ihre Stellung nicht um eine Linie; sie nahm nur langsam die Zigarre aus dem spöttisch lächelnden Munde. »Geniert es Dich, Schätzchen?« fragte sie in verstellt phlegmatischem Ton und stäubte mit dem Ringfinger die Asche ab.

»Mich?« – Henriette lachte hart auf. »Du weißt, dass ich mich durch Dein genialisches Tun und Treiben nicht genieren lasse – die Welt ist weit, Flora; man kann sich aus dem Wege gehen und –«

»Pst, nicht so bissig, Kleine! Ich fragte aus purem Mitleid, weil Du brustkrank bist.«

Ein fliegendes Rot erschien und verschwand in jähem Wechsel auf den schmalen Wangen der Kranken, und in ihren Augen funkelten Tränen – sie bezwang sich mühsam. »Danke schön, aber sorge Du zuerst für Dich selber, Flora! Ich weiß, es zuckt Dir in allen Fingern, das qualmende Ding da zum Fenster hinauszuwerfen, denn es beräuchert Deine Perlenzähne wie Meerschaum und jagt Dir einen Schauder des Abscheues nach dem anderen über die Haut – trotz alledem diese heroische Selbstüberwindung! Aus Emanzipationssucht? Bah, Du hast zu viel guten Geschmack, Flora, um zu den allerordinärsten Requisiten des Blaustrumpfes zu greifen; auch bringst Du dieser Neigung, die ja schließlich doch nur auf öffentliche Verherrlichung ausgeht, kein Opfer, das verhässlicht –«

»Schau, was sie für eine hohe Meinung von mir hat, die liebe Seele!« sagte Flora, unter ironischem Auflachen den Kopf schüttelnd, zu dem Kommerzienrat.

»Du übst Dich im Rauchen und wirst das vielleicht drei bis vier Wochen konsequent durchführen«, fuhr Henriette unbeirrt, aber mit sichtlicher Erbitterung fort; »weil es Leute gibt, die den Tabaksrauch im Frauenmunde verabscheuen wie Pesthauch. Du suchst Händel, willst erzürnen, es ist der letzte Hebel, den Du ansetzest –«

Flora richtete sich aus ihrer halbliegenden Stellung auf. »Nun, und wenn, mein Fräulein?« fragte sie stolz zurückweisend. »Ist es nicht meine Sache, ob ich gefallen oder abstoßen will?«

»Weit entfernt! In Deinem Falle bleibt Dir nur noch die Aufgabe, zu beglücken«, brauste Henriette empört auf.

»Lächerlich! Trage ich hier vielleicht den Ehering?« – Sie zeigte auf den elfenbeinweißen Goldfinger der Rechten. »Gott sei Dank, nein! … Übrigens hast Du am allerwenigsten Ursache, Dich zu echauffieren und eine Lanze einzulegen – Du bist krank, armes Ding, und mehr als je auf Deinen Arzt angewiesen, aber er zieht es vor, eine Vergnügungsreise zu machen und auf die unmotivierteste Weise wochenlang fortzubleiben.«

Jetzt mischte sich auch der Kommerzienrat in den Wortwechsel der erbitterten Schwestern. »Unmotiviert, Flora, weil er Dir den Grund seiner Reise nicht des Langen und Breiten mitgeteilt hat?« rief er ärgerlich. »Bruck spricht nie über seinen Beruf und die damit verknüpften Vorkommnisse, das weißt Du. Er ist ohne Zweifel an ein Krankenbett gerufen worden –«

»Nach L…..g, wo man berühmte Universitätsprofessoren haben kann? Ha, ha, ha! Eine kostbare Idee! Mache Dich doch nicht lächerlich mit dergleichen Illusionen, Moritz! Übrigens ist das ein Punkt, über den ich grundsätzlich nicht mehr mit Euch streite – basta!« Sie streckte ihre Rechte nach der Kaffeetasse aus und schlürfte den köstlich duftenden Trank. Henriette aber schob grollend die gebotene Labung zurück; sie stand auf und trat an die Glastür, die auf die anstoßende Ruine hinausführte. Das Mauerstück war der Rest einer Kolonnade, die einst von dem ersten Stockwerk des Haupthauses in den Turm geführt hatte; die zwei schön gewölbten, auf schlanken Säulchen ruhenden Bögen bildeten jetzt eine Art Söller mit prachtvoller Fernsicht.

