Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer

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Liselotte Welskopf-Henrich und die Indianer
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Erik Lorenz

Liselotte Welskopf-Henrich

und die Indianer

2. überarbeitete Auflage 2010

© 2009-2010 by Palisander Verlag, Chemnitz

Erste Digitale Auflage 2012

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Schutzumschlaggestaltung: A. Elstner, unter Verwendung des Gemäldes »Minnechiga Ogalalah Sioux (Ausschnitt)« von Henry Farny, Foto Rückseite (V. Bellecourt, L. Welskopf-Henrich, D. Banks): Thomas Sandberg, Foto des Autors: Bastian Kruse

Lektorat: Palisander Verlag

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

ISBN 978-3-938305-26-3

www.palisander-verlag.de

Erik Lorenz

Liselotte Welskopf-Henrich

und die Indianer

Eine Biographie

Mit einem Vorwort von Dr. Rudolf Welskopf

und einem Nachwort von Dr. Isolde Stark

Palisander

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog:Die Indianer, meine Mutter und ich

I Eine vielseitige Frau

Wissenschaftlerin, Autorin, Mutter

Eine Couragierte Frau

Die Wahrheit in der Dichtung

II Die Söhne der großen Bärin

Faszination Indianer

Indianer und wir

Inhalt

Teil 1 Harka

Teil 2 Der Weg in die Verbannung

Teil 3 Die Höhle in den Schwarzen Bergen

Teil 4 Heimkehr zu den Dakota

Teil 5 Der junge Häuptling

Teil 6 Über den Missouri

Ein steiniger Weg

Widersprüche (aber nicht die des Kapitalismus) oder Ein junger Autor und der schwarze Mann

Das Buch einer Generation

Auf der Suche nach der Wahrheit - die Quellen

»Vom Denken und Fühlen der Indianer« die Kritiker

Die DEFA und das Gallenleiden der Liselotte Welskopf-Henrich

III Das Blut des Adlers

Das American Indian Movement

Proklamation: An den Großen Weißen Vater und sein Volk

Lakota Tashina

Inhalt

Teil 1 Nacht über der Prärie

Teil 2 Licht über weißen Felsen

Teil 3 Stein mit Hörnern

Teil 4 Der siebenstufige Berg

Teil 5 Das helle Gesicht

Die Hintergründe der Pentalogie »Das Blut des Adlers«

Nachwort: Büffelfell und Trapperhut

Danksagung des Autors

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorwort

In diesem Buch erfahren wir viel über die »Werkstatt« der Schriftstellerin Liselotte Welskopf-Henrich. Woher bezog sie Anregungen und wie informierte sie sich über die Kultur der Indianer? Viele ihrer Quellen waren durch Krieg und Bombenangriffe verloren gegangen, aber Catlins Erzählungen waren ein Heiligtum in ihrem Bücherschrank. Darüber hinaus habe auch ich durch die gründlichen Recherchen des Autors manches Neue erfahren.

Wie es ihr, darauf aufbauend, gelang, den Leser in eine ferne, fremde und dennoch authentische Welt zu versetzen und mit spannenden Geschichten zu fesseln – das ist und bleibt wohl das Geheimnis der schriftstellerischen Phantasie und Kreativi­tät. Diese Art von Kreativität war nicht etwas, was sie bewusst einsetzen konnte wie ein Werkzeug; sie war ein Rausch, der sie entführte, und dann schrieb sie bis zur Erschöpfung. War eine Episode fertiggestellt, begann irgendwann die Feinarbeit daran, das Schleifen an den Dialogen...

Es war schon ziemlich exotisch, dass eine Bürgerin der DDR sich für die nord­amerikanischen Indianer engagierte – sich nicht einfach nur interessierte, sondern über sie schrieb, für sie schrieb und ihnen nach Möglichkeit auch materiell half. Aber es wurde noch viel mehr daraus: Die DEFA drehte Indianerfilme, es entstanden »Arbeitsgemeinschaften« junger Menschen, die die indianische Kultur studierten, mitunter diese in ihrer Freizeit sogar imitierten. Viele setzten sich mit meiner Mutter in Verbindung, baten um Informationen und Ratschläge.

