Read the book: «Seine Exzellenz Eugene Rougon», page 6

Font:

»Ich schwindle nicht«, versicherte sie, während sie zu Rougon zurückkehrte und sich neben ihn setzte, »mein linkes Bein ist mir völlig eingeschlafen.«

Sie klopfte sich auf das linke Bein, um das Blut wieder in Umlauf zu bringen, wie sie sagte. Durch die Gaze sah man als rosigen Fleck ihre Knie. Sie hatte jedoch vergessen, daß sie nackt war. Nachdenklich neigte sie sich ihm zu, die Haut ihrer Schulter an dem rauhen Tuch seines Überziehers scheuernd. Auf einmal aber ließ ein Knopf, auf den sie unerwartet traf, ihr einen heftigen Schauder über den Busen laufen. Sie sah an sich herab, wurde sehr rot. Und eilig holte sie irgendein Stück schwarze Spitze, das sie um sich schlang.

»Mir ist ein bißchen kalt«, sagte sie, nachdem sie einen Sessel vor Rougon geschoben und sich hineingesetzt hatte.

Außer einem schmalen Streifen ihrer bloßen Handgelenke ließ sie nichts unter der Spitze hervorschauen. Sie hatte sich das Gewebe so um den Hals gewunden, daß es eine große Krawatte bildete, in die sie das Kinn vergrub. In dieser Hülle, die die Brust gänzlich verdeckte, war sie jetzt bis auf ihr wieder bleich und ernst gewordenes Gesicht ganz und gar schwarz.

»Nun, was ist mit Ihnen geschehen?« fragte sie. »Erzählen Sie mir alles.«

Und mit der Freimütigkeit kindlicher Neugier forschte sie ihn aus, wieso er in Ungnade gefallen sei. Sie betonte die Ausländerin, ließ sich bis zu drei Malen Einzelheiten wiederholen, die sie nicht verstanden zu haben behauptete. Sie unterbrach ihn mit Ausrufen in italienischer Sprache, während er in ihren dunklen Augen jeder Regung folgen konnte, die sein Bericht hervorrief. Weshalb er sich mit dem Kaiser überworfen habe? Wieso er auf eine so hohe Stellung habe verzichten können? Wer denn seine Feinde seien, daß er sich so habe unterkriegen lassen? Und da er zögerte, als sie ihn mit der Behauptung, er wolle irgend etwas nicht gestehen, in die Enge trieb, sah sie ihn mit so rührender Treuherzigkeit an, daß er sich gehenließ und ihr die Geschichte vollständig erzählte. Bald hatte sie zweifellos alles erfahren, was sie zu wissen wünschte. Sie warf noch ein paar Fragen hin, die sehr wenig mit dem Thema zu tun hatten und deren Seltsamkeit Rougon erstaunte. Dann saß sie mit gefalteten Händen da und schwieg. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie dachte tief nach.

»Nun?« fragte er lächelnd.

»Nichts«, murmelte sie, »es hat mich traurig gemacht.«

Er war gerührt und versuchte, abermals ihre Hände zu fassen, doch sie verbarg sie unter der Spitze, und das Schweigen dauerte an. Nach Verlauf von zwei langen Minuten hob sie die Lider wieder und sagte: »Sie haben also irgendwelche Pläne?«

Er sah sie fest an. Flüchtig tauchte ein Verdacht in ihm auf. Aber sie war jetzt so anbetungswürdig, wie sie da in der Haltung einer Leidenden tief im Sessel lag, als hätten die Kümmernisse ihres »lieben Freundes« sie aller Kraft beraubt, daß er sich nicht an das leichte Frösteln kehrte, das ihm soeben über den Nacken gerieselt war. Sie schmeichelte ihm sehr. Gewiß werde er nicht lange abseits bleiben, eines Tages werde er wieder der Herr sein. Sie sei überzeugt, daß er sich mit großen Gedanken trage und seinem Stern vertraue, denn das stehe ihm an der Stirn geschrieben. Weshalb er sie nicht zu seiner Vertrauten mache? Sie sei so verschwiegen, es würde sie so beglücken, seine Zukunft mit ihm zu teilen! Berauscht, immer noch bestrebt, die kleinen Hände, die sich in der Spitze verbargen, wieder zu erwischen, sprach Rougon weiter, sprach immerzu, gab schließlich alles preis, seine Hoffnungen, seine Gewißheiten. Sie drängte ihn nicht mehr, ließ ihn ungestört weiterreden, rührte sich nicht, aus Angst, er könnte dann aufhören. Sie betrachtete ihn forschend, zergliederte ihn Stück für Stück, untersuchte seinen Schädel, wog seine Schultern, maß seine Brust. Das war entschieden ein starker Mann, der sie, so kräftig sie auch war, sich mit einem Handgriff auf den Rücken geworfen und sie ohne weiteres so hoch hinaufgetragen haben würde, wie sie gewollt hätte.