Henriette riss den Türflügel auf, und die krampfhaft geballten Hände gegen die Brust drückend, sog sie angstvoll gierig die frische Luft ein, aber eine augenblickliche Erstickungsnot machte sich doch geltend. Käthe und der Kommerzienrat eilten, die Leidende zu unterstützen; auch Flora erhob sich. Sie warf unwillig die Zigarre in den Aschenbecher. »Nun werden wohl die harmlosen Dampfwölkchen schuld sein müssen an dem Anfall«, sagte sie geärgert, »aber ich weiß es besser. Du gehörtest von Rechtswegen ins Bett, Henriette, und nicht in die trockene Frühlingsluft hinaus, die für Leute Deines Schlages wahres Gift ist – ich habe Dich gleich gewarnt, aber Du hast ja nie Ohren für einen wohlgemeinten Rat und möchtest einem am liebsten weismachen, Du strotzest von Gesundheit wie Posaunenengel. Ebenso obstinat bist Du bezüglich der ärztlichen Hilfe –«

»Weil ich meine kranke Lunge nicht dem ersten besten Giftmischer anvertraue«, ergänzte Henriette in mattem, aber sehr entschiedenem Tone.

»O weh, das geht meinem armen, alten Medizinalrate an die Ehre«, rief Flora lächelnd. Sie zog die Schultern empor. »Immerhin, Kind, wenn es Dir Vergnügen macht! Ich kann ja auch nicht wissen, wie er seine Mixturen mischt, soviel aber darf ich behaupten, dass er noch nie einem Patienten ungeschickter Weise nahezu – den Hals abgeschnitten hat.«

Der Kommerzienrat fuhr mit bleichem Gesichte herum und hob unwillkürlich die Hand, als wolle er sie auf den impertinenten, lästernden Frauenmund pressen; er schien sprachlos – sein Blick streifte scheu Käthes Gesicht.

»Du Herzlose!« stieß Henriette hervor.

»Herzlos bin ich nicht, aber unerschrocken genug, böse Dinge beim Namen zu nennen, selbst wenn die harten Worte auf eigene Wunden zurückschlagen sollten. Wo bliebe dann auch das Verdienst der strengen Wahrhaftigkeit? … Denke an jenen schlimmen Abend und frage Dich, wer Recht behalten hat! Ich wusste, dass ein tiefer Sturz aus den Höhen fälschlich erträumter Berühmtheit erfolgen musste – er ist erfolgt, zermalmender, rettungsloser, als ich selbst gefürchtet, oder wollt Ihr auch die einstimmige Verurteilung von Seiten des Publikums wegdisputieren? Dass ich aber nicht mit stürzen will, wird jeder begreifen, der mich kennt. … Ich kann nicht beschönigen und vertuschen, wie es z. B. die Großmama aus dem Fundament versteht; ich will es auch gar nicht. Keine Rolle ist lächerlicher als die jener ahnungslosen Frauenseelen, die da noch öffentlich anbeten, wo, wie die Welt sich zuzischelt, längst nichts mehr zu verehren ist.«

Sie schlug auch den andern Türflügel zurück und trat hinaus auf den Söller. Sie hatte in leidenschaftlicher Steigerung gesprochen; der bleiche Marmorton ihres vom blauen Frühlingshimmel sich scharf abhebenden Römergesichts belebte sich unheimlich; mit den flimmernden Augen voll abweisender Verachtung, mit den nervös bebenden Nasenflügeln war sie die personifizierte brennende Ungeduld.

»Übrigens hat es ja in seiner Hand gelegen, mich zu bekehren – wie hätte ich ihn dann verteidigen wollen mit Mund und Feder!« fuhr sie fort, während sich ihre feinen Finger in das rasselnde Geflecht verdorrter Schlingpflanzen verstrickten. »Aber er hat es vorgezogen, auf meine erste und einzige dahinzielende Frage stolz wie ein Spanier mit einem Eisesblicke zu antworten –«

»Diese Antwort sollte Dir genug sein –«

»Ganz und gar nicht, mein lieber Moritz; ich finde sie sehr bequem und wohlfeil, und in Bezug auf sprechende Blicke und Gesten bin ich skeptisch – ich verlange mehr. … Aber ich will Dir zeigen, dass mir der gute Wille nicht fehlt, indem ich Dir hiermit noch einmal wiederhole, was ich gleich zu Anfang verlangt habe: Beweise mir und der Welt, dass er seine Schuldigkeit getan hat, denn Du warst Zeuge!«

Er trat rasch von der Türschwelle zurück und legte die Hand schützend über die Augen – das Sonnenlicht, das den Balkon grell überströmte, belästigte ihn unerträglich. »Du weißt allzu gut, dass ich das nicht in der Weise kann, wie Du es forderst – ich bin kein Mediziner«, versetzte er mit tief herabgedrückter Stimme; sie verlor sich fast in einer Art von Murmeln.