Read the book: «Bleierne Schatten»
Eriksson
Bleierne Schatten
Erik Eriksson
Bleierne Schatten
Kriminalroman
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Nicola Jordan
© 2011 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung
des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Alle Rechte vorbehalten
Originaltitel: Järnskuggan
Übersetzung aus dem Schwedischen: Nicola Jordan
Satz: Monsenstein und Vannerdat
Umschlag: Tom van Endert
unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.de/ruanorosa
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-941895-10-2
UND DIE UHR SCHLUG
1.
Marika hatte Sara geraten, das Geld vorher zu verlangen, sonst könnte er sie reinlegen.
Trotzdem vergaß sie es, aber es war ja auch das erste Mal. Der Kerl hatte abends angerufen, als Sara in ihrem Zimmer saß. Er sagte, dass er ihre Nummer von Marika bekommen hätte, und dass sie sich ein bisschen Geld verdienen könne, wenn sie zu ihm nach Hause käme. Er wohnte im Klackaväg in Solberga.
»Dreihundert«, hatte Sara gesagt, und er hatte geantwortet, dass das okay sei.
Sara wusste, wo er wohnte. Als sie und Marika einmal an dem Haus vorbeigingen, hatte Marika davon erzählt. Doch, es wäre schon eklig, aber eine einfache Art, Geld zu verdienen.
Sara ging an einem Dienstag nach der Schule hin. Er bat sie, sich neben ihn aufs Sofa zu setzen. Sie brauchte sich nicht auszuziehen, das wollte er nicht, oder jedenfalls sagte er nichts davon. Das war gut, denn sie hatte sich vorher Sorgen deswegen gemacht.
Sie saß so weit wie möglich von ihm entfernt, mit ausgestrecktem Arm, und machte es.
Er schaute sie nicht an und sie schaute ihn nicht an. Als es vorbei war, schob er ihre Hand weg. Sie stand auf und wischte sich die Hand am Sofabezug ab, denn das Klebrige war an ihre Finger gekommen. Dann verlangte sie das Geld.
»Es liegt in der Küche unter der Zeitung«, sagte er.
Sie ging in die Küche, wo eine Illustrierte mitten auf dem Tisch lag. Sie hob die Zeitschrift hoch. Darunter lagen zwei zusammengefaltete Hunderter.
»Es sollten aber dreihundert sein«, sagte sie.
Er blieb im Wohnzimmer sitzen. Sie ging nicht zu ihm hinein, sondern blieb in der Küche und sagte noch einmal, dass sie sich aber auf dreihundert geeinigt hätten. Er hätte es versprochen, als er anrief.
»Zweihundert sind genug«, sagte er.
»Verdammter Scheißkerl«, antwortete sie.
Sie ging in den Flur hinaus. Dort hingen ein Mantel und ein Schal. Sie spuckte auf den Mantel und zog den Schal auf die Erde, bevor sie die Tür öffnete und ging. Die Tür ließ sie offen stehen. Vielleicht würde jemand kommen und reinschauen und sehen, dass er mit heruntergezogener Hose dasaß.
Um halb fünf fuhr Sara mit dem Pendelzug von Älvsjö zum Hauptbahnhof. Sie rief Marika an und fragte, ob sie sich nicht treffen könnten, um einen Hamburger zu essen und ein bisschen herumzulaufen.
Danach rief sie ihre Mutter an und sagte, dass sie mit einigen Klassenkameraden in der Schule bleiben und eine Gruppenarbeit für Erdkunde durchgehen wolle.
»Wir bekommen Brote und sowas von unserer Klassenlehrerin«, sagte sie.
»Lass es aber nicht so spät werden«, meinte ihre Mutter.
»Nein, ich bin spätestens um halb neun zu Hause.«
»Wollt ihr so lange arbeiten?«
»Ich habe versprochen, hinterher noch in der Bibliothek zu helfen. Wir wollen Bücher über Afrika heraussuchen, die wir dann mit der Klasse lesen.«
»Okay, aber komm hinterher schnell nach Hause.«
»Ganz bestimmt.«
»Pass auf dich auf! Küsschen.«
Es war Viertel nach fünf, als sich Sara und Marika vor Åhléns trafen. Sie gingen die Treppe zum Wartesaal beim Kiosk hinunter. Dort standen eine Menge Leute. Sie unterhielten sich in kleinen Gruppen, einige rauchten, und andere tranken Bier aus Dosen, aber es war niemand da, den Sara wiedererkannte. Sie blieben eine Weile dort, und Sara fragte Marika nach Zigaretten.