»Ach, der liebe Freund!« sagte sie plötzlich. »Was mich betrifft, ich habe nie gezweifelt!«

Sie hatte sich halb erhoben, hatte die Arme ausgebreitet und die Spitze zu Boden gleiten lassen. Nun kam sie wieder zum Vorschein, noch nackter, bot sich widerstandslos dar, ließ die Schultern mit einer so geschmeidigen Bewegung einer verliebten Katze aus der Gaze schlüpfen, daß sie aus dem Oberteil ihres Gewandes herauszuspringen schien. Es war eine jähe Vision, als gewähre sie Rougon eine Belohnung und ein Versprechen. Und war nicht nur das Stück Spitze herabgeglitten? Schon hob sie es auf, schlang es fester um sich.

»Pst!« flüsterte sie, »Luigi wird böse.«

Und sie lief zu dem Maler hin, beugte sich abermals über ihn und sprach, den Mund dicht an seinem Halse, sehr schnell auf ihn ein. Rougon rieb sich, als sie nicht mehr bebend vor Lebendigkeit bei ihm war, heftig die Hände, war nervös, beinahe ärgerlich. Sie rief bei ihm ein seltsames Prickeln auf der Haut hervor. Und er fluchte auf sie. Mit zwanzig Jahren hätte er sich nicht dümmer anstellen können. Sie hatte ihm soeben wie einem Kind Geständnisse entlockt, ihm, der seit zwei Monaten versuchte, sie zum Reden zu bringen, ohne ihr etwas anderes abzugewinnen als herzliches Gelächter. Sie hatte ihm nur einen Augenblick lang ihre Hände zu entziehen brauchen, und schon hatte er sich soweit vergessen, alles zu erzählen, damit sie sie ihm wieder reichte. Jetzt – das wurde ihm klar – würde sie ihn erobern; sie erwog wohl schon, ob es noch der Mühe lohne, ihn zu verführen.

Rougon lächelte mit der Überlegenheit eines starken Mannes. Er würde sie zerbrechen, wenn er es wollte. War nicht sie es, die ihn herausforderte? Und unredliche Gedanken stiegen in ihm auf, ein ganzer Verführungsplan, in dessen Verfolg er sie sitzenlassen würde, nachdem er sie besessen. Er konnte wahrlich nicht diesem erwachsenen Mädchen gegenüber, die in solcher Art ihre Schultern zeigte, die Rolle eines Einfaltspinsels spielen. Dennoch war er nicht mehr ganz sicher, ob die Spitze nicht von selber herabgeglitten war.

»Finden Sie, daß ich graue Augen habe?« fragte Clorinde, die wieder zu ihm kam.

Er stand auf, sah sie aus nächster Nähe an, ohne dadurch die klare Ruhe ihrer Augen zu trüben. Doch als er die Hände vorstreckte, gab sie ihm einen leichten Schlag. Es sei nicht nötig, daß er sie berühre. Sie war jetzt sehr kalt. Mit einer Schamhaftigkeit, die sich über die kleinsten Lücken beunruhigte, wickelte sie sich in ihren Spitzenlappen. Mochte er auch seinen Spott mit ihr treiben, sie necken, Miene machen, Gewalt zu gebrauchen, sie verhüllte sich nur um so mehr, stieß kleine Schreie aus, wenn er die Spitze streifte. Außerdem wollte sie sich nicht wieder hinsetzen.

»Ich möchte lieber ein bißchen gehen«, sagte sie, »das macht meine Beine gelenkig.«

Da begleitete er sie. Sie wanderten zusammen auf und ab. Er versuchte, ihr nun seinerseits Geständnisse zu entlocken. Für gewöhnlich antwortete sie nicht auf Fragen. Sie hatte eine Art, sprunghaft zu plaudern, unterbrochen von Ausrufen, untermischt mit Geschichtchen, die sie niemals zu Ende erzählte. Als er sie mit List über eine zweiwöchige Abwesenheit in Gesellschaft ihrer Mutter im Monat zuvor befragte, reihte sie eine nicht endende Folge von Anekdoten über diese Reisen aneinander. Sie sei überall gewesen, in England, Spanien, Deutschland; alles habe sie gesehen. Daran schloß sich ein Regen unwichtiger kindischer Beobachtungen über das Essen, die Moden, das jeweilige Wetter. Zuweilen begann sie etwas zu erzählen, wobei sie sich mit bekannten Persönlichkeiten, deren Namen sie anführte, in Szene setzte. Rougon spitzte die Ohren, glaubte, sie werde sich endlich eine vertrauliche Äußerung entfahren lassen; aber die Erzählung schlug in Kinderei um oder blieb wohl auch ohne Abschluß. Auch an diesem Tage erfuhr er nichts. Auf ihrem Gesicht lag das Lächeln, hinter dem sie sich verbarg. Sie blieb trotz all ihren geschwätzigen Ergüssen undurchdringlich.