Warum gerade die Eingeborenen Nordamerikas? Es mag Zufall gewesen sein, als schon in ihrer Kindheit dafür der Grundstein gelegt wurde. Aber es ging ihr wie vielen anderen: Nachdem sie begonnen hatte, sich mit deren Geschichte und Kämpfen zu beschäftigen, ließen sie sie nicht mehr los, begleiteten sie ihr ganzes Leben lang. Was ihr, was uns diese Beschäftigung zu geben vermochte und immer noch vermag, wird in dem Text »Indianer und wir« warmherzig und aus erster Hand geschildert.

Viele Jahre lang waren »Die Söhne der Großen Bärin« in der DDR Mangelware. Der kleine private Altberliner Verlag Lucie Groszers erhielt nur ein schmales Papier­kontingent. Umso mehr wurden die Bibliotheken frequentiert, die wiederum gerne Autoren zu Lesungen einluden. Meine Mutter erreichten weit mehr Anfragen, als sie allein schon aus Zeitgründen nachkommen konnte. Sie konnte also auswählen, und sie suchte sich Bibliotheken, Betriebskulturhäuser und Orte aus, die sie besonderes interessierten. Darunter waren ein Jugendwerkhof, ein Chemiekombinat bei Bitterfeld, Kinderheime, ein Steinkohlebergwerk bei Oelsnitz…

Gelegentlich konnte ich sie begleiten, später chauffierte ich sie. Regelmäßig wurden mit dem Besuch Betriebsbesichtigungen verbunden, die sie gründlich nutzte. Sie wollte wissen und es nachfühlen, wie die Menschen wirklich lebten und arbeiteten, die von der Propaganda und den Medien der DDR nur als eine Art »Workaholics« dargestellt wurden. Nach den Ereignissen von 1956 war ihr zunächst naives Bild vom Sozialismus als der besten aller möglichen Welten ins Wanken geraten, und sie war selbst wieder eine Suchende geworden. Aber das ist eine andere Geschichte. Oder waren es womöglich ihre Erfahrungen in der DDR, die sie zu den sarkastischen Schilderungen der Bürokratie des BIA, des Bureau of Indian Affairs, und der Verwaltungen der Indianerreservate inspiriert hatten?

Übrigens erreichte sie es tatsächlich, in Oelsnitz auch in den Schacht einfahren zu dürfen.

Es war mehr als bloße Neugier, es waren Wissbegier und Anteilnahme, die sie leiteten. Schon so reich an Lebenserfahrung, sammelte sie immer weitere Eindrücke. Diese wären vermutlich in einen Gegenwartsroman eingeflossen, für den sie in den siebziger Jahren Pläne schmiedete und erste Szenen verfasste. Aber dazu kam es nicht mehr, und so darf man sicherlich zu Recht die Pentalogie »Das Blut des Adlers« als ihr literarisches Hauptwerk und Vermächtnis betrachten.

Dr. Rudolf Welskopf

Prolog: Die Indianer, meine Mutter und ich1

1 Liselotte Welskopf-Henrich in: Richter, Hans-Peter: Schriftsteller erzählen von ihrer Mutter, Balve: Engelbert-Verlag 1974. Aus Gründen der Einheitlichkeit wurden Texte von Welskopf-Henrich in die neue Rechtschreibung übertragen. Dies gilt ebenfalls für Zitate anderer Autoren.

Es ist eine natürliche und zugleich merkwürdige Geschichte, die ich euch erzählen will. Sie beginnt mit den Indianern – wenn ihr wollt, vor zehn-, zwanzig- oder vierzigtausend Jahren – als die braunhäutigen schwarzhaarigen Menschen in die unbekannte Wildnis des großen Kontinents eindrangen, dem wir später den Namen Amerika gegeben haben. Kein Geschichtsschreiber hat die Taten und Leiden dieser ersten Entdecker aufgezeichnet, und noch hat kein Dichter ihnen mit seiner Einbildungskraft nachgespürt.

 

Vergangen und vergessen? Nicht ganz. Sagen und Legenden sind geblieben, und die Menschen – die Nachkommen. Nachdem sie einen Kontinent mit unendlichen Mühen und Gefahren, mit ganz einfachen Waffen und Werkzeugen erschlossen hatten, sind neue Entdecker gekommen – das waren unsere Väter, Großväter, Urgroßväter – sie hatten schon bessere Waffen und wirkungsvollere Werkzeuge und blieben Sieger. Heute gibt es in Amerika über vierzig Millionen Indianer, als Farmer, Rancher, Landarbeiter, Industriearbeiter, in Südamerika und Mexiko, auf den Reservationen der USA und Kanadas. Es gibt indianische Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Wissenschaftler. Der größte Teil der Indianer aber lebt noch in Armut; einige wenige haben in der Wildnis des Amazonas ihre Lebensweise beibehalten. Ohne die Indianer hätte die Geschichte, die ich euch erzählen will, nicht geschehen können.