»Ich kaufe welche«, meinte Marika.
Sie ging zum Kiosk und verlangte eine Schachtel Marlboro. Der Mann im Kiosk schaute sie etwas fragend an, sagte aber nichts, sondern gab ihr die Schachtel.
Sie zündeten sich gerade ihre Zigaretten an, als zwei Polizisten von der Platte hereinkamen. Sara hielt ihre Zigarette hinter dem Rücken versteckt, während Marika auf den Ausgang zuging. Die Polizisten hatten anderes zu tun, als in die Richtung der Mädchen zu blicken, aber da Marika schon auf dem Weg nach draußen war, fand Sara, dass sie ihr ebenso gut folgen konnte.
Die Platte war die ganze Woche über frei von Schnee gewesen. Es waren ein paar Grad plus. Früher am Tag hatte es genieselt, aber nun war alles wieder trocken. Dies war einer der warmen Zeitabschnitte in diesem launischen Winter, der entweder Massen von Schneematsch und fallende Eiszapfen oder milde Wochen mit Sonne und Südwind brachte.
Sie gingen eine Runde über die Platte, sahen aber niemanden, den sie kannten. Sara wurde allmählich hungrig und schlug vor, dass sie zu McDonald’s in der Sergelsgata gehen sollten.
Sie aßen beide einen großen Burger und tranken Coca Cola. Sara nahm eine Apfeltasche zum Nachtisch.
»Warst du bei diesem Kerl?«, fragte Marika.
»Ja«, antwortete Sara.
»Hast du das Geld bekommen?«
»Nur zweihundert.«
»Der alte Geizhals, ich bekomme immer dreihundert.«
»Ich weiß.«
»Sieh zu, dass du zuerst das Geld bekommst. Denk nächstes Mal daran.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch mal hingehe.«
»War er eklig?«
»Ja, verdammt nochmal, obwohl er nichts gemacht hat. Aber es war trotzdem eklig.«
»Man muss an was anderes denken. Es geht ja ziemlich schnell.«
»Mmh.«
»Wollen wir gehen?«
Sie gingen zurück zu Åhléns, ins Warenhaus hinein, blieben stehen und schauten zu, wie ein rothaariges Mädchen in der Parfümabteilung geschminkt wurde. Es handelte sich um eine Art Werbeaktion. Das Mädchen war vielleicht siebzehn, drei Jahre älter als Sara und Marika.
Lippenstifte und kleine Döschen mit Lidschatten lagen auf der Theke neben der Kosmetikerin, die damit beschäftigt war, eine dünne Schicht blauer Farbe auf die Augenlider des rothaarigen Mädchens aufzutragen. Sara nahm einen der Lippenstifte, schaute ihn an, schraubte ihn auf, roch daran, machte einen kleinen roten Strich auf den Handrücken und legte den Lippenstift zurück auf die Theke.
Niemand beachtete Sara, alle schauten auf das Mädchen auf dem Stuhl der Kosmetikerin.
Als Sara den Lippenstift zurücklegte, nahm sie gleichzeitig einen anderen, verbarg ihn in der Hand und trat einen Schritt zurück, um einige andere Mädchen vorzulassen, die ebenfalls zusehen wollten.
»Wir hauen ab«, flüsterte sie Marika zu.
Sie nahmen die Rolltreppe hinauf in die Damenabteilung. Sara steckte den Lippenstift in ihre kleine schwarze Schultertasche. Bevor sie die Hand wieder herauszog, fühlte sie das Handy und das Teppichmesser, das harmlos mit eingezogenem Blatt in der Tasche lag.
Marika wollte eine Jacke anprobieren. Sie griff nach drei taillenlangen, glänzenden Modellen, eins in Rosa und zwei in Dunkelbraun. Dann zeigte sie sie der Verkäuferin vor den Umkleidekabinen.
»Ganz hinten ist noch frei«, sagte die Verkäuferin.
Sie gingen in die Kabine. Marika zog sich um, und auch Sara probierte eine der dunklen Jacken an.
