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Read the book: «Im Hause des Kommerzienrates», page 22

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»Die verkommene historische Merkwürdigkeit hat das nicht getan; dazu ist ein ganz anderer Sprengstoff nötig gewesen«, sagte einer der zuerst herbeigeeilten Spaziergänger, ein Ingenieur, laut und sehr bestimmt in das Stimmengewirr hinein.

»Aber wie wäre denn der in den Keller gekommen?« stammelte Anton stehenbleibend, indem er den Sprecher blöde und verständnislos mit seinen angstverschwollenen Augen ansah.

Der Herr zuckte schweigend, mit einer zweideutigen Miene die Achseln und wich mit den anderen zurück – die Spritzen begannen ihre Arbeit.

Und nun zischten die Wasserstrahlen empor, und die Glocke auf dem Stadtturm läutete unermüdlich, so lange sich das Feuer ungebärdig gegen seinen Erzfeind aufbäumte; von der Villa her schleppte die Feuerwehr Bretter und Stangen, um eine improvisierte Brücke über den Graben zu schlagen, und der Lärm und das Menschengetümmel wuchs und schwoll von Sekunde zu Sekunde. Da scholl mitten in das Getöse hinein ein markdurchschütternder Schrei – dort drüben, der Ruine ziemlich nahe, auf dem Wege vom oberen Wehre her, hatten sie den Müller Franz gefunden; ein schwerer Stein hatte ihn zu Boden gerissen und ihm die Brust zerquetscht – der Mann war tot.

Es war, als pflanze sich der Schrei, den die Frau des Müllers im Hinstürzen über den Entseelten ausgestoßen, von Kehle zu Kehle fort – ein solch unbeschreiblicher Stimmenaufruhr wogte über den Park hin.

»Moritz – sie haben ihn gewiss gefunden!« murmelte die Präsidentin aufschreckend. Sie war unweit des Hauses auf einer Gartenbank zusammengesunken; weiter hatten sie ihre Füße nicht getragen. Jetzt machte sie abermals eine krampfhafte Anstrengung, sich zu erheben – vergebens! Die bisher so standhaft ignorierte Altersschwäche machte sich angesichts einer wirklichen Gemütserschütterung in bestürzender Weise geltend. »Haben sie ihn? Ist er tot? Tod?« lallte sie, und die sonst so fest, so vornehm- und kühlblickenden Augen irrten, weit aufgerissen, in wilder Angst den Weg entlang, der in der Richtung der Ruine den Rasenplatz durchschnitt; dabei umklammerte sie Floras Arm, die neben ihr stand.

Die schöne Braut war die einzige, die ihre Fassung behauptete. Welch ein Kontrast! Dort über den Bäumen zog schwelend und träge der dicke Qualm und färbte weithin den Himmel mit einem schmutzigen Schiefergrau, und hier, vor dem Hause mit seinen zertrümmerten Spiegelscheiben, seinen umgestürzten Orangeriekübeln unterhalb des Balkons, verliefen und versickerten nur langsam die angeschwemmten Wasser und sammelten sich zu rinnenden Bächen in den tiefen Furchen, welche die Räder der Feuerspritzen in die Kies- und Rasenfläche gerissen – dazu das wahnwitzige Geschrei, das durch die Lüfte gellte, das geräuschvolle Vorüberstürzen immer neuer Menschenmassen von der Stadt her, und inmitten dieser Verwüstung, dieses Tumultes eine schneeweiße Braut, weiße Maßliebchen an der Brust und in den blonden Locken, bleich bis in die Lippen, aber zuversichtlich und überlegen in der äußeren Haltung wie immer – eine gegen jedes persönliche Unglück Gefeite.

»Wenn Du meinen Arm nur einmal loslassen wolltest, Großmama!« sagte sie ungeduldig. »Ich könnte Dich möglicherweise überführen, dass Du Gespenster siehst. Weshalb soll und muss denn Moritz durchaus verunglückt sein? Bah – Moritz mit seinem fabelhaften Glück! Ich bin überzeugt, er ist heil und ganz drüben mitten im Getümmel, und unsere kopflose Dienerschaft, die es, nebenbei gesagt, nicht der Mühe wert hält, nach uns zu sehen, und nur dann und wann im Vorüberrennen albernes Gewäsch in den Himmel hineinschreit, diese bornierten Menschen, sage ich, sehen ihre Herrn mit offenen Augen nicht.« – Ihr Blick streifte das nasse Terrain, dann sah sie auf ihren Fuß, der sich im weißen Stiefelchen unter den Garnierungen des Tarlatankleides vorschob. »Man wird denken, ich sei auch ein wenig verrückt geworden«, meinte sie achselzuckend, »aber ich muss hinüber –«

