Read the book: «Das brennende Meer»
Eriksson
Das brennende Meer
Erik Eriksson
Das brennende Meer
Liebe und Krieg
Band 1
(1799-1819)
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Else Ebel
© 2012 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des
Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Alle Rechte vorbehalten
Originaltitel: Det brinnande havet
Satz: Britta Gerloff
Umschlag: Thorsten Hartmann
unter Verwendung eines Fotos von www.istockphoto.com/LouisHiemstra
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-941895-15-7
I. EINE NEUE ZEIT
Der Sturm
Sie hatten mit einer steifen Brise aus Norden oder Nordosten gerechnet, aber das war an und für sich nichts Besonderes. Der Wind wehte häufig aus dieser Richtung, und sie segelten dann die ganze Strecke schräg gegen die unruhige See bis hin nach Signilskär. Sie wurden nass und sie mussten Wasser schöpfen, aber das hatten sie schon oft erlebt. Die Post musste ja ihren Bestimmungsort erreichen, raues Wetter durfte dabei kein Hindernis sein. Sturm war ein Grund für eine Verspätung, gewöhnliches Herbstwetter jedoch nicht.
Also machten sie sich auf den Weg, die vier Männer, die die Auslieferung der Post auf die Inseln besorgten; sie kamen aus Byholma am Åländischen Meer, ihr kleines Postboot, die Märla, war sechs Meter lang, hatte Sprietsegel und Fock, es war ein offenes Boot mit breiten Borden aus Kiefernholz, ohne schützendes Deck. Am 14. November 1799 ruderten sie bei Tagesanbruch aus dem Posthafen von Grisslehamn, ganz in der Nähe ihres Heimatdorfs. Am Himmel fanden sich keinerlei beunruhigende Zeichen, es klärte sich auf. Als sie Loskär außerhalb des Hafenbereichs erreicht hatten, hissten sie die Segel.
Sie kamen nur langsam voran, mussten etwas abfallen, der Nordwind hatte auf Nordost gedreht und drehte weiter. Nils Nygren, der Schiffsführer auf dem Boot, sagte zu seinen Kameraden, dass sie, so wie er die Sache einschätze, zwischen zwei Fahrtrouten wählen könnten. Entweder könnten sie gegen den Wind in Richtung Åland segeln und dann kreuzen oder im Windschutz auf der Landseite bis zur Poststation auf Eckerö rudern. Oder sie konnten einige lange Schwenker hinaus aufs Meer machen, zuerst nach Südosten und dann nach Nordwesten, um dann vom offenen Meer her nach Signilskär und Eckerö zu gelangen.
»Wir gewinnen Zeit, wenn wir aufs Meer hinaussegeln«, sagte einer der Männer im Boot. »Und wir haben das ja schon häufig gemacht«, bestätigte das älteste Besatzungsmitglied.
»Ich glaube, der Wind hat sich gelegt, und die Wolken sehen harmlos aus«, fügte der vierte Mann der Besatzung hinzu.
»Verstehe ich das richtig, wenn ich annehme, dass ihr alle aufs Meer hinauswollt?«, fragte Nils Nygren.
Die Männer nickten; Nils, der am Steuer saß, sagte nichts mehr, weil es nicht nötig war. Er blickte nach hinten, um festzustellen, wo seine Landmarken lagen: der Telegrafenmast auf dem Aussichtsberg oberhalb von Grisslehamn, die Kiefern auf Skatudden, die helle Landzunge von Loskär.
Dann wanderte sein Blick wieder auf das Meer hinaus. Dort gab es nichts, wonach man sich richten konnte, auf lange Sicht hin nicht. Aber er wusste, wo bald Land in Sicht kommen würde, flache graue Inseln, Felsenklippen, die kaum vom Wasser zu unterscheiden waren, dunkle Wolken für jemanden, der sich nicht auskannte, aber sichere Anhaltspunkte für diejenigen, die hier von Kindheit an gesegelt waren.
Nils Nygren war am Meer geboren. Er war Bauer und Fischer, vertraut mit Booten, und er war zuverlässig, war von seinen Nachbarn zum Schiffsführer auf dem Postboot gewählt worden.
Er war sich der Verantwortung bewusst, blieb an den Tagen vor den Seereisen nüchtern, sehr zum Erstaunen vieler Leute. Er beratschlagte gerne mit der Besatzung, fasste jedoch – wenn erforderlich – seine Beschlüsse allein. Auf See konnte immer etwas Unerwartetes eintreffen, und dann galten die Befehle des Schiffsführers.