»Ich will nur eine schwarze haben«, sagte sie.
»Willst du eine kaufen?«
»Nein, meine alte geht noch.«
Sara hatte eine enge, taillenlange Jacke an, unter der sie einen dunkelroten Pullover trug. Die Hose war schwarz und die Schuhe ebenfalls, mit Ausnahme der Außenseiten der Sohlen, die grün waren.
Ihr kurzgeschnittenes Haar war dunkelbraun mit einem leicht roten Ton. Es war ihre natürliche Farbe, aber sie war ihr nicht dunkel genug. Vielleicht sollte sie es schwarz färben.
Marika hatte eine dunkelrote Jacke, die etwas länger als Saras war. Beide Mädchen hatten kleine Schultertaschen.
»Die Jacken hier sind nichts«, sagte Sara.
»Ich weiß nicht«, meinte Marika.
»Hol ein paar andere«, entgegnete Sara.
»Nein, wir gehen wieder.«
Sara hielt die rosa Jacke hoch. Sie war wirklich hässlich und dazu noch teuer, zweitausendeinhundert Kronen.
»Was für eine verdammt hässliche Jacke«, sagte sie.
Marika nickte. Sara ließ die Jacke auf den Boden fallen. Sie öffnete ihre Tasche, nahm das Messer, drückte das kurze dreieckige Blatt heraus, hob die Jacke wieder hoch und zog einen Ärmel auf links. Dann schnitt sie langsam mit dem Messer an dem glatten Stoff auf der Innenseite des Ärmels entlang. Als die Fäden rissen, war ein schwach knisterndes Geräusch zu hören, ein langgezogenes Raaaatsch.
Sie zog auch noch den anderen Ärmel auf links und machte einen ebensolchen Schnitt, aber nun zog sie das Messer etwas schneller. Das Geräusch war nicht so deutlich, nicht so herausfordernd.
Sie versuchte es noch einmal, aber jetzt war das Futter lose, sodass sie mit dem Blatt keinen Halt mehr bekam.
Das musste reichen. Sara drehte die Ärmel wieder auf rechts und betrachtete die Jacke. Es war nichts zu sehen. Dann tauschten sie ihre Jacken. Das machten sie manchmal. Marika mochte Saras schwarze Jacke und überlegte, genauso eine zu kaufen.
Sie verließen die Kabine und gaben die drei Jacken einer Verkäuferin, die sie, ohne etwas zu sagen, auf einen Wagen legte. Sie war gerade mit einem anderen Kunden beschäftigt und nahm kaum Notiz von Sara und Marika.
Sara hatte das Messer noch in der Hand. Das Blatt war reingeschoben, niemand sah, was sie da versteckte. Bevor sie die Abteilung verließen, blieben sie an einigen Ständern mit Kleidern und Röcken stehen. Sie schauten sich die Teile an, nahmen sie herunter und hängten sie wieder zurück.
Als Sara die Hand zwischen einige dicht an dicht hängende Seidenröcke schob, fingerte sie mit dem Daumen das Messerblatt heraus. Dann zog sie das Blatt langsam von oben nach unten an einem dünnen lila Seidenstoff entlang. Und wieder fühlte sie den schwachen Widerstand, als die Fäden zerschnitten wurden, das fast unhörbare reißende Geräusch, den Weg der kurzen Stahlschneide durch den Stoff.
So einfach war das, so unglaublich leicht und problemlos. Sie tat, was sie wollte, und niemand konnte sie hindern. Sie wollte am liebsten weitermachen, aber Marika zog leicht am Riemen ihrer Schultertasche und flüsterte, dass sie jetzt gehen müssten.
Der Freitag dieser Woche war der wärmste Tag des Winters. Sara ging nach dem Mittagessen nicht wieder zur Schule. Sie hatte vor, eine Entschuldigung mit dem Namen ihrer Mutter zu schreiben und am Montag abzugeben. Das hatte sie auch früher schon getan.
Sie nahm den Pendelzug in die Stadt, lief eine Weile herum und fuhr dann zurück nach Älvsjö.
Nachmittags ging sie zu ihrer Schwester Hanna nach Hause. Sie hatte einen eigenen Schlüssel, aber sie rief immer vorher an. Hanna arbeitete in der Stadt, manchmal abends, und dann schlief sie tagsüber.
