Die Tage des Rauchs

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Die Tage des Rauchs
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ELLIS AVERY

Die Tage des Rauchs

11. – 21. September 2001

Mit einer Nachbemerkung

von Sharon Marcus

Aus dem amerikanischen Englisch

von Alex Stern


Für die Toten, die von hier und die von dort. Und für Sharon, in Liebe.

Inhalt

8. September

Notfall

17. Januar 1983

Tagebuch

8., 9., 10., 11. September

Normalzeit

11. September

Auf den ersten Blick

Sehen kann, sehen konnte

Was ich vom Fenster aus sah

Sommer 1996

Es war einmal

11. September

Es ist kein Unfall

Nur wir selbst, noch mehr als sonst

Zwei Sekunden

Möglichkeiten

Was ist passiert?

Ich habe es noch nicht erwähnt

Glück

Das Schweißtuch der Veronika

12. September

Mittwochmorgen

Engine 1, Ladder 24

Die neue Welt

13. September

Widerstandsfähigkeit

Regel 434

Am Washington Arch

Gesammeltes aus der donnerstäglichen Stadt

Meine Doktorarbeit in PR

14. September

Der grausamste Tag

Gesund gemacht, was der Heilung bedurfte

15. September

Betäubt

16. September

Ein Linderungsmittel

Stummer Frühling

Union Square

Gemeinschaft

17. September

Radio am Montag

Etwas

Der Schlüssel der Träume

18. September

Notizen aus der Woche danach

Das Ausschlachten

Exklusivinterviews

Ein bisschen Hintergrund

19. September

Pilgerschaft

Was ich downtown sah

Ruhet in Frieden

Ein paar Worte zum üblen Geruch

Verfall

20. September

Lass die linke Hand nicht wissen

Der Wutaltar

Regnerisches Neujahr

Friendly Skies

Terrorismus

Kognitive Dissonanz

Ristorante Delfina

21. September

Wo sie auf’s Neue aufgeht

Nachbemerkung

8. September

Notfall

Auf der letzten Party des Sommers am Samstag nach Labor Day zeigte uns meine Freundin Kathy ein Foto von den zwei Jungs ihres Bruders. »Der da ist Christopher«, sagte sie. »Sechs Jahre alt. Und jetzt kommt’s: Mein Bruder hat mir letzten Winter erzählt, wie Christopher total sauer von der Schule nach Hause gekommen ist, weil« – Kathy imitierte ab hier das ernsthafte Mienenspiel eines Kindes – »im Musikunterricht ein paar Kinder ganz blöd gewesen sind und die Lehrerin alle in die Ecke gestellt hat, sogar die Kinder, die, wie er, gar nichts gemacht haben. – Mein Bruder hat dann gesagt, Christopher soll doch der Musiklehrerin mitteilen«, Kathys Stimme wechselte ins Elternhafte, »dass er natürlich weiß, dass es wichtig ist, die Disziplin der Klasse aufrechtzuerhalten, aber dass dabei seine Gefühle verletzt worden sind und er sich deshalb eine Entschuldigung wünscht. Aber dann war die Lehrerin am nächsten Tag nicht in der Schule, und noch einen Tag später hatten sie schneefrei. Christopher wirkte auch eigentlich gar nicht unglücklich darüber, dass er an diesem Freitag zu Hause bleiben konnte, aber Samstagvormittag hämmert jemand plötzlich an die Haustür und ruft: ›Polizei. Aufmachen.‹

Mein Bruder hing gerade vorm Fernseher und ging zur Tür, meine Schwägerin kam von oben runter, wo sie gerade meinen andern Neffen gebadet hatte. Und so standen sie dann also im Eingang, er in Boxershorts und sie im gammeligen Bademantel mit nacktem Baby auf dem Arm.

Der Polizist schaut sie sich von oben bis unten an und sagt: ›Wir wurden wegen eines Kindes gerufen.‹

Und da kommt Christopher auch schon eifrig die Treppe runtergetapert: ›Ist die Polizei da?‹ Und mein Bruder: ›Wie bitte? Hast du die angerufen?‹«

Kathy sprach jetzt mit dem weinerlichen Gesicht eines Sechsjährigen weiter: »›Musiklehrerin … in die Ecke gemusst … meine Gefühle verletzt … Entschuldigung … konnt ich ihr ja am Donnerstag nicht sagen … konnt ich ihr ja am Freitag auch nicht sagen … und im Notfall … ruf 911!‹

Als der Polizist zu dem Schluss gekommen war, dass mein Bruder und seine Frau wohl nicht wirklich ihre Kinder prügeln, hat er versucht, Christopher zu erklären, wann man einen Notruf tätigt und wann nicht: ›Okay. Also: Was ist, wenn das Haus brennt?‹

›Ich ruf 911 an.‹

›Richtig, sehr gut. Und was ist, wenn deine Gefühle verletzt wurden?‹

›Ich ruf 911 an.‹

Da schaut der Polizist zu meinem Bruder und sagt: ›Hier dran müssen Sie mit ihm noch ein bisschen arbeiten.‹«

 
17. Januar 1983

Tagebuch

Ich habe eine Sendung über Nostradamus gesehen. Er hat vor ungefähr 400 Jahren gelebt und viele Sachen vorhergesagt. Für die Zukunft sagt er eine große Hungersnot im Jahr 1986 voraus (da bin ich 14) und 1988 mehrere Erdbeben.

Das ist noch nicht alles. Er sagt einen großen Krieg voraus, der 1994 vom Nahen Osten ausgeht, und die Zerstörung von einer der Großen Neuen Städte. 27 Jahre Krieg, dann 1000 Jahre Frieden. Die Welt geht ungefähr 3700 unter. Ich ziehe bis dahin nach Kanada um. Nach der Sendung habe ich Bauchschmerzen bekommen.

8., 9., 10., 11. September

Normalzeit

Das letzte Wochenende. Jennifers Geburtstag, Central Park. Birnentarte, Champagner. Der geräucherte Fisch von Russ & Daughters lag auf seinem Wachspapier da wie eine rituelle Opfergabe: das Sakrament des Picknicks. Eine Ärztin. Ein Architekt. Zwei Kinder mit Engelslocken. Kathy erzählte Geschichten über ihre Familie.

Die Sonne sank. Die Motten stiegen auf. Wir gingen in die Wohnung der Ärztin, um das Finale der Frauen bei den US Open zu gucken; eine grandiose Venus, eine grandiose Serena.

Am Morgen hatten Sharon und ich Sex und hatten dann ineinander verschlungen gelesen. Ich fraß mich schnell durch Natalie Angiers Frau. Eine intime Geographie des weiblichen Körpers und traf mich abends mit der Lesezirkeltruppe – Sara, Katrin, Kathy, Asya, Melissa und Lee.

Cassy hatte es nicht geschafft, sie und Julian übten noch für ihr Interview bei der Einwanderungsbehörde am nächsten Morgen.

Bei Cupcakes, die Kathy so glasiert hatte, dass sie wie Brüste aussehen sollten, besprachen wir das Paarungsverhalten von Affen.

Am Montag arbeitete ich an einer Buchbesprechung für eine Zeitschrift. Für Dienstagmorgen hatte ich mir vorgenommen, Kopien von meinem Roman zu machen und zu versenden.

Sharon ging Dienstag um 6 Uhr früh los zur Arbeit nach Princeton. Ich konnte nicht wieder einschlafen, also machte ich mir Frühstück. Ich war erstaunt über die zarten Baumschatten an den Gebäuden auf der anderen Straßenseite. Ich lebe im East Village in Manhattan, und meine Fenster gehen nach Süden, so dass das Morgenlichtschauspiel früh da und schnell wieder weg ist. Normalerweise verpasse ich es. Ich ermahnte mich dazu, noch meine Stimme bei der laufenden Wahl abzugeben, und brachte das Manuskript zum Kinko’s-Copyshop am Astor Place. »Kommen Sie in einer Stunde wieder«, hieß es da, also ging ich in den K-Mart nebenan. Ich kaufte Toilettenpapier, eine Zahnbürste und Seife. Ich habe später auf meinem Kassenbon nachgeschaut: Die Uhrzeit darauf war Punkt 9 Uhr morgens.

11. September

Auf den ersten Blick

Ich ging aus dem K-Mart raus und schaute in den Himmel. Ein perfektes Septemberblau. Durchkreuzt von einer schwarzen Rauchwolke, die von rechts nach links über die Lafayette Street hinwegwaberte.

Die Stadtverwaltung konnte nicht beschlossen haben, die arme Kate Millet durch Ausräuchern aus ihrer Wohnung an der Bowery zu vertreiben, denn die Wolke zog in die falsche Richtung, aber gemessen an der Fülle des Rauchs musste etwas ganz in der Nähe in Brand geraten sein. »Das ist Broadway, Ecke Houston Street«, nahm ich an, ein Block parallel und acht nach Süden. Brannte das Angelika-Kino?

Nach einer Erklärung suchend sah ich mich um. Niemand sonst blickte nach oben. Dann ging ein Mann schnell an mir vorbei, der in sein Mobiltelefon sprach. »Gerade ist ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht«, sagte er.

Ich dachte: »Aber das ist dreißig Blocks entfernt. Was für ein kranker Witz«, lief ihm trotzdem hinterher und zupfte ihn am Ärmel. »Stimmt das?«, fragte ich.

»Ja«, sagte er, ohne stehen zu bleiben.

Ich musste auf meine Kopien warten, also kaufte ich mir einen heißen Kakao und blieb, wo ich war, unter der schwarzen Würfelskulptur auf dem Astor Place. Bemerkten noch andere den Rauch?

Die meisten nicht. Das frühe Licht fiel auf Hunderte Gesichter von Menschen, die Richtung Broadway drängten oder Treppen hinabfluteten, um U-Bahnen zu erreichen. Männer schoben Besen oder trugen Aktentaschen, Schulmädchen knoteten ihre Uniformblusen hoch. Wahlkampfteams, zum Wahltag angetan mit ihren besten Sachen, verteilten Flyer für die Bürgermeister-Vorwahlen. Typen in einem Lieferwagen hupten Typen in einem Auto an. Frauen joggten vorbei und vollführten dann dieses komische Auf-der-Stelle-Weiterlaufen an den Fußgängerüberwegen. Und eine Studentin – als Rückblick auf den Trend von 1999 – stieß und stieß und stieß mit flatterndem Sommerkleid die Lafayette entlang ihren silbernen Roller an, ihr Gesicht in der Sonne wie noch heißes neues Glas. Der Astor Place sah aus wie ein Bild von Edward Hopper, seine unterschiedlich breiten hellen Flächen wuselnd voll an diesem makellos blauen Septembertag. Wenige Leute, meistens welche mit Mobiltelefonen, starrten hoch zu dem sich entfaltenden Horror, manche zeigten nach oben.

Und eine einzige Frau rannte, kämpfte sich durch, ihr feiner Schal wehte hin und her. Ich konnte von der anderen Straßenseite aus das Weiße in ihren Augen sehen.

Natürlich musste ich meine Kopien noch abholen. Ich war wie die anderen: eine Geisel meiner sogenannten Zukunft. Wir steckten weiter in der alten Welt, und diese Frau war schon in eine neue eingebrochen.

Sehen kann, sehen konnte

Ich kam in den Copyshop und hörte jemanden brummeln: »Scheiß Terroristen«.

»Das ging schnell«, dachte ich. »Woher will er wissen, dass es kein Unfall war?«

Ich wollte mit Kreditkarte bezahlen, aber die Frau sagte: »Alle unsere Verbindungen sind tot wegen dem, was gerade passiert ist.« Sie holte ein Formular hervor, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass es das gibt; ich füllte es aus, und sie sagte, sie würde die Zahlung später durchführen. »Hier war eben ein Mann«, sagte sie. »Der war zu spät dran gewesen für ein Meeting im World Trade Center und zitterte richtig.« Sie sah nach draußen. »Ich hoffe, es ist nicht so schlimm, wie’s aussieht.«

Das Ungeheuerliche dieses Morgens schlug sich bei mir zuallererst in einer logistischen Frage nieder: Von wo aus könnte ich am besten etwas sehen? Von wie weit weg? Von wie hoch? »Ich wohne im East Village; meine Fenster gehen nach Süden. Ich habe ja die zarten Baumschatten an den Gebäuden auf der anderen Straßenseite gesehen.« Ich hatte vergessen, und es fiel mir dann wieder ein, dass ich das World Trade Center von meinem Fenster aus jeden Tag sehen kann, sehen konnte.

Ich stieg vier Treppen hoch, setzte mein Zeug ab und ging in den vorderen Raum.

Was ich vom Fenster aus sah

Beide Türme brannten. Konnte das Flugzeug quer durch beide geschlagen sein?

Ich hatte nie darauf geachtet, wie schuppenartig ihre Fenster aussahen. Beide Gebäude sahen aus wie abbrennende Fische. Wie Jennifers geräucherter Fisch auf seinem Wachspapier, nur in Brand geraten.

Wie zwei Lungenflügel, nur in Brand geraten.

Wie zwei Bienenkörbe: intakte Zellen unten, zerstörte Zellen oben, eine orange Flammenschicht als Trennmarke zwischen vollständig und verwüstet.

Dann hüllte Rauch den Südturm ein, und weg war er.

Sommer 1996

Es war einmal

Vor fünf Jahren bin ich mit zwei Freundinnen hierhergezogen, Jan und Janna. Verliebt in unser neues Leben nahmen wir die U-Bahn rauf zu den Cloisters im Norden und runter zum Battery Park im Süden. Wir nahmen die schaukelnde Seilbahn über den Fluss nach Roosevelt Island, wir fuhren Kajak auf dem Hudson, wir spazierten über die Brooklyn Bridge.

Einmal nahmen wir spätabends den Aufzug zur obersten Etage des World Trade Centers. Es gab da eine Stelle, wo man kostenlos aus dem Fenster schauen konnte.

Die Welt, die wir sahen, war schwarz und blau und golden, Keile und Säulen aus hellen Fenstern und dunklem Stahl. Kleine, aber gut sichtbare Männer und Frauen machten Nachtschicht an ihren Schreibtischen, eingerahmt und erleuchtet wie byzantinische Heilige.

Die Bauten strahlten aufwärts, erhellten den Himmel und sich gegenseitig in der Höhe. Weit unten sahen wir winzige Straßen, deren bloße Namen schon – innerhalb einer Reißbrettstadt aus nummerierten Gebäudeblöcken und Fahrdämmen – schummrig, schmal und nach Dickens klangen: Old Slip, Coenties Slip, Thames, Vesey, Gouverneur und Maiden Lane. Von oben bildeten sie in der Nacht ein dunkles Filigran, eine Patina, aus der die leuchtenden Türme umso heller aufflammten.

All das machte uns ganz schwach vor Wonne. Als wir uns sattgesehen hatten, nahmen wir den Aufzug wieder hinunter, schauten hoch in dessen verspiegelte Decke und drehten uns mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Und jede von uns sagte auf ihre Weise dieses Gebet an die Stadt, die wir eben gesehen hatten: »Ergreife mein Herz. Nimm mich mit.«