Am Abend vor jeder Seereise ging Nils zum Strand hinunter und sah sich um, er blieb eine Weile dort stehen und beobachtete die Wolken. Gelegentlich überfiel ihn dabei ein gewisses Unbehagen, auch wenn der Wind beständig war und der Himmel Gutes versprach. Dieses unerklärliche Gefühl hielt dann meistens den ganzen Weg durch den Wald nach Hause an.
An solchen Abenden saß Nils eine Weile mit seinen Kindern Johanna und Lars zusammen, ehe sie zu Bett gingen. Seine Ehefrau Maria war mit anderen Dingen beschäftigt, er wollte mit seinem Sohn und mit seiner Tochter allein sein, ehe sie einschliefen.
Jetzt war wieder einer dieser Abende gewesen, an denen er zusammen mit seinen Kindern auf den Einbruch der Dunkelheit gewartet hatte. Sie hatten über die Dinge gesprochen, die sich im Laufe des Tages ereignet hatten, und sie hatten zusammen in der Bibel das Kapitel über die Arbeiter im Weinberg gelesen.
Dann brach der Morgen an und es wurde Abschied genommen. Als das Postboot draußen auf See war, dachte Nils an die Kinder, er sah sie vor sich und empfand Freude darüber, ehe er dieses Bild wieder aus seinem Kopf gleiten ließ.
Der Wind kam jetzt von Backbord. Wenn alles wie geplant lief, würden sie gegen den Wind segeln und gegen zehn Uhr vormittags drehen können. Nils besaß keine Uhr, aber er kannte die Tageszeiten und das Licht, er rechnete im Kopf, schätzte die Fahrtgeschwindigkeit, nahm an, dass sie gegen zwei oder spätestens drei Uhr in Signilskär sein müssten. Die Fahrt ging nun gut vonstatten, sie bekamen nur wenig Wasser ins Boot. Die Männer schöpften hin und wieder, die Fahrt war jedoch voll unter Kontrolle, die Seile, die den Mast abstützten, waren hart gespannt, die Wassertropfen spritzten von dem aufgeblähten Segel ab, aber das Tuch konnte viel aushalten, das wusste Nils.
Um halb zehn veränderte der Himmel seine Farbe, und das ging schnell. Die blauen Flecken zwischen den Wolken schienen nun pechschwarz, der Horizont wurde durch niedrige Regenwolken verwischt, der Wind nahm an Stärke zu, die Wellenkronen zischten weiß auf und ergossen sich in das Boot.
Als das Unwetter hereinbrach, hatte die Märla die Stelle erreicht, an der Nils Nygren in Richtung der kleinen åländischen Inseln bei Signilskär hatte abdrehen wollen. Er hatte begriffen, dass die Lage jetzt ernst geworden war, aber er war immer noch davon überzeugt, dass alles gut gehen würde; wenn nur der Wind seine Richtung beibehielt, dann konnte er sicher unter dem Wind segeln und hinter den Inseln Schutz finden, vielleicht sogar den Hafen von Signilskär erreichen.
Der Wind blies weiterhin aus nordöstlicher Richtung, es schien fast so, als ob er sich gegen Ost drehte, was den letzten Teil der Fahrt erschweren würde. Außerdem war der Wind böig und nahm ständig an Stärke zu, jetzt wurde es für die Männer schwierig, das Wasser, das über die lange Bootsreling hereinschwappte, hinauszubefördern. Sie schöpften, aber es nützte nichts. Sie waren völlig durchnässt, mühten sich mit den Schöpfkellen ab, schlugen sich die Knöchel blutig, aber nichts half gegen die schweren Brecher, die sich über das Boot ergossen.
Nils Nygren saß achtern auf der Ruderbank und hielt mit beiden Händen die Ruderpinne umfasst. Die kleine versiegelte Tasche mit der Post hatte er zwischen die Beine gestellt. Sie war mit einer Leine gesichert, damit die Brecher und die schlingernden Bewegungen sie nicht über Bord spülen konnten, trotzdem hatte Nils sie fest zwischen beide Knie geklemmt. Als der vordere Teil des Bootes unter eine mächtige Woge tauchte, presste Nils seinen ganzen Körper gegen die Posttasche. Und auch als das Boot gegen die donnernden Wassermassen nicht mehr ankam, behielt er die Tasche fest im Griff.