»Nein, nein, Du bleibst«, rief die Präsidentin und grub ihre Finger in die Falten des weißen Kleides. »Du wirst mich nicht allein lassen mit Henriette, die noch hilfloser ist als ich und mir nicht beistehen kann. O mein Gott, ich sterbe. Wenn er tot wäre, wenn – was dann?« Ihr Kopf fiel tief auf die Brust, die in Brillanten flimmerte – wie entsetzlich alt sah die Frau aus! Ihre gelbe Moiréschleppe umbauschte wie in grellem Hohn die gebeugte Greisengestalt.

Henriette kauerte auf der anderen Seite der Bank, aschfarben vor Erregung, und mit entsetzten Kinderaugen in das Weite starrend. »Käthe! Wo nur Käthe bleibt?« sagte sie mit bebenden Lippen wieder vor sich hin, als sei ihr der Satz eingelernt worden.

»Gott im Himmel, schenke mir Geduld!« murmelte Flora zwischen den Zähnen. »Es ist doch etwas Schreckliches um solche schwächliche Frauenzimmer. … Ich bitte Dich, Henriette, warum schreist Du denn immer nach Deiner Käthe? Die wird Dir doch niemand nehmen!«

Mit verzehrender Ungeduld überflog ihr Blick das Haus, aber da war kein lebendes Wesen zu sehen, das sie von dem ihr aufgezwungenen Beschützerposten hätte erlösen können – sie waren alle nach der Ruine gerannt, die bereits angekommenen Gäste aus der Umgegend, die Lakaien, die dienstbaren Geister der Küche; selbst die feinbeschuhten Kammerjungfern waren durch die tiefen Wasserlachen mitgelaufen. Aber von der Stadt her nahte jetzt Beistand – die darstellenden Damen des Festspieles kamen atemlos um die Hausecke.

»Um Gotteswillen, was geht bei Euch vor?« rief Fräulein von Giese und stürzte auf die verlassene Frauengruppe zu.

Flora zog die Schultern empor. »Im Turm hat eine Explosion stattgefunden – mehr wissen wir auch nicht. Alles rennt vorüber. niemand steht uns Rede, und ich kann nicht von der Stelle, weil die Großmama den Kopf verloren hat, und mir in ihrer bodenlosen Angst buchstäblich die Kleider vom Leibe reißt. Sie bildet sich ein, Moritz sei umgekommen.«

Die jungen Mädchen standen wie zu Stein erstarrt vor dieser grässlichen Vermutung – der blühend schöne Mann, der vor wenigen Stunden noch »dem herrlichen Leben« ein Hoch gebracht, dort in den Flammen umgekommen oder in Atome zerstückelt! Das war nicht auszudenken. »Unmöglich!« stieß Fräulein von Giese heraus.

»Unmöglich?« wiederholte die Präsidentin unter einem Gemisch von Schluchzen und wahnwitzigem Auflachen; jetzt stand sie wie emporgerissen auf ihren Füßen, aber sie schwankte wie eine Betrunkene und deutete mit einer unsicheren Armbewegung nach dem nächsten Boskett. »Da – da bringen sie ihn! Gerechter Gott! Moritz, Moritz!«

Dort wurde unter feierlichem Schweigen ein Gegenstand hergetragen, und in dem Kreise neugierig mitlaufender Menschen schritt Doktor Bruck; er war ohne Hut, und seine hohe Gestalt überragte alle.

Flora flog hinüber, während die Präsidentin in ein lautes krampfhaftes Weinen ausbrach. Beim Anblick der herbeieilenden, gebieterisch schönen Braut trat die Begleitung unwillkürlich auseinander; nach einem raschen Blicke über die hingestreckte Gestalt, die man auf einem Ruhebette trug, wandte sich Flora sofort zurück und rief beschwichtigend: »Beruhige Dich doch nur, Großmama! Es ist ja nicht Moritz –«

»Käthe ist’s – ich wusste es«, murmelte Henriette halb schluchzend, halb gespenstisch flüsternd mit ihrer heiseren Stimme und wankte hinüber, wo die Träger, Atem schöpfend, für einen Augenblick ihre Last niedergesetzt hatten.