Sara rief an, aber es nahm niemand ab. Nach einer Viertelstunde rief sie noch einmal an. Auch dieses Mal keine Reaktion.
Hanna hatte eine Wohnung am Telefonplan in Hägersten, direkt hinter dem großen Bürogebäude von Ericsson. Von der Schule in Solberga aus dauerte es zu Fuß eine Viertelstunde dorthin.
Sara klingelte ein paar Mal an der Tür und wartete sicherheitshalber eine Weile, bevor sie die Tür aufschloss, für den Fall dass Hanna schlief. Es kam vor, dass Hanna tief und fest schlief, wenn sie Tabletten genommen hatte. Sara wusste, dass Dosen mit Tabletten im Badezimmerschrank standen. Sie kannte sich in der Wohnung aus, weil sie dort manchmal in der Bettnische neben der Küche schlief.
Mitten in der Nacht oder früh am Morgen konnte das Telefon klingeln. Sara wachte beim kleinsten Geräusch auf und hörte das Handyklingeln aus Hannas Zimmer. Es klingelte oft viele Male, bevor Sara die gedämpfte Stimme ihrer Schwester hörte.
Einmal hatte Sara gefragt, wer so spät noch anrief, aber Hanna hatte eine ausweichende Antwort gegeben. Eigentlich konnte es Sara egal sein, wer es war. Es hatte bestimmt mit der Arbeit ihrer Schwester zu tun. Hanna mischte sich nicht in Saras Angelegenheiten ein, und da hatte sie wohl auch kein Recht, ihre Schwester auszufragen.
Aber sie hätte es doch gern gewusst.
Hanna besaß ein normales Telefon mit Anrufbeantworter und Fax und zwei Handys. Von einem der Handys hatte Sara die Nummer. Auch ihre Mutter kannte diese Nummer, und ebenso Hannas alte Freunde in Älvsjö und Solberga.
Das andere Handy war von der Arbeit, hatte Hanna gesagt.
Sara wusste, dass Hanna mit Menschen arbeitete; sie war so eine Art Hostess, die sich um Leute kümmerte und ihnen die Stadt zeigte, sie zu Festen begleitete und solche Sachen.
Hanna verdiente anscheinend ziemlich gut, glaubte Sara. Ihre Schwester war immer gut angezogen und konnte es sich leisten, ihren Urlaub in Thailand und ähnlichen Ländern zu verbringen.
Hanna war vor Kurzem zweiundzwanzig geworden. Die Schwestern sahen sich ziemlich ähnlich mit ihren schmalen Schultern, dunklen Augen und dem rotbraunen Haar.
Sara warf einen Blick in den Kühlschrank, als sie in Hannas Wohnung kam. Es waren Milch und Käse und ein paar andere Dinge da. Sie machte sich ein Butterbrot und goss sich ein Glas Milch ein.
Dann nahm sie das Butterbrot und die Milch mit ins Wohnzimmer und setzte sich an den Glastisch. Auf dem Tisch lagen neben dem Telefon zwei Bücher. Ein kleines grünes Lämpchen blinkte, was vermutlich bedeutete, dass Nachrichten auf dem Anrufbeantworter waren. Sara drückte auf die Abhör-Taste. Sie sollte das nicht tun, konnte es aber nicht sein lassen.
Es waren drei Nachrichten eingegangen, eine von jemandem, der ein paar Worte murmelte und dann auflegte, eine von einer Frau namens Sibylla, und dann noch eine Nachricht von einem Mann, der sich als Paul vorstellte. Er wollte, dass Hanna sich meldete, es wäre wichtig. Er hatte eine sehr tiefe Bassstimme und klang wie jemand in einem amerikanischen Film.
Sara wusste, dass die Nachrichten nicht gelöscht werden würden. Sie hoffte, dass Hanna nicht merken würde, dass sie sie heimlich abgehört hatte.
Sie ging zurück in die Küche, stellte das Glas in die Spülmaschine und ging ins Wohnzimmer zurück. Als sie überlegte, was sie machen könnte, fiel ihr Hannas Fotoapparat ein, den sie ausleihen durfte, wenn sie wollte.