Es war fast ein Uhr. Der Sturm hielt den ganzen Tag und den Abend über an. Nach Mitternacht flaute er ab, und bei Tagesanbruch hatte sich das Meer wieder beruhigt.
Die Frauenklippe
Johanna wurde davon wach, dass jemand sie anstieß, wahrscheinlich der ältere Bruder ihrer Mutter, der aufgestanden war, um auf dem Hof seine Notdurft zu verrichten. Es war dunkel, aber sie erkannte die Hausbewohner, auch ohne hinzusehen, denn die Geräusche blieben sich gleich. Onkel Filip ging unsicher, er stolperte und brummelte vor sich hin, nachdem er sich mühsam von der Küchenbank hochgezogen hatte. Dann konnte sie das Plätschern hören, denn er hatte die Tür offen gelassen und stand direkt draußen davor. Es klang, als ob das Pferd in den Schnee platschte, dasselbe hohle Geräusch und derselbe scharfe Geruch.
Als Filip zurück in die Küche kam, brachte er den Geruch mit herein. Er legte sich wieder hin, und Johanna rückte näher zur Wand hin, denn sie wollte sich möglichst weit von ihm entfernen. Aber die schmale Wandbank, auf der sie schlief, stand direkt neben seiner Schlafbank. Wenn er den Arm ausstreckte, konnte er sie erreichen, und manchmal tat er das mitten in der Nacht.
Johannas Eltern schliefen zusammen mit dem kleinen Bruder in der Kammer neben der Küche. Die anderen schliefen in der Küche, die beiden Brüder ihrer Mutter, die alte Mutter ihres Vaters und Johanna selbst. Es kam manchmal vor, dass irgendein Tagelöhner über Nacht blieb, oder jemand, der mit dem Postboot mitfahren wollte, und auch diese Besucher schliefen dann in der Küche, denn dort gab der Herd Wärme.
Jetzt war es spät im Herbst, und der Morgen war lang und dunkel. Johanna war während der Nacht aufgewacht und hatte auf den Sturm gehorcht, doch der hatte jetzt nachgelassen, und Johanna war erleichtert, da ihr Vater ja mit dem Postboot unterwegs war. Er wurde am Vormittag zurückerwartet, dann würde es wieder einen Monat dauern, bis er das nächste Mal hinaus musste.
Manchmal herrschte eine unruhige Stimmung, wenn er aufbrechen musste. Vater selbst zeigte sich nie beunruhigt. Johanna war sicher, dass er sich nie vor irgendetwas fürchtete. Nein, diejenige, die ängstlich war, war Johannas Mutter Maria. Sie sagte zwar nichts, aber Johanna spürte die gedrückte Stimmung. Ein einziges Mal hatten sie darüber gesprochen, und da hatte Maria zu ihrer Tochter gesagt, dass diese Unruhe die ewige Bürde der Frauen sei.
»Wir sind es, die warten und wachen müssen«, hatte Maria gesagt. »Wir Frauen haben das im Blut, wir, die wir zuhause bleiben, während die Männer ausfahren.«
Johanna hatte ihre Mutter nicht gefragt, was sie eigentlich damit meinte. Sie konnte nicht mit Worten ausdrücken, was sie dachte, aber sie fühlte, dass ihr Vertrauen entgegengebracht worden war, ihre Mutter hatte mit ihr gesprochen wie mit einer erwachsenen Frau, obwohl sie nur ein kleines Mädchen war. Damals war es zeitig im Frühjahr gewesen, das Eis auf dem Meer war noch nicht richtig aufgebrochen, und das Postboot hatte sich um mehrere Tage verspätet. Jetzt war wieder so eine unruhige Zeit.
Das erste graue Tageslicht drang durch das Fenster neben Johannas Schlafbank. Als sie die Schritte ihrer Mutter in der Küche hörte, drehte sie sich um, setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Onkel Filip schnarchte laut nebenan auf seiner Küchenbank.
Johanna stand auf, zog sich die Strümpfe, die Strickjacke und den Rock an. Ihre Mutter hatte inzwischen Feuer im Herd entfacht, die kleinen Stücke Birkenrinde, die Maria in die Glut gesteckt hatte, die vom Abend vorher noch da war, hatten schon Feuer gefangen.
»Der Wind hat sich gelegt«, murmelte sie, als sich Johanna neben sie hockte.
»Vater kommt wohl bald?«, fragte Johanna.