Die Verunglückte lag auf dem altmodischen Ruhebette aus des Doktors Arbeitszimmer – ihre seitwärts niederhängenden Kleider troffen von Nässe. Weiche Bettkissen unterstützten Kopf und Rücken; sie hätte mit ihren sanft geschlossenen Lidern und den zwanglos im Schoße ruhenden Händen ausgesehen wie eine friedlich Schlummernde, wären nicht das Blutgerinnsel an der linken Wange nieder und die Binde über der Stirn gewesen, die von einer Kopfwunde zeugten.

»Was ist’s mit Käthe, Leo? Was in aller Welt hat sie an der Unglücksstätte zu suchen gehabt?« fragte Flora an das Ruhebett herantretend – Ton und Blick zeigten mehr Ärger über den vermeintlichen Vorwitz der Stiefschwester, als eigentlichen Schrecken.

Der Doktor war vorhin bei ihrer beschwichtigenden Versicherung wie in jäh aufloderndem Zorne emporgefahren; jetzt schien es, als höre er gar nicht, dass sie spreche – so fest lagen seine Lippen aufeinander, und so leer war der Blick, der neben ihr hinstreifte und dann auf Henriette niedersank.

Die arme Kranke stand, nach Atem ringend, vor ihm und ihre tränenumflorten Augen sahen in Todesangst zu ihm auf. »Nur ein einziges Wort, Leo – lebt sie?« stammelte sie mit bittend gehobenen Händen.

»Ja, die Lufterschütterung und der Blutverlust haben sie betäubt, gefahrbringend sind augenblicklich nur die nassen Kleider; die Stirnwunde ist ungefährlich, Gott sei Dank!« antwortete er wie aus tiefster Brust in vibrierenden Tönen, und liebreich wie ein Bruder legte er den linken Arm stützend um ihre schwache Gestalt, die sich kaum auf den Füßen zu erhalten vermochte. »Vorwärts!« befahl er den ruhenden Trägern mit hörbarer innerer Angst und Ungeduld.

Der begleitende Menschenschwarm verlief sich enttäuscht; es war ja keine Gefahr vorhanden; die Meisten kehrten nach der Brandstätte zurück. Das Ruhebett wurde über den Kiesplatz getragen, an der Präsidentin vorüber, die völlig geistesabwesend auf die Ohnmächtige stierte und nichts mehr zu begreifen, zu fassen schien. Die entsetzte Mädchenschar drängte sich wie gescheucht aneinander und blickte ratlos zu dem jungen Arzt empor, der, ohne sie zu beachten, neben dem Ruhebette schritt. Noch hielt er mit dem linken Arme Henriette umschlungen; die Rechte aber hatte er auf Käthes Stirn gelegt, um jeder schmerzenden Erschütterung vorzubeugen. Der sonst so scheu sein Inneres verbergende Mann, den man in der letzten Zeit nur noch mit tiefverfinsterten Zügen und gezwungenem Wesen gekannt hatte, sah unverwandt behütend, mit unverhohlener Zärtlichkeit auf das erblasste Mädchengesicht nieder, als existiere nichts anderes mehr für ihn, als habe er unter Todesqualen sein Liebstes und Heiligstes auf dieses Ruhebett gerettet.

Flora ging der schweigenden Gruppe nach, isoliert, wie wenn nicht das geringste Band sie mit den drei Menschen verkette, die das Unglück plötzlich vor aller Augen in so innige Beziehung brachte. Dort, wo die Träger gerastet hatten, standen noch tiefe Wasserlachen; sie war mit ihren zierlichen, weißen Stiefeln in das trübe Nass getreten, und die lange Tarlatanschleppe schleifte durchfeuchtet und beschmutzt über den Kies. Mit einem raschen Griff nahm die schöne Braut den weißen Margeritenkranz aus dem Haar; er war zur bitteren Ironie geworden inmitten der entsetzlichen Ereignisse; sie zerdrückte und zerriss ihn mechanisch mit den Fingern, und wo sie gegangen war, lagen die kleinen schneeigen Sterne verstreut.

Aber auch sie schritt an der Großmama und den Freundinnen vorüber, ohne sie anzusehen. Ihr funkelnder Blick maß unausgesetzt die imposante Gestalt des Bräutigams – man sah, sie erwartete von Sekunde zu Sekunde, dass er sich nach ihr umwende, und so folgte sie ihm Schritt für Schritt über den weiten Platz, über die Schwelle des Hauses. Die Präsidentin rief nach ihr; ein abermaliges, erderschütterndes Gerassel, dem ein emporbrausendes Toben von Menschenstimmen folgte, dröhnte von der Ruine herüber – sie sah nicht zurück; mochte auch hinter ihr die Welt zusammenbrechen – sie ging in unerbittlicher Entschlossenheit »ihren Rechten« nach.