Meine Mutter war eine schöne Frau, lebhaft und intelligent, alle liebten sie, und ich liebte sie über alle Maßen und war ihr ganz und gar gehorsam. Sie erwartete das von mir, und für mich gab es zu jener Zeit, als ich neun Jahre alt war, keinen Zweifel daran, dass sie damit recht habe.

»Warum liest du das Buch nicht weiter, Lislott?«

»Es ist schwer – ich verstehe es nicht recht.«

»Es ist ein gutes Buch. Du liest es.«

Ich las es. Es war ein sehr dickes Buch, genau gesagt, es waren mehrere Bände. In der Schule hatte ich von Geographie und Geschichte Amerikas noch nichts erfahren. Ich musste meinen Kopf anstrengen und viele Fragen stellen, um hinter die Dinge zu kommen. Ich tat das.

»Lislott – hast du heute Nacht heimlich gelesen?«

»Nein – nein.«

Mir war nicht wohl bei der Lüge. Vielleicht war es überhaupt meine erste Lüge. Ja, ich glaube, das war das erste Mal, dass ich meine Mutter anlog.

»Und was ist das?«

Mutter hatte das Lesezeichen unter dem Bett gefunden. Ich wusste, dass ich es verloren hatte; ich hatte es auf den Knien und auf dem Bauche liegend des Nachts gesucht. Gefunden hatte es jetzt meine Mutter.

Ich wurde glühend rot. Ich spüre heute noch, wie heiß mein Gesicht wurde.

»Lislott!«

Ich sagte nichts mehr. Ich schämte mich.

Die Lederstrumpfgeschichten durfte ich aber weiterlesen. Der jüngste Bruder meiner Mutter, ihr Lieblingsbruder, ein Forstmeister, hatte sie mir geschenkt.

Des Abends brannte die Lampe über dem Familientisch. Meine Eltern lasen Zeitung.

»Lislott – hier, lies. Deine Indianer haben einen Aufstand gemacht. Der Präsident von Mexiko schickt Truppen gegen sie. Nun wird es ihnen sehr übel ergehen. Aber du tust nichts für sie! Du redest nur unentwegt von deinen Indianern.«

Ich las. Es waren die Yaqui-Indianer, die ihre Heimat verlassen sollten und die darum zu den Waffen gegriffen hatten.

Ich schämte mich wieder. Ärger als das erste Mal. Ich redete nur – ich tat nichts. Was für eine Schande, was für eine Schande! Die Yaqui-Indianer, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, wurden vielleicht eben jetzt niedergemetzelt, während ich in die Schule ging, Indianerbücher las und nichts tat – für »meine« Indianer. Das Wort hatte mich getroffen. Ich wollte nach Mexiko fahren, um den Präsidenten um Gnade für die Yaqui zu bitten. Aber Pass und Geld fehlten mir. Ich war erst zehn Jahre alt.

So schrieb ich einen Brief. Er war lang, und ich hatte mir jedes Wort genau überlegt. Einen ganzen Sonntag brauchte ich, um den Brief ins Reine zu schreiben. Mein Vater brachte ihn an die Bahnpost, damit er nicht zu spät käme. Die Adresse lautete: An den Präsidenten von Mexiko in Mexiko.

Niemand glaubte, dass ich eine Antwort erhalten würde.

Kurz vor Weihnachten war ich wieder einmal zu spät aufgestanden und stürzte die Treppe über zwei und drei Stufen hinunter, um die Schule noch zur Zeit zu erreichen. An der Haustür prallte ich auf den Briefträger.

»Ein Brief für dich!«

Die Marken waren sonderbar – mein Herz begann zu schlagen. Ich ließ Schule Schule sein und jagte wieder die Treppe hinauf.

Meine Eltern saßen beim Frühstück.

»Aus Mexiko!«

Der Brief war spanisch geschrieben. Wir verstanden kein Wort. Abends erfuhr ich den Inhalt. Der Präsident Francisco Madero schrieb dem kleinen Mädchen in Stuttgart, dass er seine Truppen angewiesen habe, menschlich vorzugehen.

Aber wenige Wochen später wurde Francisco Madero von seinem Gegner Felix Diaz gefangengenommen und während eines Transports »auf der Flucht erschossen«.