»Bestimmt kommt er bald«, antwortete Maria. »Würdest du bitte Wasser holen.«
Es war ein freundlicher Befehl, keine Frage. Johanna erhob sich sofort und ging hinaus. Sie blieb einen Augenblick stehen, atmete tief ein, betrachtete das graue Tageslicht, das durch die Espen, die ihr Laub verloren hatten, auf den Hofplatz fiel. Man konnte die Wellen vom Strand her hören, aber das war immer so gewesen, das Meer lag direkt hinter dem Gehölz, das Sausen der Kiefernwipfel und das Brausen der Wellen gegen die Felsen und Kiesstrände waren der ewige Gesang der Küste. Johanna achtete nicht auf diese ständige Musik. Wenn sie plötzlich verstummt wäre, vielleicht wäre ihr die Stille dann aufgefallen.
Nachdem sie zu Mittag gegessen hatten, kam die Sonne heraus. Johannas Großmutter Magdalena hatte ein Tischgebet gesprochen, das niemand von ihnen kannte, vielleicht hatte sie es selbst gemacht. Sie murmelte, als sie es sprach, aber Johanna verstand Wörter wie Trost, Gnade und Boot. Vielleicht handelte das Gebet von Seeleuten, Johanna meinte es zu verstehen.
Nachdem sie abgeräumt und die Teller abgewaschen hatten, wusste Johanna, dass die Mutter jetzt sagen würde, dass sie nun dem Vater entgegen gehen sollten, zu sehen, ob er gekommen sei, irgend so etwas. Sie fühlte, es war unvermeidlich.
»Willst du mitkommen?«, fragte Maria, als sie begann, sich ihren Schal um den Kopf zu binden. Johanna hatte sich schon angezogen. Sie lächelte ihrer Mutter zu, sagte jedoch nichts.
Sie gingen auf einem alten ausgetretenen Pfad durch den Wald nach Skatudden. Sie hielten sich im Schutz des niedrigen Strandwaldes, der Pfad schlängelte sich zwischen verkrüppelten Kiefern und Wacholderbüschen hindurch. Sie gaben einen guten Schutz ab gegen den starken Wind und das Schneetreiben während des Winters, wenn jemand die Anhöhe bei Skatudden aufsuchen und aufs Meer hinausschauen wollte. Die Postboote fuhren ja auch dann, wenn das Eis dünn war, wenn es lag, aber noch nicht trug. Trug es, wurden die Posttouren mit dem Schlitten gemacht, die Post musste immer ausgeliefert werden, es gab immer jemanden, der wartete, sich Sorgen machte, Ausschau hielt und nach Osten blickte. Skatudden war die Klippe der besorgten Frauen am Åländischen Meer.
Nach dem stürmischen Tag war der Himmel im Osten jetzt hell, die Sicht war gut, die Wellen hatten runde Kämme, der Wind hatte sich gelegt.
Maria und Johanna standen eine ganze Weile schweigend nebeneinander oben auf Skatudden. Sie konnten das Land auf der anderen Seite erahnen, einen dünnen abgebrochenen Landstreifen am Horizont, einzelne Inseln, ein großes Segelschiff weit im Südosten.
Sie hielten jedoch Ausschau nach einem kleinen Boot, einem unauffälligen Segel, einem Punkt auf der unendlichen Meeresfläche. Langsam ließ Johanna ihre Blicke am Horizont entlanggleiten, sie ließ sich Zeit, sie glich ihrer Mutter, ließ ihre Augen jeden Meeresmeter absuchen, jede noch so entfernte Welle, sie näherte ihren Blick dem Land, teilte das Meer in kleine Stücke, suchte, ohne zu finden.
Sie begann noch einmal von vorn. Aber sie fand kein kleines Boot. Trotzdem wollte sie nicht aufgeben.
»Wir sollten uns vielleicht im Posthaus in Grisslehamn erkundigen«, sagte Maria.
Johanna war noch nie im Posthaus gewesen. Es war ein großes und schönes Gebäude, hatte zwei Stockwerke, ein Mansardendach, eine hohe Steintreppe vor der Haustür, viele Räume. Es war wie ein Schloss. In den Märchen gab es Schlösser, das wusste Johanna, dieses Haus hier glich einem Schloss, so wie sie es sich vorstellte.
Sie gingen durch die Gartentür und bogen dann zum linken Flügel hin ab, der Waschhaus genannt wurde. Dort drinnen schien irgendeine Arbeit ausgeführt zu werden, man hörte scharrende Geräusche, so als ob etwas über den Boden rutschte.