25

Auf diesen grauenvollen Tag folgte eine dumpfschweigende Nacht voll todesbanger, atemloser Spannung. niemand ging zu Bette; alle Gasflammen im Hause brannten; die Dienerschaft schlich ruhelos auf den Zehen umher oder hockte flüsternd in den Ecken zusammen, und nur wenn drüben vom Turme her die Schritte eines Feuerwächters näher klangen oder eine der nach außen führenden Türen leise geöffnet wurde, fuhren alle wie elektrisch empor und rannten hinaus in die Korridore, denn der Herr des Hauses sollte und musste noch kommen, aber die Nacht verging und das Frührot brach durch die Fenster – und er kam nie, nie wieder.

Es war ein rosiger, den klarsten Tag verkündender Strahl, der über die Villa Baumgarten hinglitt und die zersprungenen Spiegelscheiben glitzern und flimmern machte. Er lief durch den Festsaal und ließ den Purpursammet des herabgestürzten Brautbaldachins aufleuchten; er küsste das welkende Laub der Festons und das zerknickte Geäst der umgeworfenen Treibhausbäume – welch ein Chaos! Ein einziger Stoß hatte die kostbare, aber leicht gefügte »Feerie aus tausend und einer Nacht« in ein schauerliches Gemengsel von zahllosen Scherben und Trümmerresten zusammengeschüttelt. Und alle die zierlichen, die bräutliche Freundin verherrlichenden Verse waren ungesprochen geblieben, und da, wo die goldbeflitterten Genien in Rosengewölk hatten herabschweben sollen, spielte der scharf hereinziehende Morgenwind gespenstig mit rosa und weißen Kreppfetzen.

Vielleicht heute zum ersten Male durfte das Frühlicht in die vornehmen Räume schimmern; kein Laden war vorgelegt, kein Rouleau niedergelassen worden; selbst das prächtige Schlafzimmer auf der nordöstlichen Ecke des Erdgeschosses, mit seinen korinthroten Seidendraperien und seinem kostbar geschnitzten, von Spitzen überdeckten Bette auf hoher Estrade, war ihm preisgegeben, und es durfte sich in den Brillanten spiegeln, die noch in den Lockenpuffen der Präsidentin verstreut lagen. Die Hand der Kammerjungfer hatte die alte Dame nicht berühren dürfen; noch schleppte ihr das gelbe Stoffkleid schwer nach, wie sie immer wieder durch die lange Zimmerreihe wankte, in welcher die umgeworfenen Möbel, die von den Simsen gestürzten Statuen umherlagen.

Die Schleierwolke um Hals und Kinn der alten Dame hatte sich gelöst, und der sonst so sorgfältig verhüllte, fleischlose Unterkiefer hob sich scharf, in hippokratischer Linie von dem vertrockneten Halse. Ja, sie war hochbetagt und für den ausgedörrten Körper stand die Lebenssonne tief, tief im Niedergehen – und dennoch wälzte diese wankende Greisin in fieberhafter Angst den einen Gedanken unablässig durch den Kopf: »Wer wird Moritz beerben?« Sie selbst hatte nicht den leisesten Anspruch auf die Hinterlassenschaft des so jäh Hingerafften – nicht einmal auf das Bett, in welchem sie schlief, nicht auf das Geschirr, aus welchem sie aß. Der Kommerzienrat war früh verwaist; so viel sie wusste, existierten keine Verwandten seines Namens mehr, aber hatte er nicht öfter Unterstützung an eine arme Schwester seiner verstorbenen Mutter an den Rhein geschickt? Sollte sie die Erbin sein? Der Gedanke war zum Rasendwerden. Die Frau eines obskuren Schreibers, eine bedürftige Weißnäherin, nahm Besitz von den kolossalen Reichtümern, und die Frau Präsidentin Urach, die sich schon lange gar nicht mehr vorstellen konnte, wie man ohne seidengepolsterte Equipage von einem Orte zum anderen kommen, wie man ohne Koch und servierende Lakaien anständig essen und in einem Bette ohne Brokatbaldachin schlafen könne, sie musste ihre alten, auf den Dachboden gestellten Möbel wieder ausklopfen und in eine enge Mietwohnung schaffen lassen, wo es keinen Marstall voll dienstbereiter Pferde, keine Livreebedienung und keine fürstlich splendide Küche mehr gab – denn sie und ihre beiden Enkelinnen waren ja nicht blutsverwandt mit dem Millionär, der ohne Testament aus der Welt gegangen.