Betäubt von diesen verwirrenden Mitteilungen, von denen die einen die anderen Lügen straften, wußte Rougon schließlich nicht mehr, ob er ein zwölfjähriges, bis zur Dummheit unschuldiges Mädelchen vor sich habe oder eine sehr gescheite Frau, die aus Raffinement zur Einfalt zurückgekehrt war.

Clorinde unterbrach sich in der Erzählung eines Abenteuers, das sie in einer kleinen spanischen Stadt erlebt hatte, wo sie das Bett, das ein Reisender ihr aus Ritterlichkeit angeboten, habe annehmen müssen, während er auf einem Stuhl schlief. »Sie sollten nicht in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie ohne jeden Übergang. »Man muß Sie dort vermissen.«

»Danke schön, Fräulein Machiavelli«, erwiderte er lachend.

Sie lachte lauter als er. Aber dennoch fuhr sie fort, ihm ausgezeichnete Ratschläge zu geben. Und als er wieder versuchte, sie wie im Spiel in den Arm zu kneifen, wurde sie böse, schrie, man könne keine zwei Minuten lang ernsthaft reden. Ach, wenn sie ein Mann wäre. Wie gut würde sie es verstehen, ihren Weg zu machen! Die Männer hatten so wenig Verstand!

»Kommen Sie, erzählen Sie mir die Lebensgeschichten Ihrer Freunde«, fing sie wieder an und setzte sich auf die Tischkante, während Rougon vor ihr stehen blieb.

Luigi, der den Blick nicht von ihnen wandte, schloß heftig seinen Malkasten.

»Ich gehe weg«, sagte er.

Aber Clorinde eilte auf ihn zu, holte ihn zurück, schwor, sie werde ihm gleich wieder Modell stehen. Sie mußte sich wohl davor fürchten, mit Rougon allein zu bleiben. Und als Luigi nachgab, versuchte sie Zeit zu gewinnen.

»Sie werden mich doch etwas essen lassen. Ich habe solchen Hunger! Ach, nur zwei Bissen.«

Sie öffnete die Tür und rief: »Antonia! Antonia!«

Und sie erteilte auf italienisch eine Anordnung. Kaum hatte sie sich wieder auf die Tischkante gesetzt, als Antonia eintrat, auf jeder Hand ein Butterbrot. Die Dienerin hielt sie ihr hin wie auf einem Tablett, mit dem ihr eigenen Lachen einer albernen Person, die man gerade kitzelt, einem Lachen, das ihren roten Mund in dem dunklen Gesicht aufriß. Dann ging sie, die Hände an ihrem Rock abwischend, hinaus. Clorinde rief sie zurück, um ein Glas Wasser zu verlangen.

»Wollen Sie mithalten?« fragte sie Rougon. »Butter ist etwas sehr Gutes. Manchmal streue ich Zucker darauf. Aber man darf nicht immer ein Leckermaul sein.«

Das war sie in der Tat nicht. Rougon hatte sie eines Morgens beim Frühstück überrascht, als sie im Begriff war, ein Stück kalten Eierkuchen vom Tage zuvor zu essen. Er verdächtigte sie des Geizes, eines italienischen Lasters.

»Drei Minuten, nicht wahr, Luigi?« rief sie, während sie in die erste Schnitte biß.

Und sich wieder Rougon zuwendend, der immer noch vor ihr stand, fragte sie: »Nun, was hat zum Beispiel Herr Kahn für eine Geschichte, wieso ist er Abgeordneter?«

In der Hoffnung, ihr irgendeine unfreiwillige Eröffnung abzunötigen, ließ Rougon bereitwillig dieses neue Verhör über sich ergehen.

Er wußte, daß sie sehr neugierig auf das Leben eines jeden war, die Ohren nach allen unvorsichtigen Äußerungen spitzte, unaufhörlich auf der Lauer lag nach den verwickelten Intrigen, von denen sie ständig umgeben war. Hochgestellte Leute interessierten sie besonders.