Die Kamera lag in einer Kommodenschublade. Sie war von Olympus und nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Ein kleines klappbares Tischstativ gehörte dazu. Sara hatte die Kamera schon mehrmals benutzt und kannte sich mit den Knöpfen aus.
Jetzt öffnete sie die Abdeckung vor dem Objektiv, hob die Kamera, schaute hindurch, ging auf der Suche nach Motiven im Zimmer umher, blickte aus dem Fenster und hinein in eine Wohnung des Hauses auf der anderen Straßenseite. Im Fenster stand eine Frau, mit dem Rücken Sara zugewandt. Sie fuchtelte mit den Händen; vielleicht sprach sie mit jemandem im Zimmer.
Sara holte das Stativ, schraubte es fest, stellte die Kamera auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Sie wollte ein Foto von sich selbst machen.
Aber irgendetwas fehlte.
Sie suchte nach einem Notizblock, riss drei Seiten heraus, holte den Lippenstift, den sie bei Åhléns mitgehen lassen hatte, und schrieb auf jedes Blatt einen großen Buchstaben: I C H.
Dann legte sie die Blätter vor sich auf den Glastisch, kontrollierte den Bildausschnitt im Sucher, drückte auf den Selbstauslöser der Kamera und setzte sich eilig in den Sessel.
In diesem Moment hörte sie, dass jemand einen Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür steckte.
2.
Die schwarzen Wolken kamen ganz plötzlich. Gegen Mittag lag eine dicke Schneedecke auf den Straßen und Bürgersteigen von Älvsjö.
Am Morgen war es vier Grad warm gewesen, die Sonne hatte hervorgeschaut und sich in der Fassade der Messehalle gespiegelt. Eine halbe Stunde lang badeten die abgetauten Straßen um das Zentrum von Älvsjö herum in einem trügerischen Licht, das weiß war und nicht zu dieser Jahreszeit gehörte.
Dann kam der Schnee. Verner Lindgren war mit ein paar Lebensmitteln in einer Einkaufstasche auf dem Heimweg vom Konsum. Er ging ohne Kopfbedeckung, in Jackett und dünnen Schuhen. Jetzt beeilte er sich nach Hause zu kommen, lief das letzte Stück zum Törnrosväg, über den Wendeplatz und in den Hauseingang hinein.
Er machte die Deckenleuchte an. Das Unwetter nahm zu, es wurde dunkel. Es war doch noch nicht Frühling geworden; nun war es wieder kalt, Matschwinter und Dunkelheit.
Verner setzte Kaffeewasser auf, schlug Dagens Nyheter auf und las die Überschriften über den Mord an Fadime1. Das Wasser fing an zu kochen. Verner stand über den Tisch gebeugt, las weiter und ließ das Wasser eine Weile brodeln, bevor er in die Kochecke ging und den Kessel vom Herd nahm.
Er dachte an das, was er gelesen hatte, und fühlte sich ruhelos und irritiert, beschloss jedoch, seine Gefühle nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Er konnte diese Gefühle beherrschen, inzwischen konnte er das, beinahe jedenfalls.
Es war halb eins. Verner schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und machte das Radio an. Der erste Beitrag der Nachrichtensendung handelte von Fadime, von der Trauer, dem Zorn und der Machtlosigkeit.
Er hörte zu, trank seinen Kaffee, schmierte sich ein Butterbrot, trank langsam, kaute langsam und war zufrieden mit sich, weil er es schaffte, Schlucke und Bisse zu kontrollieren, während er gleichzeitig der brutalen Wahrheit über den Tod einer jungen Frau ausgesetzt war.
Der Wetterbericht nach den Nachrichten kündigte weiteren Schnee an, mehr Kälte, glatte Straßen und stürmischen Wind.
Verner aß noch ein Butterbrot.
Um halb zwei war er mit der Zeitung fertig. Er genoss seine tägliche Zeitung, die er nach Hause bekam. Früher hatte er kein Abonnement gehabt. Jetzt las er sie meistens morgens in Eile, bevor er zu einem seiner wechselnden Jobs ging.
In dieser Woche hielt er Vorträge vor jungen Männern und Frauen, die eine Ausbildung als Wachpersonal machten. Verner hatte aus seinen Jahren als Polizist Kenntnisse und Erfahrungen, die er nun mit anderen teilte; er hielt Seminare über die Beurteilung von Verbrechen und die Gefahr voreiliger Schlussfolgerungen ab, berichtete über Fälle, Irrtümer und Erfolge.