Ich zitterte und horchte auf. So also ging es in der Welt zu.

Das Jahr verfloss. Mein Spielgefährte Armin sagte zu mir: »Ich habe interessante Bücher. Du musst aber erst deine Mutter fragen, ob du sie lesen darfst. Sie sind von Karl May geschrieben, und Karl May hat im Zuchthaus gesessen.«

Meine Mutter hatte keine Ahnung, wer Karl May sei. Als sie aber das Wort Zuchthaus hörte, entschied sie: »Diese Bücher liest du nicht.«

Ich gehorchte.

»Schade«, meinte Armin. Damit war die Sache abgeschlossen.

Im Sommer fand ich in Tirol, in einem kleinen Dorf zwischen Bergen, Wäldern und Almweiden, einen weniger wohlerzogenen Spielgefährten. Wir spielten Indianer, und es ist ein wahres Wunder, dass kein Unglück dabei geschah. Unsere Häuptlinge kämpften auf selbstgebauten Flößen mit langen Stangen, die sie für Speere hielten, auf einem Sumpfsee. Ich war Häuptlingsfrau und hütete das Feuer, damit kein Waldbrand entstand.

»Höre«, sagte mein indianischer Gemahl zu mir, »entweder liest du jetzt Karl May, oder du spielst nicht mehr mit.«

Am nächsten Morgen saß ich versteckt auf dem Dachboden des alten Bauernhauses und las Winnetou.

Ich liebte Winnetou, wie ich Unkas geliebt hatte. Old Shatterhand war mir zu eitel und zu selbstgefällig, ich konnte ihn nicht ausstehen. Auch glaubte ich, dass der Schriftsteller gelogen haben müsse, wenn er behauptete, dass ein Apachenhäuptling Madonnenaugen gehabt und nur um seines Freundes Scharlieh willen eine Bahn für den Feind mitten durch das Stammesgebiet fertiggebaut habe.

Ich beschloss, selbst zu studieren, was in Wahrheit geschehen sei und was für Charaktere jene Indianer gewesen seien, die ihre Heimat und ihre Freiheit verteidigt hatten.

Ich beschloss, Historikerin und Schriftstellerin zu werden.

Meine Mutter war sehr geduldig. Jahr um Jahr, Abend um Abend saß sie mir still gegenüber, wenn ich schrieb – und immer wieder schrieb, weil es mir noch nicht gelingen konnte, so zu schreiben, wie ich es mir vorgenommen hatte. Um ein Dichter zu sein, braucht man nicht nur Kenntnisse, nicht nur Phantasie, nicht nur Liebe zu den Menschen – man muss das Leben kennenlernen.

Meine Mutter wartete und störte mich nicht.

Ich hatte eine gute Mutter, wenn sie auch nicht immer gewusst hat, was sie tat.

Als ich die Indianer, meine Freunde, in Kanada und in den Vereinigten Staaten von Amerika besuchen konnte, ruhte meine Mutter schon im Grabe, und ich vermochte ihr nur noch in Gedanken zu berichten, was alles daraus entstanden ist, dass sie eines Tages zu mir gesagt hatte »Es ist ein gutes Buch...«.

I – Eine vielseitige Frau
Wissenschaftlerin, Autorin, Mutter

Äußerlich war sie ganz schlicht –

man hätte nie gedacht, dass sie eine so große Wissenschaftlerin und Autorin war.

Detlef Rößler2

2 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und persönlicher Assistent Welskopf-Henrichs; Zitat aus einem Gespräch mit dem Autor.

Es ist einer der vielen sonnigen Tage im Sommer des Jahres 2010, als der Autor dieser Zeilen mit der Straßenbahn durch die Hauptstadt fährt und dabei Zeuge eines Gesprächs zweier etwa zehnjähriger Jungen wird. Sie tragen Flipflops, Sonnenbrillen, bunte Bermudashorts und luftige Shirts; nichts unterscheidet sie von anderen Kindern ihres Alters. Um so überraschender ist ihr Gesprächsthema. Der eine, ein Blondschopf, berichtet seinem Freund begeistert von einer sechsteiligen Bücherserie, die ihm sein Vater vor einigen Tagen geschenkt habe: »Die Söhne der Großen Bärin« von Liselotte Welskopf-Henrich. »So ein alter, vergilbter Schinken aus der DDR«, sagt der Junge, »aber echt genial geschrieben!« Das Interesse des Freundes ist verhalten, er spielt lieber an seinem iPod herum, aber der junge Bücherfreund bleibt in seinem Enthusiasmus unbeirrt und erzählt von den Abenteuern, die der Dakotajunge Harka im ersten Teil zu bestehen hat. Die gemeinsame Leidenschaft der beiden ist das Skateboarden, wie sich etwas später herausstellt, doch im Augenblick begeistert sich der Blondschopf einzig und allein für den jungen Indianer und seine tollkühnen Taten: »Er ist sehr sportlich, aber auch klug«, stellt er fest. »Also wie ich«, entgegnet der andere, spannt die Muskeln, setzt einen in die Ferne gerichteten Denkerblick auf und freut sich.