»Oh!« erwiderte er lachend, »Kahn ist als Abgeordneter geboren. Er muß bereits seine Zähne auf den Bänken des Abgeordnetenhauses bekommen haben. Unter LouisPhilippe saß er schon im rechten Flügel des Zentrums und unterstützte mit jugendlicher Leidenschaft die konstitutionelle Monarchie. Nach achtundvierzig ist er zum linken Flügel übergegangen, übrigens nach wie vor sehr leidenschaftlich; er hat in erhabenem Stil ein republikanisches Glaubensbekenntnis verfaßt. Jetzt ist er wieder zum rechten Flügel zurückgekehrt und verteidigt leidenschaftlich das Kaiserreich ... Außerdem ist er Sohn eines jüdischen Bankiers aus Bordeaux, steht einem Hochofenwerk bei Bressuire vor, hat sich zum Spezialisten für finanzielle und industrielle Fragen ausgebildet, lebt in Erwartung des Vermögens, das er eines Tages erwerben wird, recht mittelmäßig, wurde am letzten 15. August zum Offizier der Ehrenlegion befördert ...«

Und Rougon richtete den Blick ins Leere und überlegte.

»Ich habe, glaube ich, nichts vergessen ... Nein, Kinder hat er nicht ...«

»Wie? Er ist verheiratet?« rief Clorinde aus.

Sie deutete durch eine Handbewegung an, daß Herr Kahn sie nicht weiter interessiere. Das sei ein Duckmäuser; niemals habe er seine Frau vorgeführt. Darauf erklärte ihr Rougon, daß Frau Kahn sehr zurückgezogen in Paris lebe. Und dann begann er, ohne eine Frage abzuwarten, von neuem: »Wünschen Sie jetzt den Lebenslauf Béjuins?«

»Nein, nein«, sagte das junge Mädchen.

Aber er fuhr dennoch fort: »Er ist aus der Ecole polytechnique30 hervorgegangen. Er hat Broschüren geschrieben, die kein Mensch gelesen hat. Er leitet die Kristallfabrik in SaintFlorent, drei Meilen von Bourges ... Entdeckt hat ihn der Präfekt31 des Departements Cher ...«

»Hören Sie doch auf!« schrie sie.

»Ein würdiger Mann, der richtig wählt, niemals redet, sehr geduldig wartet, bis man an ihn denkt, immer da ist und einen ansieht, damit man ihn nicht vergißt ... Ich habe ihn zum Ritter der Ehrenlegion ernennen lassen ...«

Sie mußte ihm den Mund zuhalten; ärgerlich geworden, sagte sie: »Ach, der ist auch verheiratet! Er ist langweilig ... Ich habe bei Ihnen seine Frau gesehen, ein Trampel! Sie hat mich aufgefordert, ihre Kristallfabrik bei Bourges zu besichtigen.«

Sie steckte den Rest ihrer ersten Brotschnitte mit einmal in den Mund. Dann trank sie einen großen Schluck Wasser. Ihre Beine hingen von der Tischkante herunter, und ein wenig zusammengesunken, den Hals zurückgebogen, baumelte sie mit ihnen in einer mechanischen Bewegung, deren Rhythmus Rougon genau verfolgte. Bei jedem Hin und Herschlenkern schwollen die Waden unter der Gaze an.

»Und Herr Du Poizat?« fragte sie nach einer Pause.

»Du Poizat war Unterpräfekt«, antwortete er nur.

Erstaunt über die Kürze der Geschichte, sah sie ihn an. »Ich weiß wohl«, sagte sie. »Was weiter?«

»Weiter wird er später Präfekt werden, und dann wird er das Kreuz der Ehrenlegion erhalten.«

Sie begriff, daß er nicht mehr darüber sagen wollte. Außerdem hatte sie den Namen Du Poizat beiläufig hingeworfen. Jetzt zählte sie die Herren an den Fingern her. Beim Daumen beginnend, murmelte sie: »Herr d'Escorailles: der ist nicht ernst zu nehmen, er liebt alle Frauen ... Herr La Rouquette: überflüssig, den kenne ich zu gut ... Herr de Combelot: noch ein Verheirateter ...«

Und als sie beim Ringfinger haltmachte, da ihr niemand mehr einfiel, sah Herr Rougon sie fest an und sagte: »Sie vergessen Delestang.«

»Da haben Sie recht!« rief sie. »Erzählen Sie mir also von dem?«

»Das ist ein schöner Mann«, erklärte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Er ist sehr reich. Ich habe ihm stets eine große Zukunft prophezeit.«

In dieser Tonart fuhr er fort, übertrieb die Lobsprüche, verdoppelte die Summen. Das Mustergut La Chamade sei zwei Millionen wert. Delestang werde bestimmt eines Tages Minister. Aber Clorinde behielt einen geringschätzigen Zug um den Mund.