Maria klopfte, aber niemand antwortete. Sie klopfte noch einmal, und als auch diesmal keine Antwort erfolgte, schob sie die Tür auf und schaute hinein. Ein Mann in einer dunkelblauen Uniformjacke und eine Frau in einem gestreiften Rock schoben einen großen Waschbottich über den Boden, sie wurden von dieser Tätigkeit voll in Anspruch genommen.
»Guten Tag, Entschuldigung«, rief Maria.
Der Mann blickte auf, nickte und setzte seine Arbeit fort. Maria wartete, Johanna war draußen vor der Tür stehen geblieben. Endlich schien der Bottich an seinem Platz zu sein, denn sowohl der Mann als auch die Frau blickten Maria an.
»Ich bin Maria vom Hof Nygården«, sagte sie, »mein Mann ist Nils Nygren, der erste Mann auf dem Postboot.«
»Ah ja, dann weiß ich«, sagte der Mann.
»Wir kennen uns ja«, sagte die Frau in dem gestreiften Rock.
»Ja, natürlich, du bist doch Birgitta Olsdotter aus Tomta?«
»Das ist richtig, ich arbeite jetzt hier, meistens in der Küche, aber ich verrichte auch einen Teil anderer Arbeiten wie die Wäsche hier. Wir haben gerade einen neuen Waschbottich aufgestellt, das war ziemlich schwer, aber Sigurd ist stark.«
Sie lächelte dem Mann in der blauen Jacke zu, und er lächelte zurück, es war ein kurzes, schiefes Lächeln. Johanna fand, dass er etwas verlegen aussah, so wie der jüngere der beiden Brüder ihrer Mutter aussehen konnte, wenn er gelobt wurde.
»Wir kommen, um nachzufragen, ob man etwas von dem Postboot gehört hat«, sagte Maria.
»Am besten sprichst du mit dem Postmeister«, antwortete Birgitta. »Geht in den Flur und klopft dort an die rechte Tür«.
»Kann ich das denn einfach tun, störe ich nicht?«, fragte Maria.
»Nein, das ist ja dienstlich, dein Mann ist ja Postmann, frag nur.«
Maria tat, was ihr gesagt worden war, doch sie klopfte sehr zögernd an die Tür.
Sie kamen in ein großes helles Zimmer mit hoher Decke. Johanna bemerkte einen grünen Kachelofen, ein mit Büchern gefülltes Regal, Stühle mit geschwungenen Beinen, Kerzenleuchter. Sie hätte sich alle diese seltsamen Dinge gerne länger angeschaut, aber dazu war keine Zeit, denn der grauhaarige Mann, der Postmeister genannt wurde, erhob sich von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Er ging auf Maria zu, gab ihr die Hand und machte eine ganz leichte Verbeugung, gab dann auch Johanna die Hand. Maria machte einen Knicks, Johanna tat es ihr nach.
»Ich verstehe euer Anliegen«, sagte er und sah jetzt sehr ernst aus.
»Weiß man etwas über das Boot?«, wollte Maria wissen. »Wir haben heute Vormittag eine Nachricht über die Telegrafenstation erhalten«, antwortete der Postmeister. »Eine Nachricht … ja, heute Vormittag ist das gewesen.«
Der grauhaarige alte Mann nickte, runzelte die Stirn, offenbar versuchte er zu verbergen, dass er gerade im Begriff war, etwas zu sagen, sich jedoch mitten im Satz eines anderen besonnen hatte.
»Wir warten noch auf weitere Information«, sagte er.
»Ja, dann danken wir.«
Der Postmeister reichte Maria wieder die Hand und betrachtete dann Johanna mit einem traurigen Lächeln.
»Mein kleines Mädchen«, murmelte er.
Er begleitete seine beiden Gäste in den Flur hinaus, öffnete die Haustür, stand einen Augenblick da, ehe er sie wieder zumachte.
Als Maria und Johanna über den Hofplatz gingen, wurden sie von Birgitta Olsdotter eingeholt.
»Habt ihr etwas erfahren?«, wollte sie wissen.
»Nein, wir kommen heute Abend oder morgen Vormittag wieder«, antwortete Maria.