Die aus der Umgegend eingeladenen Herren waren bis nach Mitternacht um die alte Dame versammelt geblieben, und wenn man auch diesen Punkt nicht berührt hatte, so war doch schon in die hochgehenden Wogen der schreckensvollen Bestürzung da und dort ein scheues Wort gefallen über die entsetzliche Verwirrung, die der Katastrophe bezüglich der Vermögensverhältnisse  des Verunglückten auf dem Fuße folgen müsse, da der Kommerzienrat seine Dokumentenschränke und seine Bücher in dem Turme verwahrt gehabt habe, und von alledem nicht ein einziges versprengtes Papierblatt gefunden worden sei.

Aber mochten doch da drüben Unsummen in die Luft geflogen sein – stand sie, die alte Frau, nicht hier auf einem Grund und Boden, der nach vielen Tausenden geschätzt wurde? War nicht unter ihren Füßen, in dem festen Steingewölbe die Silberkammer? Standen nicht Pferde der edelsten Rassen drüben in den Ställen? Und welcher unermessliche Wert steckte in der Gemäldesammlung berühmter Meister! Das alles genügte, um der Frau Präsidentin das schöne luxuriöse Leben einer reichen Frau bis an ihr Ende zu sichern, wenn die hochgeborene Dame den Beweis zu erbringen vermochte, dass das Blut des Seilersohnes auch in ihren Adern stieße.

Und auch von der, die über ihr, in Henriettens Wohnzimmer lag, von der Enkelin des Schlossmüllers war gesprochen worden – man wusste, dass ihr ganzes großes Vermögen in dem Turme eingeschlossen war. Die Präsidentin, in ihrer nervösen Angst und Unruhe, hatte nur mit halbem Ohre hingehört – was ging sie das Wuchergeld des ehemaligen Müllerknechtes an! Flora dagegen war bei ihrer merkwürdigen Sammlung und objektiven Ruhe, die sie angesichts des grauenhaften Ereignisses behauptete, den möglichen Eventualitäten gefolgt, welche die völlige Vernichtung der Dokumente für ihre Stiefschwester herbeiführen konnte.

Es hatte etwas Zornmütiges, Verbissenes in Ihrem schönen, bleichen Römergesichte gelegen, als sie gegen zehn Uhr aus der Beletage herabgekommen war. Sie, der gefeierte Mittelpunkt der geselligen Kreise, das schöne Mädchen, dessen geistiges Übergewicht, dessen scharfes Urteil für alle Bekannten maßgebend war, sie hatte zu ihrer tiefsten Indignation die klägliche Rolle einer Überflüssigen droben in dem »sogenannten« Krankenzimmer spielen müssen. Außer Henriette, die, auf einem Sofa kampierend, um keinen Preis Käthe verlassen wollte, war auch die Tante Diakonus als Pflegerin erschienen. Sie hatte zugleich ein Asyl in der Villa suchen müssen, denn auf dem Hause am Flusse, das ja der Unglücksstätte am nächsten lag, waren die Schlote eingestürzt; an der südlichen Hausmauer zeigten sich bedenkliche Risse und Sprünge; die Fenster lagen in Trümmern, und keine der Türen passte mehr in Schloss und Angel. … Die neueingezogene Dame war mit der Köchin in der Schlossmühle bei Suse einquartiert worden, und für die Nacht hatte der Doktor zwei Wächter an das verlassene Haus postiert.

Am Bette der Verletzten war kein Platz für Flora gewesen. Zu Häupten hatte die Tante, entsetzlich verweint, in einem Lehnstuhle gesessen, und ihr gegenüber der Doktor. »Die Alte« hatte sich gebärdet, als sei Käthes ungefährliche Stirnwunde, ihre anhaltende Betäubung, das Allerbeklagenswerteste, was der unheilvolle Tag überhaupt gebracht, und der Doktor war nicht von seinem Platze gewichen – er hatte Käthes Hand nur aus der seinen gelassen, wenn der Umschlag auf ihrer Stirn erneuert werden musste. Ein solch’ besorgnisvolles Gebühren um »das robuste, lange Mädchen mit den Nerven und Gliedern der ehemaligen Holzhackerstochter« widerspruchslos mit anzusehen, dazu hatte denn doch für Flora ein vollgerütteltes Maß Geduld und Selbstüberwindung gehört.