Als hundert Jahre zuvor Liselotte Welskopf-Henrich um die zehn Jahre alt war, war die Welt noch eine andere. Eine jahrzehntelange Phase relativen Friedens hatte zu einem beispiellosen Aufschwung der Wirtschaft geführt. Wissenschaftliche Erkenntnisse wie Plancks Quantentheorie, Einsteins Relativitätstheorie oder auch Freuds Psychoanalyse ließen traditionelle Weltbilder einstürzen. Kunst und Literatur standen im Zeichen der Moderne. In Indien wurden zum ersten Mal Briefe mit einem Postflugzeug transportiert. Die Titanic stand kurz vor ihrem Stapellauf. Amundsen und Scott bereiteten ihre Südpolexpeditionen vor. Bald schon würden die letzten »weißen Flecken« von den Landkarten geschwunden sein. Doch trotz allen Fortschritts wuchsen die politischen Spannungen in Europa, die sich im Ersten Weltkrieg entladen sollten, nach dem nichts mehr so sein würde wie zuvor.

Ähnlich, wie der Blondschopf sich heute für Welskopf-Henrichs Werk begeistert, hatte diese einhundert Jahre zuvor gerade die Bücher von James Fenimore Cooper für sich entdeckt. Durch Berlin, die spätere Heimat Welskopf-Henrichs, fuhr auch damals schon die elektrische Straßenbahn. Doch ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie nicht in der Hauptstadt, sondern in München, wo sie am 15. September 1901 als Elisabeth Charlotte Henrich geboren wurde.

In ihrer frühen Kindheit spielte Liselotte, wie sie allgemein genannt wurde, oft unter Aufsicht ihres Kindermädchens im botanischen Garten. Am Nachmittag, in der Zeit, die sie mit ihrer Mutter Marie verbrachte, musste sie vor allem artig sein. Sie sprang die Stufen zum Hofgarten-Café im heimatlichen Stadtteil hinauf und hinunter, und im Herbst sammelte sie Kastanien. Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen, boten sich kaum. Das änderte sich, als die Familie 1907 nach Stuttgart zog: Im Haus wohnte ein gleichaltriges Mädchen, das Liselotte in ihre große Spielhorde einführte. Jeden Nachmittag nach den Schularbeiten kamen die Kinder zusammen und genossen völlige Freiheit. In den Unterrichtspausen am Vormittag spielten sie »Räuber und Gendarm«. Einmal verteidigte Räuberin Liselotte sich auf einer Treppe so energisch gegen acht »Gendarmen«, dass der Schulleiter kommen musste, um sie von dem Geländer loszureißen, an dem sie sich festhielt.

Manchmal fanden die Kinder sich auch zu einer Erzählgruppe zusammen. Dann war Liselotte gefragt.

1913 musste sie sich von ihren Freundinnen trennen: Die Familie übersiedelte nach Berlin, eine Stadt, die Liselotte grässlich fand. Auf eigenen Wunsch besuchte sie ein humanistisches Gymnasium, wo sie Griechisch und Latein lernte.

Im Klassenverband musste sie sich erst durchsetzen. In den Unterrichtsstunden fiel ihr das aufgrund der hohen Ansprüche der Stuttgarter Schule leicht, dennoch fühlte sie sich als Fremdling. Der Direktor hatte sie schon von vornherein eine Klasse zurückversetzen wollen; um ihn von diesem Gedanken abzubringen, strengte Liselotte sich besonders an und war schnell die Klassenbeste. In ihrer Abwesenheit ermunterte die Klassenlehrerin dann die Klasse, sich doch von der Süddeutschen nicht übertreffen zu lassen.