»Er ist sehr dumm«, murmelte sie schließlich.

»Sieh da!« sagte Rougon mit einem verschlagenen Lächeln. Er schien von dem Ausspruch, den sie sich hatte entschlüpfen lassen, entzückt zu sein.

Dann stellte sie mit einem jener jähen Sprünge, an die er schon gewöhnt war, eine neue Frage, wobei sie ihn nun ihrerseits fest ansah.

»Herrn de Marsy kennen Sie ja wohl sehr genau?«

»Ja, ja, wir kennen einander«, bestätigte er, ohne mit der Wimper zu zucken, als ergötze ihn das, was sie ihn da fragte, noch mehr.

Doch er wurde wieder ernst. Er wurde sehr würdevoll, sehr gerecht.

»Das ist ein Mann von ungewöhnlichem Verstand«, behauptete er. »Ich rechne es mir zur Ehre an, ihn zum Feind zu haben ... Er hat sich mit allem befaßt. Mit achtundzwanzig Jahren war er Oberst. Später begegnete man ihm als Leiter einer großen Fabrik. Dann hat er sich nacheinander mit Landwirtschaft, Finanzen und Handel beschäftigt. Man behauptet sogar, er habe Porträts gemalt und Romane geschrieben.«

Clorinde vergaß zu essen; sie war ins Träumen geraten.

»Ich habe neulich abends mit ihm geplaudert«, sagte sie leise. »Das ist ein Prachtkerl ... Er ist eben der Sohn einer Königin32.«

»Meiner Ansicht nach«, fuhr Rougon fort, »schadet es ihm, daß er so geistreich ist. Ich habe eine andere Vorstellung von Kraft. Ich habe ihn unter sehr ernsten Umständen mit Wortspielen witzeln hören. Immerhin, er hat es zu etwas gebracht, er regiert nicht weniger als der Kaiser. All diese Bastarde haben Glück! – Das Persönlichste an ihm ist sein schneidiges Vorgehen, eine eiserne Hand, kühn, entschlossen, sehr zart und dennoch sehr schlagfertig.«

Unwillkürlich hatte das junge Mädchen den Blick auf die groben Hände Rougons gesenkt. Er merkte es und sagte lächelnd: »Oh, ich habe Pranken, nicht wahr? Deshalb haben Marsy und ich einander nie verstanden. Er säbelt die Leute elegant nieder, ohne seine weißen Handschuhe zu beflecken. Ich – erschlage sie.«

Er hatte die Fäuste geballt, fleischige Fäuste mit behaarten Fingergliedern, und er schüttelte sie, froh über ihre ungeheure Größe.

Clorinde griff nach dem zweiten Butterbrot, in das sie, immer noch verträumt, die Zähne grub. Endlich hob sie die Augen zu Rougon auf.

»Nun, und Sie?« fragte sie.

»Meine Geschichte wollen Sie wissen?« sagte er. »Nichts ist leichter erzählt. Mein Großvater verkaufte Gemüse, ich selber habe bis zu meinem achtunddreißigsten Jahr als kleiner Advokat meine abgetragenen Schuhe durch meine heimatliche Kleinstadt geschleift. Gestern war ich noch ein Unbekannter. Ich habe nicht, wie unser Freund Kahn, meine Schultern damit abgenützt, sämtliche Regierungen zu stützen. Ich bin nicht, wie Béjuin, aus der Ecole polytechnique hervorgegangen. Ich laufe weder mit dem schönen Namen des kleinen Escorailles noch mit der schönen Gestalt dieses armen Combelot herum. Ich habe keine so angesehenen Verwandten wie La Rouquette, der seinen Abgeordnetensitz seiner Schwester verdankt, der Witwe des Generals de Llorentz, die heute Palastdame ist. Mein Vater hat mir nicht, wie es Delestang geschah, ein im Weinhandel erworbenes Vermögen von fünf Millionen hinterlassen. Ich bin nicht, wie der Graf de Marsy, auf den Stufen eines Throns geboren und bin nicht, am Rock einer gelehrten Frau hängend, unter den Liebkosungen Talleyrands33 aufgewachsen. Nein, ich bin ein neuer Mann, ich habe nichts als meine Fäuste ...«

Und laut lachend schlug er, die Sache ins Scherzhafte ziehend, seine Fäuste aneinander. Aber er hatte sich hoch aufgerichtet, er schien zwischen seinen geschlossenen Fingern Steine zu zermalmen. Clorinde bewunderte ihn.