Des ewigen bangen Geflüsters müde und einsehend, dass sich heute mit all’ den konsternierten Menschen kein vernünftiges Wort reden lasse, war die schöne Braut endlich hinabgestiegen, allein und tief ergrimmt – der Doktor hatte sie nicht einmal bis zur Zimmertür, geschweige denn die Treppe hinabgeleitet. Zu Bette war sie selbstverständlich auch nicht gegangen; sie hatte die verunglückte Polterabendtoilette abgestreift, ihre schmiegsamen Glieder in den weißen Kaschmirschlafrock von griechischem Zuschnitte gehüllt und sich gegen Morgen ein wenig auf das rote Ruhebett hingestreckt.

Das ehemalige Studierzimmer ließ an Öde und Unwohnlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Der schwarze Schreibtisch stand, abgeräumt und verstaubt in seiner Fensterecke; von den Regalen waren sämtliche Bücher genommen und lagen verpackt in großen Kisten inmitten des Zimmers. Die Säulenstücken samt Büsten rollten umgestürzt auf der Erde; darüber her warf die qualmende, von unsicherer Dienerhand angezündete Hängelampe einen hässlich ungewissen Schein, und nun, als die Morgenluft kräftig durch die Fensterscherben zog und der Tag mit seinem energischen Lichte hereinbrach, schaukelte sie leise droben an ihrer Kette in blässlichem Rot, als glimme der Ruinenbrand in ihrer weißen Schale nach.

Jetzt, mit Tagesanbruch, hatte Flora, hinaufgeschickt und den Doktor zu sich bitten lassen – sie hörte ihn sicheren, militärisch festen Schrittes durch den Korridor kommen. Mit eiligen Händen die derangierten Stirnlöckchen unter den Spitzen des Morgenhäubchens noch einmal zurecht zupfend, drückte, sie das weiße Marmorgesicht tiefer in die roten Polster und sah blinzelnd nach der Tür, durch die er eintreten musste.

Er schritt über die Schwelle. Sie hatte ihn noch nie so gesehen, und deshalb erhob sie sich, unwillkürlich, mechanisch, als trete ein fremder Mann herein.

»Ich fühle mich unwohl, Leo«, sagte sie unsicher und ohne den Blick des Erstaunens von dem Gesichte wegzuwenden, das, bleich und überwacht, und dennoch wie von einem innerem Lichte belebt und durchleuchtet, plötzlich einen so völlig veränderten Charakter angenommen hatte. »Mein Kopf brennt – der Schrecken und durchnässte Füße haben mir jedenfalls ein Fieber zugezogen.« Sie setzte das stockend hinzu, während seine Augen kalt prüfend, mit der beobachtenden Ruhe des Arztes über ihre Züge hinstreiften. Dieser eine Blick machte ihr das Blut sieden.

»Nimm Dich in Acht, Bruck!« sagte sie mit völlig beherrschter Stimme, – aber ihr Busen wogte unter gepresstest Atemzügen und die schöngeschwungenen Brauen hoben sich, so dass zwei strenge, tiefe Querfalten die weiße Stirn durchschnitten. »Ich ertrage es nun schon monatelang geduldig, dass Deine Praxis die Geliebte ist, der ich mich unterordnen muss.« Sie zuckte die Achseln. »Ich sehe ein, dass das mein Schicksal bleiben wird, und denke groß genug, um mich darüber hinwegzusetzen; denn diese Hingabe an seinen Beruf macht den Mann bedeutend, dessen Namen ich tragen werde.« Bei diesen Worten wandte sie den hochgehobenen Kopf weg, als überfliege ihr geistiger Blick die weite Welt, die sein berühmter Name erfüllte. So entging ihr die jäh emporlodernde Flammenglut auf seinen Wangen: »Aber ich protestiere entschieden gegen jede Zurücksetzung, sobald ich selbst Deinen ärztlichen Rat brauche«, fuhr sie fort. »Wir alle haben unter der furchtbaren Katastrophe zu leiden gehabt – ich armes Opfer musste bei allem Schrecken auch noch die halb wahnwitzige Großmama und Henriette in ihrem trostlosen Zustande unter die Flügel nehmen – eine nicht zu beschreibende Aufgabe. Und doch ist es Dir bis zu dieser Stunde nicht eingefallen, auch nur einmal zu fragen: ›Wie trägst denn Du das Unglück?‹«

»Ich habe nicht gefragt, weil ich weiß, dass bei Dir dergleichen seelische Eindrücke durch den Verstand kontrolliert werden, und weil ich auf dem ersten Blick hin sehe, wie wenig Dein körperliches Befinden in Wahrheit beeinträchtigt ist.«

Sie horchte befremdet auf den Ton seiner Stimme – er sollte gelassen, wie immer, klingen, und doch bebte er hörbar, wie in Folge ungestümer Herzschläge.