Bald kam ein Mädchen in die Klasse, das in einem englischen Internat erzogen worden war. Zwischen Liselotte und diesem Mädchen entwickelte sich eine enge Freundschaft, die viele Jahre halten sollte. Oft verbrachten sie ihre Nachmittage gemeinsam, gingen spazieren, besprachen ihre persönlichen Probleme, aber auch die des Theaters, und beeinflussten sich in ihrer Entwicklung gegenseitig. Diese und andere Freundschaften trugen dazu bei, dass Liselotte in Berlin nicht unglücklich wurde, wie sie es zunächst befürchtet hatte.

 

1921 schloss sie erfolgreich ihr Abitur ab. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Universität, studierte sie Ökonomie, Geschichte und Philosophie – Wissenschaftsgebiete, die später ihre Forschungen in der Alten Geschichte grundsätzlich bestimmen sollten.

1925 promovierte sie an der Humboldt-Universität mit dem Hauptfach Ökonomie zum Dr. phil. Ihr Vorhaben, ihre wissenschaftliche Karriere noch in den 1920er Jahren fortzusetzen, konnte sie nicht verwirklichen. Der Vater, Dr. Rudolf Henrich, ein Versicherungsdirektor, war 1923 zwangspensioniert worden, weil er sich mit dem Gerling-Konzern angelegt hatte. Zuvor war er Rechtsanwalt in München gewesen, doch nachdem der demokratisch gesinnte Mann mit der katholischen Kirche gebrochen hatte, war er beruflich nicht mehr vorangekommen. So hatte Liselotte schon früh so manches über die Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft gelernt. 1926 starb der Vater. Sein Vermögen, das er vererbt hatte, schwand in der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise rasch dahin. Nach ihrer Promotion arbeitete Liselotte daher einige Zeit in einem Warenhaus und in der sozialen Frauenschule. Sie musste nun für sich selbst und ihre Mutter aufkommen. Wirtschaftliche Beweggründe hatten sie auch veranlasst, das für damalige Akademiker beruflich aussichtsreichste Gebiet Ökonomie als Hauptfach zu wählen und ihre eigentlichen Leidenschaften Geschichte und Philosophie nur als Nebenfächer zu belegen.

1906, Welskopf-Henrich (rechts) und eine Münchener Freundin

1925

1940

1946, Hochzeit

Nach einer Reihe kleinerer Jobs wurde sie 1928 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Statistischen Reichsamt in Berlin angestellt, wo sie unter anderem volkswirtschaftliche Bilanzen bearbeitete und bis zur Referentin aufstieg. Dank günstiger Arbeitszeiten konnte sie in dieser Phase viele Bücher über Völkerkunde lesen. Das bereits bestehende Interesse an den Indianern verfestigte sich. Außerdem setzte sie auf eigene Faust ihre historischen und philosophischen Studien fort. Da sie der nationalsozialistischen Ideologie höchst ablehnend gegenüberstand und sich weigerte, NSDAP­-Mitglied zu werden, konnte sie die angestrebte Karriere an der Universität auch in den 1930er Jahren nicht beginnen. Als 1933 eine akademische Stelle frei wurde, lehnte sie sie aus diesem Grund ab. Von ihrer ehemals besten Freundin aus dem englischen Internat entfernte sie sich zunehmend, da ihre Gedanken und Gefühle hinsichtlich der Nationalsozialisten sehr verschiedenen voneinander waren.

Ein Jahr nach Kriegsende heiratete sie August Rudolf Welskopf (1902-1979), zwei Jahre später wurde der Sohn Rudolf geboren. Welskopf-Henrich übernahm hohe Positionen in der Berliner Bezirksverwaltung, arbeitete als persönliche Sekretärin des Bezirksbürgermeisters von Charlottenburg und wurde 1946 Hauptreferentin im Bezirksamt Charlottenburg. Im gleichen Jahr trat sie in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und bald danach in die SED ein. Ebenfalls 1946 zog sie in den sowjetischen Sektor der Stadt, dahin, wo sie und ihr Mann glaubten, am dringendsten gebraucht zu werden.3 Sie nutzte ihre ökonomischen Kenntnisse und wirkte aktiv am Wiederaufbau mit, etwa als Handlungsbevollmächtigte der Baustoff-Beschaffungs-GmbH und als Geschäftsführerin der Baustoff-Ost-GmbH, in der auch ihr Mann arbeitete.

3 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Liselotte Welskopf-Henrich, Nr. 189, fortan ABBAW.