»Wenn du willst, kann das Mädchen hierbleiben und warten«, schlug Birgitta vor. »Ich kümmere mich unterdessen um sie.«
Gottvertrauen
Johanna saß auf der Holzbank drinnen im Waschhaus. Unter dem Waschkessel brannte das Feuer, ein kleiner, rußiger Wasserkessel mit Deckel und Pfeife stand auf einem Dreifuß und wurde von der Glut der kleinen Feuerstelle in der Kaminwand erwärmt. Birgitta stand hinter dem Waschtrog, der Dampf wärmte, kräuselte aber zugleich auch ihre Haare, auf ihrer Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet.
»Wir machen uns jetzt eine Tasse Kaffee, das haben wir verdient, nicht wahr«, flüsterte sie.
Johanna lächelte, doch sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hatte noch nie Kaffee getrunken und konnte sich nicht richtig entscheiden, ob sie dieses seltsame Getränk, von dem sie schon gehört hatte, mögen würde.
»Du trinkst doch Kaffee!?«, flüsterte Birgitta.
»Ja, danke«, antwortete Johanna.
»Mit Zucker«, sagte Birgitta.
Sie öffnete einen Wandschrank hinter der Waschbütte, nahm zwei etwas angeschlagene Tassen heraus, ein kleines Papierpäckchen und einen Löffel. Sie legte das Päckchen neben Johanna auf die Bank und wickelte es aus. Es enthielt eine flache Dose und ein Stück Zucker. Birgitta öffnete die Dose und hielt sie Johanna hin.
»Riech mal«, flüsterte sie.
Johanna schaute in die Dose und sah dort etwas, das sie an zusammengeklebte kleine schwarze Graupen erinnerte. Sie sog vorsichtig die Luft ein. Der Duft war stark, er stach ihr in die Nase, und sie zog den Kopf wieder ein wenig zurück.
»Siehst du«, sagte Birgitta, »das ist wie ein kleines Abenteuer, gefährlich und herrlich zugleich.«
Johanna nickte, sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Das hier bleibt unter uns beiden«, murmelte Birgitta.
Johanna nickte wieder. Birgitta begann, den Kaffee zu kochen. Vorsichtig schüttete sie einen Teil der schwarzen Körner in den Kessel, schob die Glut mit dem Feuerhaken etwas zusammen und setzte den Kessel auf den Dreifuß über dem kleinen Gluthaufen.
»Es gab eine Zeit, als uns die Herren in Stockholm verboten hatten, Kaffee zu trinken«, flüsterte Birgitta. »Reuterholms Spione konnten kommen und den, der Kaffee kochte, gefangen nehmen.«
»Verboten, warum denn?«, wollte Johanna wissen, und jetzt flüsterte sie ebenfalls.
»Keine Ahnung«, sagte Birgitta. »Die denken sich alles Mögliche aus, aber man muss gehorchen, auch heutzutage gibt es Polizisten und Spione. Dieser Reuterholm soll verschwunden sein, aber der neue König ist auch nicht so leicht zu verstehen. Man spricht auch von einem neuen Kaffeeverbot, aber darum kümmern wir uns nicht. Die Hausfrau hier trinkt auch Kaffee, wenn es keiner sieht.«
Das Wasser kochte. Birgitta nahm den Kessel herunter, gab ein paar Tropfen kaltes Wasser hinzu, ehe sie eingoss. Dann nahm sie das kleine Zuckerstück, wickelte es in ein Stück Stoff und zerstieß es mit dem Stiel eines hölzernen Löffels, wickelte das Tuch wieder aus und sammelte den zerstoßenen Zucker in ihrer hohlen Hand.
»Hier, nimm das, er wird dann nicht zu bitter«, sagte sie und schüttete die Hälfte des Zuckers in Johannas Tasse. »Und trink vorsichtig, verbrenn dich nicht, puste.«
Johanna wartete, bis Birgitta getrunken hatte, dann machte sie es genauso, schlürfte und schluckte. Der Kaffee war stark und bitter und kratzte im Hals.
»Riech, mach die Augen zu und trink langsam«, sagte Birgitta. Sie hatte aufgehört zu flüstern. Vielleicht hatte der Kaffee ihre Vorsicht verjagt.
»Merkwürdig«, murmelte Johanna.
»Was ist merkwürdig?«
»Es zieht in den Kopf, mir wird irgendwie schwindelig.«
»Genau, es wird einem ein bisschen leicht zumute von dem Duft. Wir Frauen können das Vergnügen genießen, die Männer verstehen nichts vom Kaffee, sie saufen stattdessen ihren elenden Branntwein.«
Johanna hatte nur an dem Kaffee genippt. Die Tasse war nicht groß, trotzdem hatte sie die Hälfte noch übrig. Sie nahm noch einen kleinen Schluck. Sie hatte gesehen, dass Birgitta hin und wieder mit dem Löffel in ihrer Tasse rührte. Jetzt tat sie das ebenfalls. Sie erwischte ein Stückchen Zucker am Boden der Tasse, das sich nicht aufgelöst hatte. Nachdem sie es verrührt hatte, schmeckte der Kaffee weniger bitter.
Wir Frauen, hatte Birgitta gesagt.
»Hast du noch irgendetwas von dem Boot gehört?«, fragte Johanna.
»Ja, vielleicht.«
»Und was hast du gehört, Birgitta?«
»Dass die Leute ein gekentertes Boot gesehen haben.«
»Wo denn?«
»Vor Signilskär, sie haben es von der Telegrafenstation aus gesehen, da haben sie ja Feldstecher. Sie haben gesehen, dass das Boot voll Wasser im Meer herumtrieb, aber Menschen haben sie nicht gesehen.«
»War es das Postboot, das sie gesehen haben, waren sie sich dessen sicher?«
»Ja, sie haben gesagt, dass sie sicher seien.«
»Aber keine Menschen?«
»Nein, das Boot war voll Wasser und ohne Besatzung.«
»Sie sind bestimmt irgendwo bei einer Insel an Land geschwommen, sie sind sicher davongekommen, Vater ist ein guter Schwimmer, das habe ich selbst gesehen.«
Birgitta schlug die Augen nieder und saß eine Weile schweigend da.
»Ja, so ist es wohl gewesen«, sagte sie. »Sie sind irgendwo an Land geschwommen und kommen bald zurück.«
Als Johanna über den Hofplatz vor dem Posthaus ging, war sie davon überzeugt, dass ihr Vater es geschafft hatte. Und als sie an der kleinen Holzbrücke an dem Graben, der zur Sköthusbucht führte, angelangt war, blieb sie einen Augenblick stehen, lehnte sich an das Brückengeländer und blickte hinunter auf die schwarze Wasserfläche und hin zu den alten Schuppen, in denen einige der Bauern aus dem südlichen Teil von Grisslehamn ihre Boote liegen hatten. Es sah friedlich aus, alles wirkte geordnet und unbeschwert.
Sie hatte den halben Weg nach Byholma zurückgelegt, als sie bemerkte, dass ihr jemand über den Acker rechts von Västergården entgegenkam. Es war dunkel, aber sie glaubte, denjenigen, der da herankam, an seinem Gang erkennen zu können. Sie verlangsamte ihre Schritte und ließ den vorläufig noch Unbekannten näher kommen. Als er noch ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war, sah sie, dass es Ruben war, der jüngere der beiden Brüder ihrer Mutter.
»Hast du etwas erfahren?«, fragte er.
»Man hat das Boot gesehen«, antwortete Johanna. »Die Männer sind noch nicht da, wahrscheinlich sind sie zu einer der Inseln in der Nähe von Signilskär geschwommen.«
»Lass uns hoffen und glauben«, sagte Ruben.
Mehr wurde zunächst nicht gesagt. Ruben ging langsamer, sie gingen nebeneinander auf dem dunklen Weg.
»Wie am See Genezareth«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Als Jesus den Sturm sich legen hieß und über das Wasser ging. Alles ist für uns möglich, wenn wir nur glauben.«
»Und als er tausenden von Menschen Speise gab, das war auch am See von Genezareth«, sagte Johanna.
»Gottvertrauen«, sagte Ruben, »handelt von Überzeugung und von der Hoffnung, die nicht stirbt. Auch die Jünger waren ja Fischer.«
»Ich weiß, dass er lebt«, sagte Johanna.
»Wir können heute Abend ein wenig lesen, wenn du willst.«
»Ja, das können wir.«
Ruben hatte Johanna das Lesen gelehrt. Die Bibel war ihr erstes Lesebuch gewesen. Sie hatten jedoch nur im Neuen Testament gelesen und meist über das, was sich am See Genezareth zugetragen hatte. Sie erkannten sich selbst wieder in den Geschichten über Boote und Fischerei, die einfachen Menschen, die täglichen Einschränkungen, das war ihr eigenes Leben.
Als Johanna und Ruben nach Hause kamen, hatten die Hofleute schon zu Abend gegessen. Maria stellte Brot und Milch für die Tochter heraus, setzte sich mit ihr vor den Herd, wo das Feuer glühte und wo ein geteerter Span brannte und etwas Licht in der Küche verbreitete.
Johanna wiederholte, was sie schon mehrfach erzählt hatte. Ihr Vater war an Land geschwommen, hatte sich auf eine der Inseln gerettet, es war nur eine Frage der Zeit, bis man im Posthaus benachrichtigt wurde. Sie war sich ihrer Sache ganz sicher, sie berichtete mit Überzeugung, und ihre Mutter glaubte, dass die Rettung sogar auf irgendeine Weise bezeugt worden war, dass Johanna etwas erfahren hatte, was Anlass zu Hoffnung gab. Das mit Wasser vollgelaufene Postboot geriet in den Hintergrund, das, was eigentlich eine Bestätigung für das Unglück war, wurde jetzt eher zu einem Beweis dafür, dass es den Männern wirklich gelungen war, sich zu retten. Das Boot war ja leer, also musste sich die Besatzung irgendwo anders befinden.
Am Abend lasen Ruben und Johanna aus dem Matthäusevangelium vor, über die Wunder am See von Galiläa. Sie wechselten sich im Vorlesen ab, die Übrigen in der Küche hörten zu.
Es war dunkel im Haus, aber Maria hatte Holz in das Feuer im Herd gelegt, und die Flamme erhellte den Raum. Johanna saß mit der Bibel direkt neben dem Herd, sie ließ die zuckenden Flammen auf die geöffneten Buchseiten fallen. Sie las langsam, betonte Silbe für Silbe.
»Als Jesus am Ufer des Sees von Ga-li-lä-a entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder, wie sie das Netz in den See warfen; sie waren nämlich Fischer.«
Als Johanna fertig war, saß sie eine Weile schweigend da. Der ältere der beiden Brüder ihrer Mutter, Filip, war eingeschlafen; er schnarchte leise vor sich hin, er hatte Branntwein getrunken. Das tat er jeden Tag. Auch Ruben trank, aber er wurde dann lustig und sang Lieder. Wenn Filip trank, wurde er böse und müde. Johanna ging ihm lieber aus dem Weg, wenn der Vater nicht zuhause war. Es war natürlich der Vater, der auf dem Hof Nygården das Sagen hatte, die unverheirateten Brüder der Mutter waren als Tagelöhner gekommen, wurden jedoch Familienmitglieder, als ihre Schwester in den Hof einheiratete.
Jetzt schnarchte Filip auf seiner Schlafbank, er lag mit offenem Mund auf dem Rücken. Er seufzte ein paar Mal tief auf, wischte sich mit der Hand über den Mund, ohne aufzuwachen, drehte sich auf die Seite und wurde ein wenig leiser.
»Wie groß ist der See Genezareth?«, fragte Johanna. »Ist er so wie das Åländische Meer?«
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Ruben, vielleicht ist er kleiner, denn es ist ja ein See.
»Aber Jesus ist jedenfalls quer darübergegangen«, sagte die Großmutter.
»Vielleicht nicht ganz drüber«, sagte Ruben.
»Er machte, was er wollte, der See war für ihn kein Hindernis. Aber auch die Russen haben sich von dem Meer nicht abhalten lassen, als sie herübergekommen sind«, meinte die Großmutter.
»Das war wohl etwas anderes«, sagte Maria.
»Warum hat Gott die Russen nicht daran gehindert«, sagte die Großmutter. »Für Gott ist doch alles möglich, und trotzdem konnten die Russen herkommen und hier alles verwüsten, ganz Singö haben sie brachgelegt, diese Gottlosen. Ich weiß es, denn meine eigene Mutter war dabei, als sie ein kleines Mädchen war.«
»Was haben die Russen denn mit ihr gemacht?«, wollte Johanna wissen.
»Sie musste zusehen, wie sie die Höfe niedergebrannt und alle Tiere geschlachtet haben, auf Singö stand kein einziges Haus mehr. Sie haben den Leuten die Kleider vom Leib gerissen, so dass sie mitten im Winter völlig nackt im Wald leben mussten. Das ist passiert, nachdem König Karl gestorben war, und es kann wieder passieren. Kürzlich erst standen wir mit den Russen im Krieg, und sie werden sich sicher dafür rächen wollen, dass König Gustav ihre Kriegsschiffe zerschossen hat.«