»Was Deine zweite Behauptung betrifft, so irrst Du«, sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen; »ich habe in der Tat nervöses Klopfen in den Schläfen; bezüglich der ersten aber magst Du Recht haben. Ich suche mich jedem Ereignisse gegenüber – gleichviel welchem – stets so rasch wie möglich zu sammeln, um es mit klarem Blicke übersehen zu können. Du scheinst diese meine Taktik zu missbilligen, wie ich aus Deinem seltsamen Tone entnehme, und doch hast Du gerade heute alle Ursache, sie zu preisen. Ich habe mich nie überreden lassen, mit meinen vom Papa geerbten soliden Obligationen zu spekulieren – hätte ich mithin nicht auch bei überschwänglichen Glücksfällen den Kopf oben behalten, dann stünde ich heute hier vor Dir mit leeren Händen – meine Mitgift wäre verpufft, wie das unermessliche Papiervermögen, das gestern in alle Lüfte geflogen ist. Ja, sieh mich nur scheu an, Bruck!« sie dämpfte ihre Stimme. »Ich lasse mich nicht düpieren und nenne die Dinge beim Namen. Die Großmama rennt drüben auf und ab und ringt die Hände, dass ›der kolossale Besitz‹ Fremden zufalle; unsere lieben Gäste haben die halbe Nacht hindurch den reichen Mann beklagt und beweint, der ein Schoßkind des Glückes gewesen, den die boshafte Ironie des Schicksals in Weise mitten aus seinem Erdenhimmel gerissen aber sage: Der theatralische Abgang war mittelmäßig gesetzt; in den Kulissen ist eine Lücke geblieben, durch die man der Wirklichkeit ans den Leib gehen Wird. In der Kürze, vielleicht in den nächsten Tagen schon, werden die Gerichte festgestellt haben, dass Römer – anfangs vielleicht nur ein sehr leichtsinniger Spekulant, schließlich aber – ein Schurke gewesen ist.«

Eine einschneidendere Wandlung der Dinge ließ sich nicht denken, als die schöne Dame in diesem Augenblicke zur Geltung brachte. Sie stand in ihrem weißen Iphigenia Gewande, den roten Teppich unter den Füßen, die schwebende Hängelampe über der Stirn, genau auf derselben Stelle, wo sie im Dezember, gegenüber dem Kommerzienrate, die ärztliche Wirksamkeit ihres Verlobten gebrandmarkt und gesagt hatte: »Ich dulde nichts Totgeschwiegenes in meiner Seele.«

Flora hatte Recht; sie nannte allerdings die Dinge beim Namen – sie sprach das aus, was der Mann da vor ihr in seinem Innern nicht leugnete, was ihn seit gestern in eine namenlose Seelenpein verseht hatte, aber dass der fein geschnittene, zarte Frauenmund sich vor den nacktesten Ausdrücken nicht scheute, um den Scharfsinn, »der sich nicht düpieren lasse«, an den Tag zu legen – das war wohl geeignet, einen Sturm von Unwillen in einer feinfühlenden Menschenseele hervorzurufen.

»Ach, wie ich sehe, habe ich heute das Unglück, Dir in allem, was ich sage, zu missfallen«, hob sie nach einem sekundenlangen Verstummen halb sarkastisch, halb schmollend wieder an und ging ihm um einige Schritte nach – er hatte sich mit unverhohlener Entrüstung abgewendet und war schweigend in die Fensterecke getreten. »Möglich, dass mein gerechtes Urteil ein wenig zu drastisch ausgesprochen war; vielleicht hätte ich auch, dankbar für manche kleine Annehmlichkeit, die mir Römer hier und da verschafft hat, weniger wahr und aufrichtig sein sollen« – sie zog die Schultern und die Brauen empor – »aber ich bin nun einmal eine geschworene Feindin aller schwächlichen Bemäntelung und habe dabei auch alle Ursache, empört zu sein. Meine Schwester Henriette, mit deren Erbteil Römer spekuliert hat, wird mit dem Zusammensturze bettelarm, und Käthe? – Sei versichert, dass ihr von ihrem ganzen immensen Vermögen nicht ein Papierschnitzel bleibt!«

»Desto besser!« kam es wie ein Hauch von den Männerlippen, die so jünglingshaft rot und keusch unter dem vollen Barte schimmerten und in diesem Momente sanft zu lächeln schienen.

