Herbst der Vergeltung

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Herbst der Vergeltung
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Eriksson



Herbst der Vergeltung









Erik Eriksson



Herbst der Vergeltung



Kriminalroman









© 2009 Oktober Verlag, Münster



Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung



des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster





www.oktoberverlag.de





Alle Rechte vorbehalten



Originaltitel: Hämnarnas höst



Übersetzung aus dem Schwedischen: Christine Bode-Wein



Satz: Anh Nguyen



Umschlag: Linna Grage



unter Verwendung eines Fotos von

www.istockphoto.com/knape



eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net



ISBN: 978-3-938568-88-0





DIE NACHBARN





1.



Die Straße war nach dem Regen wie blank gescheuert, bläulich blank, und dann war da noch der leicht säuerliche Duft von etwas, von dem Birgitta dachte, dass sie es wiedererkannte. Sie kam nicht darauf, was es war.



Etwas Reines auf jeden Fall, etwas, das mit Spanien zu tun hatte oder vielleicht auch mit Irland. Manchmal vermischten sich die Länder in ihrer Erinnerung, nicht weil sie sich so ähnlich waren, sondern weil Birgitta in ihrer Jugend sowohl einige Monate in Malaga als auch in Dublin gelebt und einige Reisen zwischen den beiden Städten gemacht hatte.



Sie blieb stehen, als die Dufterinnerung sie erreichte. Der Duft war schwach, aber ein wenig beunruhigend, er stammte aus der Zeit, die die beste ihres Lebens gewesen war.



Sie hatte Bengt nicht davon erzählt. Er wusste nicht mehr, als dass sie zunächst als Au-pair in England gelebt hatte und dann mit ihrer dortigen Gastfamilie nach Irland gezogen war, denn die Ehefrau war Irin gewesen. Im Sommer hatte sie mit der Familie in den Urlaub nach Spanien fahren dürfen. Daran war nichts Falsches. Aber sie hatte auch einige Reisen auf eigene Faust unternommen, zu dem jungen Mann, den sie in Dublin kennen gelernt hatte. Vor langer Zeit. Der Duft führte sie in diese Zeit zurück, und für einen Augenblick befand sie sich in einer anderen Straße.



Dann war sie wieder in der Klarabergsgata in Stockholm nach dem heftigen Regenschauer, einem von den zahlreichen in diesem merkwürdigen Regensommer.



Birgitta hatte auf dem Heimweg von der Arbeit Schnaps und Starkbier gekauft. Die Tüte aus dem Spirituosengeschäft lag in der Einkaufstasche zusammen mit Schweinefilet, Tomaten und Zwiebeln. Sie warf einen Blick auf die Uhr der Klarakirche, als sie zum Hauptbahnhof eilte: Viertel nach vier, sie würde den Pendelzug um fünf vor halb nach Älvsjö bekommen, dann noch schnell unterwegs Zigaretten und die Abendzeitung holen, viertel nach fünf zu Hause sein und im besten Fall kurz nach sechs das Essen fertig haben.



Bengt wollte, dass das Essen fertig war, wenn er kam. Birgitta wollte ihn nicht enttäuschen.



Er kam von einer mehrtägigen Arbeit in Hallstavik zurück, er war länger dort geblieben und hatte Überstunden gemacht bei irgendetwas, das in einer Papierfabrik dort ausgebessert werden musste, irgendetwas Elektrischem. Er würde sicherlich müde sein, er würde Essen haben wollen und einige Schnäpse und Biere nach all der Arbeit. Birgitta hoffte, dass es gut für ihn gelaufen war und dass er alles geschafft hatte. Das hoffte sie wirklich.



Als sie auf dem Bahnsteig stand, roch sie wieder diesen säuerlichen Geruch. Aber jetzt gab es nichts in der Nähe, das den Ursprung des Geruchs erklären konnte. Sie begriff, dass er aus Irland war, es waren die Bäume, wenn es geregnet hatte, der Dampf von der feuchten Erde. Im Juli, so wie jetzt. Obwohl jetzt nichts so sein konnte, wie es damals war.



Birgitta wusste, dass der Duft eine Erinnerung war, und ihr fehlten die Worte, vielleicht nicht für das Erlebte, aber für den Duft.



Das

Aftonbladet

 war ausverkauft. Birgitta nahm den

Expressen

, sie hatte nie verstanden, was die beiden Zeitungen unterschied. Und sie kaufte eine Stange Kent mit Filter zum Sonderpreis, statt der grünen Marlboros, die sie und Bengt normalerweise rauchten. So sparte sie dreißig Kronen.



Um viertel nach sechs saßen sie am Tisch. Die Söhne saßen vollkommen still, als Birgitta Bengt von dem Filettopf auftat. Sie sah ihn an, hoffte, er würde etwas sagen. »Reicht das?«, fragte sie. Er nickte leicht, goss sich den ersten Schnaps ein, fragte nicht, ob sie auch wollte, weil er wusste, dass sie Hochprozentiges nicht mochte. Sie begnügte sich mit Bier, hätte Wein vorgezogen, wollte aber keine Umstände machen.



»Ich habe billige Zigaretten gekauft«, sagte sie.



Als er nicht antwortete, wusste sie, dass er schlecht gelaunt war.



»Dabei habe ich einiges gespart.«



Er kippte den Schnaps hinunter.



Birgitta tat den Söhnen Essen auf die Teller, eine große Portion für Ola, der immer hungrig war, und eine etwas kleinere für Per-Erik.



»Nicht so viel«, flüsterte er.



»Das ist doch gar nicht viel«, sagte Birgitta.



Bengt hob den Blick in Richtung des Jungen, der auf den Teller hinunter sah, als er begann, mit der Gabel in der Tomatensoße herumzustochern, die ein einsames Filetstück umgab.



Bengt goss sich den zweiten Schnaps ein.



Birgitta fühlte deutlich, dass ihr Mann missgelaunt war und überlegte, was der Grund sein konnte. Mochte er das Essen nicht, hatten die Jungs ihn geärgert? Sie kam nicht darauf.



Auch die Jungen spürten die gedrückte Stimmung. Sie sprachen nicht miteinander, wie sie es sonst taten, sahen hinunter auf ihre Teller, und nun fingen sie konzentriert an zu essen, als ob das Geräusch von kratzenden Gabeln und mahlenden Zähnen die Worte ersetzen konnte. Bengt erhob sich mit einem Seufzer. Er hatte nicht aufgegessen. Birgitta begriff, dass er ihr Essen nicht mochte, obwohl sie den Filettopf genau wie sonst gekocht hatte.



»Bist du müde?«, versuchte sie es.



»Ich gehe raus und hole Zigaretten«, antwortete er.



Er klang verlegen, und vielleicht gab es da auch einen schwachen Unterton, von dem sie gelernt hatte, ihn wieder zu erkennen: etwas beleidigt, das zurückgehaltene Selbstmitleid des gekränkten Mannes.



Jetzt wusste Birgitta Bescheid, und sie fühlte Unruhe. Trotzdem wurde der Abend ruhig. Bengt trank seine Biere, und sie sahen Fernsehen, eine amerikanische Komödie mit Dolly Parton. Sie gingen vor Mitternacht zu Bett.



Birgitta wusste, wie er es haben wollte. Sie legte sich auf den Rücken, nahm ihn entgegen, half ihm hinein. Als er eingeschlafen war, fühlte sie mit der Hand nach und bemerkte, dass er nicht gekommen war.



Sie lag ziemlich lange wach und hörte, wie er schnarchte. Ihre Unruhe war immer noch da. Sie schlief ein, als es hell wurde. Aber dann schlief sie tief und fest.



Er wachte zuerst auf, hatte einen trockenen Mund und wandte sich zu ihr, hörte ihre tiefen, ruhigen Atemzüge und dachte, dass sie morgens immer so unglaublich tief zu schlafen pflegte.



Nein, vielleicht nicht immer, aber meistens tat sie das.



Er fühlte Zorn in sich aufwallen. Sie war immer so verdammt unbeschwert, so irgendwie unbeteiligt, so unempfänglich für seine Gedanken, sie kümmerte sich nicht darum, was er tun wollte.



Sie hätte ihn fragen können, aber das tat sie nicht.



Sie könnte sich ein wenig bemühen, aber das tat sie nicht, sie könnte ein wenig helfen, es gab Frauen, die das taten, die ihren Männern ein wenig halfen.



Er zog die Decke mit sich, als er aus dem Bett stieg. Ihre Beine lagen weiß und bloß, das Nachthemd war hoch gerutscht, der Schoß war entblößt, das schwarze Haar glänzte ein wenig. Er verstand nicht, warum es glänzte, er empfand es wie blanken Hohn, so als ob sie das bekommen hatte, was er ihr nicht gegeben hatte.



Sie lag auf dem Rücken, die Beine etwas gespreizt, das eine ein wenig angezogen. Nun zog sie es noch etwas mehr an die Seite, fast als würde sie sich jemandem öffnen, im Schlaf. Er zog vorsichtig die ganze Decke von ihr herunter.



Dann ging er hinaus in die Küche. Er schloss leise die Tür hinter sich, ging zur Toilette und pinkelte, kehrte in die Küche zurück und sah, dass die Uhr über dem Herd zwanzig vor sieben anzeigte.



Die Söhne schliefen noch. Er ging in ihr Zimmer, stellte sich ans Fenster und wartete kurz.



Nach zehn Sekunden ließ er das Rollo mit einem Schlag hoch sausen, öffnete das Fenster und wandte sich zu den beiden Betten. Er wartete kurz, gab den Jungen eine Chance ›guten Morgen‹ zu sagen. Als er nichts hörte, ging er zu Per-Eriks Bett und zog die Decke fort. Dann wandte er sich Olas Bett zu und tat dasselbe.



»Auf, auf!«, sagte er.



Die Jungen standen sofort auf. Er nickte ihnen zu, hörte sie ›guten Morgen‹ murmeln. Im Normalfall hätte er eine höflichere Begrüßung verlangt, doch jetzt machte er eine Bewegung in Richtung Küche. Sie folgten ihm durch die Tür.



Dort warteten sie einen Augeblick, er hielt den Finger vor den Mund zum Zeichen, dass sie still sein sollten. Die Söhne nickten. Er nickte zurück. Es war, als ob sie alle zusammen die Mutter der Jungen überraschen sollten, als ob es ihr Geburtstag sei.



Jetzt soll sie etwas erleben, dachte er.



Er öffnete die Tür vorsichtig. Birgitta schlief immer noch, und sie lag immer noch so da mit gespreizten Beinen.

 



»Kommt rein«, flüsterte er den Jungen zu.



Sie sahen ihre Mutter, standen wie versteinert da und guckten sie an. Dann wandte der zehnjährige Ola den Blick ab und tat einen Schritt rückwärts, sein sechsjähriger Bruder stand noch immer da.



Bengt nahm Ola bei den Schultern, drehte ihn der Mutter im Bett zu.



»Guckt, so sieht sie aus, eure Mutter«, sagte er mit lauter Stimme. »Guckt, wie sie da liegt und sich rekelt.«



Ola versuchte sich abzuwenden. Jetzt lachte Bengt laut, zeigte auf Birgitta und schüttelte den Kopf.



Da wachte Birgitta auf. Sie suchte nach der Decke, fand sie aber nicht, da sie auf dem Boden lag. Sie zog hastig ihr Nachthemd herunter und setzte sich im Bett auf.



»Eure Mutter!«, lachte Bengt und verließ das Schlafzimmer.



Ola folgte seinem Vater. Der Sechsjährige blieb stehen. Birgitta stieg aus dem Bett, ging zu dem Jungen und umarmte ihn.



»Papa macht nur Spaß«, flüsterte sie. »Er meint das nicht böse.«



Aber sie wusste, dass das, was sie ihrem jüngsten Sohn zuflüsterte, nicht stimmte. Trotzdem wiederholte sie ihre Worte, weil sie wusste, dass sie das Einzige waren, das sie sagen konnte.





2.



Es war immer noch Hochsommer, trotzdem waren die Nächte dunkel in dieser Woche. Dicke Regenwolken bedeckten den Himmel, keine Sterne waren zu sehen, es schien kein Mond über Älvsjö.



Alles war ungewöhnlich still. Vielleicht war es die Ruhe vor dem Auguststurm, die Wochen vor dem Schulanfang. Es war die Zeit von zerschlagenen Fensterscheiben, von lauter Musik aus tragbaren CD-Playern an jeder Straßenecke, dem Treffpunkt für die Jugendlichen, die vorübergehend auseinandergetrieben wurden von besorgten Eltern auf der Jagd nach ihren zwölfjährigen Töchtern.



Dann und wann unterbrach das Geräusch von vorbeifahrenden Zügen die Stille, der kreischende Laut von blanken Metallrädern auf glatten Schienen, Älvsjös ewigem Wiegenlied: Ein später Zug aus Nynäshamn, ein Nachtzug auf dem Weg nach Kopenhagen, ein Güterzug aus Malmö. Diese Geräusche störten niemanden, nur wenn sie ausgeblieben wären, wäre vielleicht jemand aufgewacht.



Gegen zwei Uhr in dieser Nacht bellte ein Hund vor einem der Häuser im Törnrosväg, ein kleiner Hund. Jemand hörte das Gebell und sollte es später als durchdringend und ziemlich beharrlich beschreiben. Ganz sicher war das ein sehr kleiner Hund, das hörte man.



Die großen Hunde dominierten hier, aber es gab auch kleine Hunde in mehreren Häusern, einen Zwergpinscher, einen Spitz, einen glatthaarigen Dackel und einen schwarzen Papillon, der einer korpulenten Afrikanerin gehörte. Oder waren es ihre vielen, weiten Röcke, die einen Eindruck von Leibesfülle erweckten? Der Hund war auf jeden Fall sehr klein und zierlich.



Fürchtete sich der bellende Hund vor etwas, witterte er Gefahr?



Der Mann, der die Dachbodentür aufschob, brauchte keinen Schlüssel. Das Schloss war kaputt. Es gab Einbruchsspuren am Türrahmen, aber die waren alt, vielleicht ein Resultat wiederholter Einbruchsversuche.



Er benutzte die linke Hand. In der anderen hielt er ein dünnes Seil, das er in mehreren Schlaufen um das Handgelenk gewickelt hatte. Das andere Ende des Seils war festgeknotet, rund um den Hals eines liegenden Mannes. Der Körper dieses Mannes lag ausgestreckt auf dem Boden. Er hatte beide Hände am Hals, versuchte, einen der gekrümmten Finger unter das eng zugezogene Seil zu schieben, in einem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen.



Sein Gesicht war zerschunden. Die Nase war gebrochen, Blut rann aus dem Mund, die Vorderzähne im Oberkiefer waren ausgeschlagen. Der Liegende war schwer mitgenommen, er konnte nicht mehr aufstehen. Hätte er das gekonnt, hätte er sich vielleicht losreißen können. Aber er lag auf dem Boden, denn er war fast bewusstlos. Trotzdem wehrte er sich, so gut er noch konnte.



Der Mann, der das Seil hielt, schloss die Tür hinter sich. Dann wechselte er die Hand, hielt das Seil straff in der linken Hand, ergriff dessen Ende mit der rechten und warf es über einen der Dachbalken, zog das Ende wieder zu sich, zog mit beiden Händen daran und lehnte sich zurück.



Der Körper des liegenden Mannes folgte der Bewegung des Seils. Der Mann lag auf den Knien, die Hände am Seil um den Hals, dann erhob er sich, stand auf den Zehenspitzen, tastete dann mit diesen nach dem Boden, als sein Henker für einen kurzen Augenblick den Zug am Seil unterbrach.



»Du weißt, warum«, sagte der Mann, der über sein Leben bestimmte.



Aber der zum Tode Verurteilte antwortete nicht. Ein gurgelnder Laut kam aus seinem Hals.



»Du weißt, warum, du erinnerst dich daran, und du weißt es«, sagte der Mann, der das Seil hielt.



Aber der schwer Mitgenommene hörte es nicht. Er sah nicht mehr, wen er vor sich hatte.



Da spannte sich das Seil langsam. Der Mann, der sich entschieden hatte, keinerlei Mitleid zu zeigen, war schwerer als sein Opfer. Mit strampelnden Beinen wurde der Verurteilte hochgezogen, verlor den Bodenkontakt, zappelte weiter. Und die ganze Zeit spreizten sich die Finger krampfartig um die Halsschlinge. Die Nägel hatten Kratzspuren in der Haut hinterlassen, aber das Seil war stark. Er wurde nicht gehängt, sein Genick wurde ihm nicht gebrochen. Er wurde erdrosselt, langsam, es zuckte noch für einige Minuten schwach in einem seiner Beine, und dann war er tot.



Der Mann, der ihn auf dem Dachboden erdrosselt hatte, knotete das Seilende an eine Gittertür und ließ sein Opfer dort hängen.



Als der Mann fortging, bellte der kleine Hund. Der Mann blieb kurz vor der Tür stehen, bevor er hinausging. Jetzt war es nicht mehr ganz so dunkel.




3.



Ein leichter Nieselregen war über Älvsjö gekommen, früh am Vormittag. Jetzt war der Himmel nur noch teilweise mit Wolken bedeckt. Es würde vielleicht noch völlig aufklaren.



Verner Lindgren hatte das Geräusch eines Lastwagenmotors gehört, er nahm an, dass es wohl der Müllwagen war, der jede Woche an diesen Tagen zu kommen pflegte. Er hatte gerade geduscht, das kleine Fenster über der Badewanne geöffnet und die Abgase gerochen, ohne irgendein Auto zu sehen. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, das Auto hatte, für ihn unsichtbar, um die Ecke des Hauses gestanden.



Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ließ er das Handtuch auf dem Boden liegen, strich mit beiden Händen durch das feuchte Haar und ging vom Badezimmer in den Flur, hielt jedoch am Wandspiegel inne. Es ist alles weich und es hängt herunter, dachte er, als er sein Spiegelbild sah.



Er hatte das natürlich auch schon vorher gewusst, die Veränderungen waren langsam gekommen in den letzten Jahren, aber erst jetzt formulierte er den Vorgang, erst als Gedanken und dann in Worten.



»Das bin ich«, sagte er halblaut.



Er drehte sich ein wenig zur Seite, um sich besser betrachten zu können, befand, dass das, was er gesagt hatte, nicht stimmte.



»Das bist du«, sagte er und nickte dem Spiegelbild zu.



Aber auch das klang falsch. Er wusste nicht, wie er sich selbst anreden sollte, den Mann im Spiegel, die schwache Gestalt, die er vor sich hatte. Das war aus ihm geworden. Die Arme waren stark, die Schultern standen etwas vor, der Rücken war ein wenig krumm. Aber am Bauch hing alles, an den Hüften und darüber war alles fett und weich. Verner hob leicht den rechten Arm und betrachtete das weiße Fleisch unterhalb der Achsel. Dann folgte die gleiche Prozedur mit dem linken Arm. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber Gedanken machen sollte, wie er aussah. Vielleicht.



Früher hätte er es nie soweit kommen lassen, er hatte täglich trainiert, hatte seine Liegestütze schon morgens zu Hause gemacht und am Training am Arbeitsplatz teilgenommen. Zu jener Zeit war er stark gewesen, hatte 87 Kilo gewogen, nie zugenommen.



Zu jener Zeit, vor drei Jahren, vielleicht auch vor vier. Mittlerweile machte er sich fast gar keine Gedanken mehr über die Zeit, wollte von den Jahren nichts wissen.



Er zog sich an, trank eine Tasse Kaffee, aß ein Butterbrot mit Molkenkäse und nahm seine Medizin.



Eine halbe Stunde später saß er noch immer am Tisch. Die Tasse war leer, das halbe Butterbrot war noch da. Die braune Käsescheibe war hart und hatte muffig geschmeckt.



Verner versuchte den Tag zu planen. Er musste einige Sachen einkaufen, ein wenig spazieren gehen. Weiter kam er nicht. Das musste fürs Erste reichen.



Als er in den Flur ging, um sich eine Jacke anzuziehen, sah er sich wieder im Spiegel. Das Bild, das er jetzt antraf, war weniger abstoßend, aber das Gesicht war grau. Er dachte, dass das wohl an den Bartstoppeln lag. Er würde sich später rasieren.



Es lagen einige Werbeblätter vor der Tür und ein Versandkatalog. Verner hob ihn auf und sah, dass er Angebote für Werkzeug enthielt. Er blätterte darin, setzte sich auf den Stuhl neben dem Spiegel, betrachtete ein Bild von einer Bohrmaschine und versuchte sich zu erinnern, ob er jemals eine besessen hatte.



An diesem Tag rasierte er sich nicht. Als er mit den Supermarkteinkäufen von seinem Spaziergang zurückkam, legte er sich eine Weile aufs Bett.



Am Abend ging er hinaus. Er kam erst weit nach Mitternacht wieder nach Hause, trank ein Glas Wasser, nahm seine Pillen wie gewöhnlich und schlief nach einer Weile ein.



Gegen fünf wachte er mit einem starken Gefühl einer Bedrohung auf. Er konnte nur schwer atmen. Es war, als ob er geträumt hätte, aber er wusste, dass es kein Traum war, wusste, dass es etwas Reales war, das ihn bedrückte, etwas, das ihm neulich passiert und das noch nicht vorbei war. Er versuchte sich zu erinnern, es gelang ihm jedoch nicht, und das Gefühl von Gefahr und Schuld steigerte sich immer weiter.



Dies war eine Nacht, in der Tabletten wohl nicht helfen konnten. Verner hatte seiner medikamentösen Behandlung lange kritisch gegenüber gestanden, aber langsam gelernt, seine eigenen Einwände abzutun.



Es sollte jetzt eigentlich besser geworden sein.




4.



Stig fuhr in der Mittagspause nach Hause, um etwas zu essen. Er parkte das große Müllauto im Kristallväg in Solberga, war schon ausgestiegen und schon fast dabei aufzuschließen, als ihm einfiel, dass er das Handy in der Halterung am Armaturenbrett vergessen hatte. Er hätte es wohl auch dort lassen können, aber zur Sicherheit nahm er es doch mit.



Es konnte immerhin sein, dass er noch einen Anruf bekam, manchmal kam das vor, es gab mitunter Extratouren zu einem Restaurant oder irgendeinem Container, oder er musste einspringen, wenn sich jemand anderes krank gemeldet hatte. An solchen Tagen gehörten für gewöhnlich das Zentrum von Älvsjö, der Bahnhofsplatz und die Häuser um den Törnrosväg und Götalandsväg zu seinem Bezirk, mit Sperrmüll, Altpapier und dem üblichen Kleinkram. Absolut nichts, woran man noch etwas verdienen konnte. Die Sperrmüllhaufen wurden immer gründlich nach Sachen durchsucht, die man noch gebrauchen konnte. Diese neuen Leute nahmen alles, die Einwanderer aus all diesen Ländern, deren Namen man kaum kannte. Und die Ära des Pfandglases war vorbei. Früher hatten Stig und seine Kollegen immer eine eigene Tüte für Leergut im Fond des Wagens hängen gehabt. Das hatte oft ein nettes Zubrot ergeben.



Das gab es jetzt für etwas anderes: Mal einen Hunderter, mal einen Fünfzigkronenschein für einen Sack mit unbekanntem Abfall, einige Fuhren Krimskrams ohne irgendwelche Fragen. In manchen Wochen konnte sich Stig eine beträchtliche Summe schwarz dazu verdienen.



Stig fuhr allein.



Stig Anders Nilsson, geboren 1949 in Solberga. Er war niemals aus diesem Vorort weggezogen. Als er an der Pizzeria vorbeiging, traf er Acke Bergman, einen Jugendfreund, der nur selten nüchtern war. Früher hatten sie zusammen gesoffen, aber Stig lebte jetzt ohne Schnaps. Acke hatte damit nie aufgehört.



»Tag auch«, sagte Stig und hob die Hand.



»Du schuftest also wie üblich«, antwortete Acke. Mehr sagten sie nicht, das war auch nicht nötig. Beide wussten, dass keiner den anderen zu überreden versuchte, auf die eigene Seite zu wechseln.



Stig kochte ein Ei und füllte einen Teller mit Dickmilch, blätterte im

Aftonbladet

 von gestern, im Sportteil, freute sich, dass Hammarby wieder aufsteigen würde, Kennedy hatte Tore geschossen. Stig dachte, dass er vielleicht mal wieder zum Fußball gehen und eins der Heimspiele der Jungs anschauen sollte, wie er es früher getan hatte.



Nach einer halben Stunde ging er wieder hinaus zum Auto. Es hatte angefangen zu regnen, aber nicht stark, er wurde nicht einmal nass auf den Schultern, der Overall schützte doch ganz gut. Aber er spürte einige Regentropfen auf dem Kopf und wurde daran erinnert, dass sein Haar allmählich recht schütter geworden war.

 



Um zwei war er mit den Geschäften in der Innenstadt von Älvsjö fertig: Der

Konsum

, das Hotel, der Megagrill, das indische Restaurant, die italienische Bar, Ronjas Salon, das Bürgerbüro. Die meisten Müllplätze am Törnrosväg hatte er schon am Tag zuvor abgefahren, aber sechs, sieben Müllhaufen musste er noch abholen. Er begann am innersten Wendehammer: eine Menge Glassplitter auf dem Betonboden, zerknüllte Verpackungen, Folie, das Übliche, das von neu zugezogenen Familien zurückgelassen wurde, die bei IKEA eingekauft hatten. Das