»Ich war nichts; jetzt werde ich sein, was mir gefällt«, fuhr er fort, alles um sich her vergessend, nur für sich selber redend. »Ich bin eine Macht. Und ich kann nur die Schultern zucken über die andern, wenn sie sich auf ihre Ergebenheit für das Kaiserreich berufen! Lieben sie es etwa? Haben sie es im Gefühl? Würden sie sich nicht allen Regierungsformen anpassen? Ich bin mit dem Kaiserreich groß geworden; ich habe es geschaffen, und es hat mich geschaffen ... Ich wurde nach dem 10. Dezember34 zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, zum Offizier im Januar 1852, zum Kommandeur am 15. August 1854, zum Großoffizier vor drei Monaten. Unter der Präsidentschaft war ich für kurze Zeit Minister für öffentliche Arbeiten; später hat mich der Kaiser mit einer Mission in England beauftragt; dann bin ich in den Staatsrat eingezogen und in den Senat ...«

»Und wo werden Sie morgen einziehen?« fragte Clorinde mit einem Lachen, hinter dem sie ihre brennende Neugier zu verbergen trachtete.

Er sah sie an, brach jäh ab.

»Sie sind recht neugierig, Fräulein Machiavelli«, sagte er. Da baumelte sie noch heftiger mit den Beinen. Eine Pause entstand. Als Rougon sie abermals in tiefe Träumerei versunken sah, hielt er den Augenblick für günstig, um etwas aus ihr herauszulocken.

»Die Frauen ...«, begann er.

Doch sie unterbrach ihn; mit verschleiertem Blick, leicht ihren Gedanken zulächelnd, sprach sie halblaut: »Oh, die Frauen haben anderes.«

Das war ihr einziges Geständnis. Sie aß ihr Butterbrot auf, leerte in einem Zuge das Glas klaren Wassers und stand mit einem Sprung, der von ihrer Reitergeschicklichkeit zeugte, auf dem Tisch.

»Also Luigi!« rief sie.

Der Maler hatte sich, vor Ungeduld auf seinem Schnurrbart kauend, seit einem Weilchen erhoben und war um sie und Rougon herumgetrappelt. Mit einem Seufzer setzte er sich wieder, griff nach seiner Palette. Aus den drei Minuten Gnadenfrist, die Clorinde erbeten hatte, war eine Viertelstunde geworden. Jetzt aber stand sie, immer noch in das Stück schwarze Spitze gehüllt, auf dem Tisch. Als sie dann wieder in ihre Stellung zurückgefunden hatte, entblößte sie sich mit einer einzigen Bewegung. Sie wurde wieder zum Marmorbild, sie empfand keine Scham mehr.

In den ChampsElysées rollten die Wagen spärlicher. Die sinkende Sonne füllte die Avenue mit einem Geflimmer, das die Bäume bestäubte, als hätten die Räder diese Wolke rotgelben Lichts aufgewirbelt. In dem durch die hohen Fenster fallenden Tagesschein wurden Clorindes Schultern von goldenen Reflexen überspielt. Und allmählich verblich der Himmel.

»Ist die Heirat des Herrn de Marsy mit jener walachischen Fürstin noch immer beschlossen?« fragte sie nach einer kleinen Weile.

»Ich denke doch«, antwortete Rougon. »Sie ist ungeheuer reich. Marsy fehlt es stets an Geld. Übrigens erzählt man, er sei in sie vernarrt.«

Die Stille wurde nicht mehr gestört. Rougon blieb, fühlte sich wie zu Hause, dachte nicht mehr daran, fortzugehen. Er überlegte, nahm sein Umherwandern wieder auf. Diese Clorinde war wirklich ein sehr verführerisches Mädchen. Er dachte so an sie, als habe er sie schon seit langem verlassen; und die Augen aufs Parkett geheftet, versank er in undeutliche Gedanken, sehr angenehme Gedanken, deren inneres Prickeln ihm Genuß bereitete. Es kam ihm vor, als entsteige er mit einer köstlichen Mattigkeit der Glieder einem lauen Bad. Ein eigentümlicher Duft von fast zuckriger Strenge drang auf ihn ein. Er hätte sich gern auf eines der Kanapees gelegt, um dort in diesem Duft einzuschlafen.

Er wurde jäh durch den Laut von Stimmen aufgeschreckt. Ein hochgewachsener Greis, den er nicht hatte eintreten sehen, küßte Clorinde, die sich lächelnd über den Rand des Tisches hinabbeugte, auf die Stirn.