So schwach die zwei Worte auch geklungen, Floras Ohr hatte sie doch aufgefangen. »Desto besser?« fragte sie erstaunt und schlug, halb und halb lachend, die Hände zusammen. »Sehr sympathisch ist mir unsere Jüngste allerdings auch nicht, aber was hat sie denn verbrochen, dass Du ihr Unglück in so befremdlicher Weise aufnimmst?«

Er biss sich wie in innerem Kampfe heftig auf die Unterlippe und presste die Stirn an das Fensterkreuz; sie sah nachsinnend neben ihm weg, hinaus in den Garten, wo eben der goldene Morgenstrahl das weiße Haupt der steinernen Brunnennymphe erreichte.

»So schlimm, wie Henriette, ergeht es Käthe allerdings nicht – die Schlossmühle bleibt ihr, und die mag schon ein hübsches Stück Geldes wert sein«, setzte sie nach einer Pause hinzu. »Dorthin kann sie sich retten, wenn hier alles zusammenbricht, und auch für unsere arme Brustkranke wüsste ich kein besseres Asyl; beide Schwestern lieben sich ja und würden sich gewiss vertagen. Es wird uns auch kein anderes Arrangement übrigbleiben; die Großmama mit ihrem schmalen Einkommen kann unmöglich für Henriette sorgen, und Dir werde ich selbstverständlich nie zumuten, die kranke Schwester in unsere junge Häuslichkeit mitzunehmen.« Sie schlang plötzlich ihren Arm in den seinigen und sah verführerisch zärtlich zu ihm auf. »Ach Leo, wie will ich Gott danken, wenn wir morgen im Wagen sitzen werden, all’ das Schreckliche, was nun hier erfolgen muss, im Rücken –«

Mit einer leidenschaftlichen Gebärde, mit einem Ingrimm, wie sie ihn noch nie in diesem stillen, ernsten Männerantlitze gesehen, riss er sich von ihr los. »Möchtest Du wirklich alle im Stiche lassen, die Armen, die in den nächsten Tagen rat- und hilflos inmitten der schrecklichen Schicksalsschläge dastehen werden?« rief er wie außer sich. »Gehe, wohin Du willst – ich bleibe.«

»Leo!« schrie sie auf – dann stand sie momentan sprachlos und rang mit einer unbeschreiblichen Erbitterung. Sie legte die geballte Hand auf das Herz, als habe sie einen Dolchstoß erhalten. »Du hast sicher die Tragweite Deiner allzu raschen Worte selbst nicht ermessen«, sagte sie endlich klanglos und gepresst; »ich will sie deshalb nur insoweit gehört haben, als sie eine Bemerkung meinerseits nötig machen: Wenn wir nicht morgen, bevor der Ausbruch erfolgt, unsere Reise antreten – und niemand wird es uns verargen, dass wir das nun einmal Vorbereitete in aller Stille ausführen –, dann muss unsere Verbindung überhaupt hinausgeschoben werden.«

Er schwieg und verharrte, wie zu Stein geworden, in seiner abgewendeten Stellung, und diese wortlose Unbeweglichkeit reizte sie sichtlich; ihr ganzes leidenschaftliches Naturell funkelte in den großen, grauen Augen.

»Ich habe Dir vorhin erklärt, dass ich zeitlebens gutwillig Deiner Praxis, der Liebe zu Deinem Berufe nachstehen will«, setzte sie dringender hinzu. »Nie aber werde ich mit meinen Interessen anderen Frauen weichen – das merke Dir, Leo! Ich kann nun und nimmer einsehen, weshalb ich der Großmama und meiner Schwester wegen den furchtbaren Zusammensturz hier mit durchkämpfen soll, da mir doch das Recht zusteht, mich in die ruhige, schützende Häuslichkeit zu flüchten, die Du mir zu geben gelobt hast; ein solches Opfer solltest Du mir gar nicht zumuten. Liegt es in meiner Macht, etwas an der Sachlage zu ändern? Ganz und gar nicht – wozu dann die nutzlose Aufregung, in die Du mich geflissentlich stürzest? Soll ich durchaus das Vergnügen haben, auch ein Gegenstand des öffentlichen Mitleids zu sein? Ehe gehe ich stehenden Fußes von hier fort – ich will nicht, dass man mit den Fingern auf mich zeige.«

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Release date on Litres:
06 December 2019
Volume:
497 p. 30 illustrations
Copyright holder:
Public Domain