1949 sah Welskopf-Henrich endlich den Zeitpunkt gekommen, an die Universität zurückzukehren und ihre wissenschaftliche Laufbahn fortzusetzen: Sie bewarb sich um eine Ausbildung zur Dozentin für Geschichte des Altertums und Geschichtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dabei behauptete sie, sich schon seit langem mit Marx auseinandergesetzt zu haben; tatsächlich war sie jedoch erst im Zweiten Weltkrieg durch ihren späteren Mann mit den kommunistischen Ideen in Berührung gekommen.

Die Bewerbung war erfolgreich. Zunächst als Aspirantin an der Humboldt-Universität im Fach Alte Geschichte angestellt, wurde sie 1952 mit einer Dozentur beauftragt und nach Vollendung ihrer Habilitation 1960 zur Dozentin ernannt.

1964

Bereits seit 1952 hatte sie vor Philosophiestudenten Vorlesungen über die Geschichte des Altertums gehalten, nachdem sie ihre eigenen historischen und altsprachlichen Kenntnisse aufgefrischt hatte. »Auch Fernstudenten betreute sie, und so mancher hielt noch lange Jahre den Kontakt zu ihr, beeindruckt von der Humanität, die ihre Persönlichkeit kennzeichnete.«4 1959 habilitierte sie mit der Arbeit »Probleme der Muße im alten Hellas«, ein Jahr später wurde sie zur Professorin für Alte Geschichte mit Lehrauftrag berufen.

4 Audring, Gert: Humanistin und Forscherin: Elisabeth Charlotte Welskopf. Das Altertum, Bd. 33, Heft 2 1987, S. 122.

Am 1. Januar 1961 ernannte man sie zur Leiterin der Abteilung Altertum des Instituts für Allgemeine Geschichte an der Philosophischen Fakultät, die sie schon seit Mai 1958 kommissarisch leitete, und sie wurde zum (ersten weiblichen) ordentlichen Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewählt. Sie erhielt den Nationalpreis der DDR, wurde als »Verdienter Wissenschaftler des Volkes« ausgezeichnet und erhielt zahlreiche weitere staatliche und gesellschaftliche Auszeichnungen.

Am 16. Juni 1979 verstarb Liselotte Welskopf-Henrich, Autorin, Wissenschaftlerin und international engagierte Menschenrechtskämpferin nur fünf Monate nach ihrem Mann, während eines Urlaubs in Garmisch-Partenkirchen.5

5 Vgl. ABBAW 1 (Lebensläufe) und 190 (Brief vom 11.12.1975). Weitere Informationen von Isolde Stark.

* * *

Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr der Jugendliteratur von Autoren wie Karl May und vor allem Cooper zugetan, wandte sich Welskopf-Henrich später Werken wie Schillers philosophischen und historischen Schriften sowie Lessings Schriften zu Kunst und Dramatik zu. Shakespeares Tragödien sah sie im Reinhardt-Theater in Berlin. In den folgenden Jahren galt ihre Aufmerksamkeit zunehmend der russischen Literatur, der deutschen kritischen Literatur der frühen zwanziger Jahre und französischen, englischen und norwegischen Schriftstellern. Auch für das Gebiet der historischen Wissenschaft begeisterte Welskopf-Henrich sich bald – so studierte sie mit 14 Jahren Thukydides, einen der bedeutendsten Historiker der Antike. Überhaupt interessierte sie sich schon frühzeitig für Bücher über das frühe Griechenland und die griechische Mythologie und beschloss bereits in diesen jungen Jahren, Altertumswissenschaftlerin zu werden.

Ihren Beruf als Althistorikerin übte Welskopf-Henrich mit Leidenschaft, Ehrgeiz und wissenschaftlicher Neugier aus. Zahlreiche Verdienste für die Abteilung Altertum an der Humboldt-Universität, die durch Welskopf-Henrich bedeutend an Ansehen gewann, sind ihr zuzuschreiben. Bis zum Schluss gab es in ihrem Leben nach dem Zweiten Weltkrieg kaum einen Zeitraum, in dem sie nicht an einer wissenschaftlichen Groß-Produktion arbeitete. Diese Projekte, die sie unter dem Namen Elisabeth Charlotte Welskopf herausgab, hatten internationalen Charakter: Die »Hellenische Poleis«6 etwa wurde unter der Leitung Welskopf-Henrichs von einem Autorenkreis aus aller Welt geschaffen. Wissenschaftler von Universitäten und staatlichen Museen der DDR, sowjetische und polnische Gelehrte, Fachkollegen aus Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei, Ungarn, Italien, Frankreich, der BRD, Belgien, England, der Schweiz, Portugal, Russland, Spanien, verschiedenen asiatischen Ländern und den USA – insgesamt über sechzig Wissenschaftler – arbeiteten an diesem Projekt; bei dem Nachfolgeprojekt »Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt« waren es sogar noch mehr. Begriffe wie Politik, Barbar, Demokratie und Aristokratie, die von den Griechen geprägt und von der Nachwelt übernommen worden waren, sollten gesammelt und analysiert werden, um aus den Veränderungen des Sprachgebrauchs Ableitungen über die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse vornehmen zu können. Mit den abschließenden Veröffentlichungen zu diesen Projekten gelang es ihr, als Wissenschaftlerin internationales Ansehen zu erlangen, nachdem bei ihren vorangegangenen Beförderungen zur Professorin mit Lehrauftrag und zur Leiterin der Abteilung Altertum ihre politische und ideologische Zuverlässigkeit und ihre Anerkennung als Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus wahrscheinlich noch eine wichtigere Rolle gespielt hatten als ihre Forschungsleistungen. Schließlich war ihre wissenschaftliche Laufbahn viele Jahre unterbrochen gewesen.

6 Inhalt: Politik, Wirtschaft, Sport, Mode, Technik, Kunst etc. in den griechischen Stadtstaaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. u. Z.; das vierbändige Werk ist noch heute in fast allen altertumswissenschaftlichen Bibliotheken der Welt zu finden.

Um das enorme Arbeitspensum der großen Projekte zu bewältigen, beschäftigte Welskopf-Henrich eine Anzahl wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistenten, die sie privat bezahlte. Diese Mitarbeiter waren Studierende und Studierte, die aus zahlreichen antiken Schriftquellen die entscheidenden Stellen heraussuchten und bei organisatorischen Fragen behilflich waren. Anfangs beschäftigte sie einen Mitarbeiter, später waren es drei oder vier, zwischenzeitlich sogar bis zu acht.

Ein solcher Student war Gert Audring. Ihm gefiel das Päda­gogikstudium in Potsdam nicht, weil ihm die Ausbildung zu oberflächlich war. In seinem Verdruss wandte er sich an einen älteren Studenten, und dieser riet ihm: »Wenn du Probleme hast, dann musst du mal mit der Welskopf reden.« Welskopf-Henrich lud ihn bald darauf ein, ließ sich seine Zeugnisnoten zeigen und überzeugte sich von seinem Wissen, seiner Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, auf die sie sehr großen Wert legte. Da sie mit dem jungen Mann zufrieden war, ermöglichte sie ihm, seinem Herzenswunsch entsprechend, den Hochschulwechsel nach Berlin; allerdings knüpfte sie daran einige Bedingungen. Ursprünglich wollte Audring nur Geschichte studieren und war auch bereit, den Marxismus zu akzeptieren; für Welskopf-Henrich als überzeugte Marxistin von grundlegender Wichtigkeit. Sie verlangte aber zusätzlich von ihm, dass er Latein studiere, was ihm zunächst völlig fern lag, wogegen er gar eine Abneigung hegte. Von dieser Forderung ließ sich Welskopf-Henrich jedoch keinen Deut abbringen, denn sie wusste: Wenn man in die Alte Geschichte eindringen wollte, musste man sein Handwerk beherrschen. Also hat Audring Latein studiert und abends noch Griechisch gelernt, weil er sonst die Quellen nicht hätte lesen können; er wäre sonst nur einer von vielen gewesen, die auf die Darstellungen anderer angewiesen waren und lediglich den Marxismus hinzufügten. Und das war für Welskopf-Henrich nicht akzeptabel. Sie wollte gründliche, marxistische Forschung auf der Grundlage von exakten Sprachkenntnissen. Diese Vorstellung setzte sie konsequent durch. Mit allen Mitteln versuchte sie zu verhindern, dass der Wissenschaftszweig Alte Geschichte, wie vorgesehen, in der DDR abgeschafft würde und dass dann nur noch die entsprechenden russischen Bücher übersetzt würden. Welskopf-Henrich wollte eine eigenständige Alte Geschichte in der DDR, neu begründet auf marxistischer Basis, und in diesem Sinne hat sie publiziert.