»Guten Tag, meine Kleine«, sagte er. »Wie schön du bist! Du zeigst wohl alles, was du hast?«

Er grinste ein wenig, und als Clorinde verwirrt ihr Stück schwarze Spitze aufraffte, meinte er lebhaft: »Nein, nein, es ist sehr hübsch so, du kannst alles sehen lassen, glaub's nur! – Ach, mein armes Kind, ich habe ganz andere gesehen!«

Dann wandte er sich zu Rougon um, den er mit »lieber Kollege« ansprach, drückte ihm die Hand und fügte hinzu: »Ein wildes Mädelchen, das sich, als sie noch klein war, mehr als einmal auf meinen Knien vergessen hat! Jetzt hat sie einen Busen, der einen geradezu blendet!«

Es war der alte Herr de Plouguern. Er zählte siebzig Jahre. Unter LouisPhilippe vom Departement Finistère in die Kammer entsandt, gehörte er zu den legitimistischen Abgeordneten, welche die Wallfahrt zum Belgrave Square35 machten; und anschließend an die entehrende Abstimmung, von der seine Gefährten und er überrascht wurden, reichte er seinen Rücktritt ein. Später, nach den Februartagen, bekundete er seine plötzliche Liebe zur Republik, der er auf den Bänken der Verfassunggebenden Versammlung kräftig Beifall zollte. Jetzt war er, seit ihm der Kaiser im Senat eine wohlverdiente Zuflucht gesichert hatte, Bonapartist. Nur verstand er sich darauf, es als Edelmann zu sein. Seine große Unterwürfigkeit gestattete sich zuweilen den Reiz eines Anflugs von Opposition. Undankbarkeit ergötzte ihn. Skeptiker bis ins Mark, verteidigte er dennoch Religion und Familie. Er glaubte, das seinem Namen, einem der glänzendsten der Bretagne, schuldig zu sein. An manchen Tagen fand er das Kaiserreich unmoralisch und sprach das ganz laut aus. Er selber hatte sehr ausschweifend, sehr erfinderisch und die Genüsse verfeinernd, ein Leben voll anrüchiger Abenteuer geführt; man erzählte trotz seiner Jahre Geschichten von ihm, die in den jungen Leuten Träume weckten. Auf einer Reise durch Italien hatte er die Gräfin Balbi kennengelernt, deren Liebhaber er fast dreißig Jahre lang blieb; nach jahrelangen Trennungen taten sie sich in den Städten, wo sie einander zufällig trafen, für drei Nächte wieder zusammen. Es wurde erzählt, Clorinde sei seine Tochter; aber weder er noch die Gräfin wußten zuverlässig etwas davon, und seit das Kind zu einer fülligen und begehrenswerten Frau heranwuchs, betonte er, daß er früher viel mit ihrem Vater verkehrt habe. Er blickte sie mit seinen noch immer funkelnden Augen zärtlich an und erlaubte sich bei ihr sehr freie Vertraulichkeiten eines alten Freundes.

Herr de Plouguern, groß, dürr und knochig, hatte Ähnlichkeit mit Voltaire, den er insgeheim verehrte.

»Pate, siehst du dir mein Porträt nicht an?« rief Clorinde.

Sie nannte ihn aus Anhänglichkeit Pate. Er war hinter Luigi getreten und blinzelte kennerhaft.

»Köstlich!« murmelte er.

Rougon kam näher heran, und Clorinde selber sprang vom Tisch, um das Bild zu betrachten. Und alle drei wollten vor Entzücken vergehen. Die Malerei war sehr sauber. Der Künstler hatte bereits die ganze Leinwand mit einer leichten, durchsichtigen Farbschicht in Rosa, Blau und Gelb bedeckt, die den blassen Schimmer eines Aquarells hatte. Und das Gesicht lächelte mit einer hübschen Puppenmiene, mit seinen geschwungenen Lippen, den an den Enden aufwärtsgebogenen Brauen, den von zartem Zinnoberrot überhauchten Wangen. Es war eine Diana wie für den Deckel einer Konfektdose.

»Oh, sehen Sie doch, dort neben dem Auge das kleine Leberfleckchen«, sagte Clorinde, vor Bewunderung in die Hände klatschend. »Dieser Luigi, nichts vergißt er!«

Rougon, den Gemälde in der Regel langweilten, war hingerissen. In diesem Augenblick begriff er die Kunst. In sehr überzeugtem Ton gab er das Urteil ab: »Das ist vortrefflich gezeichnet.«

»Und die Farbgebung ist hervorragend«, sagte Herr de Plouguern. »Diese Schultern sind wirkliches Fleisch ... Sehr reizend die Brüste. Besonders die linke ist frisch wie eine Rose ... Ah, welche Arme! Diese Kleine hat erstaunliche Arme! Besonders gefällt mir die Schwellung über der Ellbogenbeuge; das ist vollendet herausmodelliert.«

Und zum Maler gewandt, fügte er hinzu: »Herr Pozzo, mein höchstes Kompliment. Ich habe schon eine ›Badende‹ von Ihnen gesehen. Aber dieses Porträt wird noch bedeutender ... Weshalb stellen Sie nicht aus? Ich kannte einen Diplomaten, der wunderbar Geige spielte; das hat ihn nicht gehindert, erfolgreich seinen Weg zu machen.«

Luigi, sehr geschmeichelt, verbeugte sich. Inzwischen nahm das Tageslicht ab, und da er, wie er sagte, ein Ohr noch fertigmalen wollte, bat er Clorinde, ihre Stellung für längstens zehn Minuten nochmals einzunehmen.