Aber er erzählte nie von sich selbst. Er sprach über Fälle, die er kannte, von denen er gehört oder gelesen hatte. Er nahm an, dass das Unternehmen, das sein Honorar bezahlte, nicht wusste, warum er aufgehört hatte als Polizist zu arbeiten. Oder sie wussten es, und es war ihnen egal.
Es war kurz nach vier, als das Telefon klingelte. Verner war im Badezimmer. Der Wasserhahn lief, sodass er das Klingeln zunächst nicht hörte. Dann eilte er ins Wohnzimmer und meldete sich mit seinem Nachnamen. Eine unbekannte Stimme murmelte etwas.
Verner wiederholte seinen Namen und klang dabei leicht verärgert.
»Bist du es, Verner?«, fragte der Unbekannte.
»Ja, ich bin’s«, antwortete Verner, und nun klang er noch ärgerlicher.
»Hier ist Lasse.«
»Ach ja?«
»Erkennst du mich nicht?«
»Nein.«
»Lasse, verdammt nochmal, Lasse Gunnar Bergman.«
Verner musste nachdenken. Er wusste, wer Lasse Bergman war, aber die Stimme erkannte er nicht. Der Mann, mit dem er sprach, klang angestrengt und heiser, die Stimme war etwas zischend.
»Lasse?«, sagte Verner nach einigen Sekunden der Stille.
»Genau.«
»Das ist ja lange her; ich habe tatsächlich in letzter Zeit ein paar Mal daran gedacht, dich anzurufen. Hättest du nicht angerufen, dann hätte ich mich wohl dieser Tage gemeldet.«
»Ja, siehst du, Verner, die Leute sind alle gleich, wir denken ganz einfach gleich.«
»Wie geht es dir?«
»Tja, eher bescheiden. Ich hatte eine Halsoperation.«
»Ich dachte schon, dass du dich anders anhörst.«
»Eine Weile ging es mir gar nicht gut, aber jetzt bin ich auf dem Wege der Besserung.«
»Wohnst du noch auf Söder?«
»Ja klar, in der Bondegata, an derselben Stelle. Ich bin heute nicht mehr so beweglich.«
»Wir können uns aber doch treffen?«
»Ja klar, das wollte ich vorschlagen.«
»Von alten Zeiten sprechen.«
»Genau, Verner, wir haben viel zu bereden.«
»Wollen wir eine Zeit ausmachen?«
»Ich melde mich nochmal deswegen. Ich habe nächste Woche einen Termin im Krankenhaus; danach werde ich hoffentlich wieder gesund. Ich rufe an, wenn ich das erledigt habe, in ein paar Wochen.«
»Okay, Lasse, aber vergiss es nicht.«
»In dem Fall musst du mich anrufen, Verner.«
»Unbedingt, ich verspreche es.«
Als das Gespräch vorbei war, blieb Verner eine Weile am Tisch sitzen und versuchte sich zu erinnern, wann er Lasse Bergman das letzte Mal getroffen hatte.
War es vor fünf Jahren?
War es in demselben Jahr, als er bei der Polizei aufgehört hatte?
Nein, es war im Jahr davor. Verner hatte Lasse aufgesucht, um ihm einige Fragen zu einer Untersuchung zu stellen, die in Verbindung mit einem alten Fall aus den siebziger Jahren stand, als Lasse als Researcher beim Fernsehen beschäftigt war. Er hatte für Nils Lövgren gearbeitet, der damals Reporter beim Wochenmagazin Fokus war. Nils und Verner kannten sich. So freundeten auch Lasse und Verner sich an.
Sie tauschten Informationen über Untersuchungen und Verbrechen aus, trafen sich dann und wann, und nur Nils Lövgren wusste von ihrer Zusammenarbeit. Es wurde als eher unpassend betrachtet, dass Polizisten und Fernsehjournalisten einander halfen.
So vergingen einige Jahre. Verner hielt den Kontakt mit Lasse und Nils aufrecht. Sie sahen sich gelegentlich, und zwar nicht nur dann, wenn die Arbeit es erforderte. Sie waren Freunde und hatten viel zu bereden.
Aber Verner war gezwungen gewesen, bei der Polizei aufzuhören, als bekannt wurde, dass er gewalttätig gegenüber Tatverdächtigen geworden war, die allesamt Frauen misshandelt hatten. Er kündigte von sich aus; es kam nicht zu einer Anklage.
Die folgenden Jahre waren die schwersten in Verners Leben. Er verlor den Halt, begann zu trinken, wurde depres-siv und bekam starke Medikamente verordnet, war lange krankgeschrieben. Der Wendepunkt kam im Herbst 2000, als er im Zusammenhang mit einem Mord in Älvsjö als möglicher Täter verdächtigt wurde.
Zu dieser Zeit brach er mit seinem destruktiven Leben. Er traf Margret Mattson von der Bezirkskriminalpolizei und half ihr, den Fall zu lösen. Verners Mithilfe wurde geheim gehalten, auch wenn Margrets Chef mehr begriff, als er zugeben wollte.
Verner hörte auf zu trinken, während Lasse weitermachte und sich sein Umgang bald auf eine kleine Schar von Frührentnern beschränkte, die in kleinen Wohnungen im Viertel zwischen Bondegata und Kocksgata auf Söder wohnten. Manchmal sahen sie sich zusammen eins von Hammarbys Heimspielen an. Und manchmal tranken sie ein Bier im Kvarnen. Aber meistens saßen sie bei Lasse und tranken – es war recht gemütlich in seiner großen Küche.
Lasse und Verner hatten sich fünf Jahre lang nicht gesehen. Verner wusste es wirklich zu schätzen, dass Lasse angerufen hatte, aber er schämte sich ein wenig, dass er selbst in all den Jahren nicht von sich hatte hören lassen. Nun hatte er das sehr starke Gefühl, dass es eilig sei.
Das war am Donnerstag, dem 24. Januar 2002. Gegen sieben Uhr hörte es auf zu schneien.
Verner las den ganzen Abend über, bis nach Mitternacht. Er las ein Buch zu Ende, das er für zwanzig Kronen aus einer Wühlkiste auf dem Flohmarkt in Skärholmen gekauft hatte, Frank Hurleys Buch über Shackletons Expedition zum Südpol. Das Buch roch nach altem Staub, duftete nach Abenteuer. Verner merkte nicht, wie die Stunden vergingen; er wurde ergriffen von den trockenen, heroischen Texten, tauchte ein in die Nebel auf den alten Fotografien, war selbst einer der Männer im Packeis, einer der Steuermänner auf der unglaublichen Segelfahrt über das Weddell-Meer.
Einige Stunden lang befand er sich in einer gefährlichen, aber unkomplizierten Welt, mit ständiger tödlicher Bedrohung und einer unbeirrbaren Kameradschaft zwischen den Männern. Einer gefrorenen Welt ohne Frauen.
Am Freitag um halb eins ging Verner zum Bahnhof Älvsjö, um den Pendelzug in die Stadt zu nehmen. Er hatte frei, wollte in die City fahren, in den Geschäften herumlaufen und nach einem Pullover suchen, vielleicht ein paar ausländische Zeitungen in der Stadtbibliothek lesen.
Als der Zug am Bahnsteig hielt, stieg gleichzeitig mit Verner ein junges Mädchen ein. Sie trug eine kurze, schwarze Jacke und eine enge, schwarze Hose. An einem Riemen über der Schulter hatte sie eine kleine Tasche. Ihr Haar war rotbraun und kurz.
Das Mädchen schaute Verner nicht an. Er sah sie und dachte flüchtig, dass es vermutlich kalt sein müsse in der eng anliegenden Kleidung und mit nacktem Bauch. Aber er hatte keinen Anlass, sich für das fremde Mädchen zu interessieren, und setzte sich im Wagen mit dem Rücken zu ihr.
1 Die 1975 in Kurdistan geborene Fadime Sahindal, die mit ihrer Familie in Uppsala lebte, wurde 2002 von ihrem Vater getötet, weil sie sich weigerte, in eine von ihrer Familie arrangierte Hochzeit mit ihrem türkischen Cousin einzuwilligen. Dieser sogenannte Ehrenmord löste in Schweden eine große gesellschaftliche Debatte aus und ist bis heute Synonym für Verbrechen dieser Art. [Anm. d. Übers.]