Herr de Plouguern und Rougon fuhren fort, sich über Malerei zu unterhalten. Letzterer gestand, daß ihn Spezialstudien davon abgehalten hätten, die Entwicklung der Kunst während der letzten Jahre zu verfolgen; aber er betonte nachdrücklich seine Bewunderung für schöne Werke. Er kam darauf zu sprechen, daß die Farbe ihn ziemlich kaltlasse; eine schöne Zeichnung befriedige ihn vollkommen, eine Zeichnung, die imstande sei, die Seele zu erheben und große Gedanken einzuflößen. Was Herrn de Plouguern anlangte, so liebte dieser nur die Alten; er habe alle Museen Europas besucht, er verstehe nicht, wie man so kühn sein könne, sich noch ans Malen zu wagen. Dennoch habe er im vergangenen Monat von einem Künstler, den niemand kenne und der wirklich viel Talent besitze, einen kleinen Salon ausschmücken lassen.

»Er hat mir Amoretten, Blumen, Laubwerk ganz ausgezeichnet gemalt«, sagte er. »Tatsächlich glaubt man, die Blumen pflücken zu können. Und es gibt da Insekten, Schmetterlinge, Fliegen, Maikäfer, die man für lebend halten könnte. Kurz, das Ganze ist sehr heiter ... Ich liebe die heitere Malerei.«

»Die Kunst ist nicht zum Langweilen da«, meinte Rougon abschließend.

In diesem Augenblick, wie sie so nebeneinander gemächlich umhergingen, zerdrückte Herr de Plouguern unter dem Absatz seines Halbstiefels irgend etwas, das mit dem leichten Geräusch einer Knallerbse zersprang.

»Was ist denn das?« rief er.

Er hob einen Rosenkranz auf, der von einem Sessel geglitten war, auf den Clorinde wohl ihre Taschen entleert hatte. Eine der Glasperlen dicht beim Kreuz war zu Pulver zermalmt; am Kreuz selber, einem winzigen silbernen Kreuz, war einer der Arme umgebogen und plattgedrückt. Der Greis schwenkte den Rosenkranz mit höhnischem Lächeln und sagte: »Kleine, weshalb läßt du denn dieses Spielzeug herumliegen?«

Aber Clorinde war purpurrot geworden. Mit aufgeworfenen Lippen und vor Zorn getrübten Augen sprang sie mit einem Satz vom Tisch, verhüllte eilig ihre Schultern, stammelte: »Der Rose! Der Rose! Er hat meinen Rosenkranz kaputtgemacht!«

Und sie entriß ihm den Rosenkranz. Sie weinte wie ein Kind.

»Na, na«, sagte Herr de Plouguern, noch immer lachend. »Sieh einer meine Betschwester an! Neulich morgens hat sie mir fast die Augen ausgekratzt, weil ich sie, als ich hinten in ihrem Alkoven einen Palmzweig entdeckte, gefragt habe, was sie denn mit dem kleinen Besen da fege ... Weine doch nicht mehr, kleines Schaf! Ich habe dem lieben Gott nichts gebrochen.«

»Doch, doch«, schrie sie. »Sie haben ihm weh getan.«

Sie duzte ihn nicht mehr. Mit zitternden Händen entfernte sie den Rest der Glasperle. Dann wollte sie unter verstärktem Schluchzen das Kreuz in Ordnung bringen. Sie wischte es mit den Fingerspitzen ab, als habe sie Blutstropfen auf seinem Metall perlen sehen. Sie flüsterte: »Der Papst hat ihn mir geschenkt, als ich ihn zum erstenmal mit Mama besuchte. Er kennt mich gut, der Papst; er nennt mich ›seinen schönen Apostel‹, weil ich ihm eines Tages gesagt habe, daß ich gern für ihn sterben würde ... Ein Rosenkranz, der mir Glück brachte. Jetzt wird er keine Kraft zum Guten mehr haben, er wird den Teufel herbeiziehen ...«

Genres and tags
Age restriction:
0+
Volume:
550 p.
ISBN:
9783754188460
Publisher:
Copyright holder:
Bookwire
Download format:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip