Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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From the series: Kullmann-Reihe #2
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Kullmann jagt einen Polizistenmörder
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Elke Schwab

Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Elke Schwab

Kullmann jagt einen Polizistenmörder

Kullmann-Reihe 2


Originaltitel:

Kullmanns letzter Fall

Kullmann

jagt

einen

Polizistenmörder

Kullmann-Reihe 2

Elke Schwab

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2019

www.elkeschwab.de

Covergestaltung: Elke Schwab

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

Der Winter kündigte sich regnerisch an. Wie schon seit Wochen blieb auch heute der Himmel hinter schweren, grauen Wolken versteckt, die das wenige Tageslicht in sich aufsogen. Der Feierabend konnte erst nach Einbruch der Dämmerung beginnen. Wenn man danach etwas zu erledigen hatte oder nach Hause kam, war es schon nächtlich dunkel.

Walter Nimmsgern konnte seine Freude kaum zügeln, weil er schon seit Monaten an dem Fall Luise Spengler gearbeitet hatte. Zäh hatte er seine Idee verfolgt, der Weg zur Lösung lag ihm klar vor Augen, es hatte bisher nur dieses eine Ergebnis gefehlt. Das letzte Mosaiksteinchen, das seine Mühen krönte. Nimmsgern ärgerte sich jedoch darüber, dass ausgerechnet heute Kullmann nicht im Büro gewesen war. Deshalb musste er den Bericht mit nach Hause nehmen. Nur dort war er gut aufgehoben. Er wusste, dass er ausschließlich Kullmann seine Beweise vorlegen durfte, um ihm damit unmissverständlich klar zu machen, wem die Lösung des Falles zu verdanken war. Nimmsgern stellte sich die Szene vor, wie er vor seinem Chef mit diesem letzten Beweisstück auftauchte, nach dem der lange verzweifelt gesucht hatte. Nimmsgern war dessen nervöser Eifer von Anfang an nicht entgangen; er vermutete, dass persönliche Gründe in diesem Fall mitspielten. Was würde sein Chef für Augen machen. Eine kindliche Vorfreude traf Nimmsgern mit der Gewissheit, dass dann endlich gesehen würde, wie erfolgreich er arbeitete.

Auf dem schwach beleuchteten Innenhof stieg er in seinen Wagen und ließ sich in die abgewetzten Polster sinken. Eine fast schmerzhafte Müdigkeit überfiel ihn; die letzten Tage hatten ihn sehr gefordert, er konnte nur mit äußerster Mühe seinen baldigen Triumph hinter einer freundlichen Fassade verbergen. Jetzt erst mal richtig ausschlafen…

Seinen Wagen steuerte er bedächtig auf den Heimweg. Verstohlen erlaubte er sich einen gelegentlichen Blick auf den Beifahrersitz, auf dem der graue Umschlag lag. Er kannte das Verbot, dienstliche Dokumente aus der Dienststelle zu entfernen. Aber er vertraute nicht mehr auf die Sicherheit der amtlichen Schreibtischschlösser. Eine bittere Erfahrung hatte sogar Kullmann vor einiger Zeit machen müssen, aus dessen Schreibtisch in einer Nacht- und Nebelaktion die wichtigsten Unterlagen kurz vor dem Abschluss eines Falls gestohlen worden waren. Außerdem saß Hübner in den Startlöchern, um sich für den ersten Platz der anstehenden Beförderung zu empfehlen. Hübner war so karrieregeil, dass er das entscheidende Ergebnis bestimmt als seinen Verdienst darstellen würde. Er hatte keinerlei Skrupel, sich auf den Lorbeeren anderer auszuruhen. Auch seinem Teamkollegen Horst Esche traute er nicht über den Weg, wenn es ans Eingemachte ging. Er riss ähnlich wie Hübner alles an sich, weil er immer im Mittelpunkt stehen musste. Nimmsgern verachtete diese eitlen und rücksichtslosen Selbstdarsteller, die den Namen Kollegen nicht verdient hatten. Heute fühlte er sich endlich sicher, dass nur er die Beförderung verdient hatte. Jetzt hatte er die große Chance. Mit dem Ergebnis der Fingerabdrücke wollte er allein die Ernte einfahren. Mit dieser Trumpfkarte musste Kullmann ihm die Türen für seine Beförderung öffnen. Dann wäre er nicht mehr fünftes Rad am Wagen, niemand würde ihn mehr unterschätzen. Und der aufkommende Neid seiner abgehängten Konkurrenten wäre ihm Beweis für seine Tüchtigkeit und seinen Triumph.

Nach den letzten Häusern mündete der Rotenbühler Weg in eine asphaltierte Straße, die durch ein Waldstück führte, das er wie seine Westentasche kannte. Diese Strecke war für den Durchgangsverkehr nicht erlaubt. Aber Nimmsgern kannte den Förster des Stadtwaldes am Schwarzenberg und hatte sich mit ihm geeinigt, weil er auf die Abkürzung zu seinem Wohnhaus in Dudweiler nicht gerne verzichten wollte. Als er dort einbog, begann sein Auto plötzlich zu stottern. Tuckernd fuhr er noch einige Meter, bis der Motor völlig erstarb und das Auto liegen blieb. Verärgert versuchte er, neu zu starten, aber der Motor wollte nicht mehr anspringen. Nimmsgern schaute sich um und musste widerstrebend feststellen, dass alles stockdunkel um ihn herum war. Er befand sich ganz tief im Wald – weit und breit keine Zivilisation.

Nach einigem Zögern steckte er seine SigSauer 9mm in die Jackentasche, man konnte ja nie wissen. Den Bericht der Spurensicherung steckte er in die andere Tasche. Er stieg aus und schob seinen Wagen an den Seitenrand.

Es war so dunkel, dass er die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Langsam setzte er sich in Bewegung, wobei er auf seine Schritte achten musste, denn der Straßenrand war schadhaft und unbefestigt. Manchmal geriet er mit seiner Leibesfülle ins Stolpern, konnte sich aber fangen.

Vielleicht gehörte diese letzte Anstrengung mit zu diesem Tag, als Spiegel seiner vergangenen Mühen, die er ganz alleine und gegen die schwierigsten Hindernisse bewältigt hatte. Er glaubte das Knistern des Papiers zu hören, das unter seiner Jacke gut verwahrt war. Das ermunterte ihn, gegen seine Müdigkeit anzugehen, diese dümmliche Panne zu meistern. Das Papier war das Sprungbrett für seinen bevorstehenden Erfolg.

Plötzlich hörte er ein Knacken hinter sich. Erschrocken drehte sich Nimmsgern um, konnte aber nichts erkennen.

»Ist da jemand?«, rief er.

Statt einer Antwort hörte er wieder das Knacken von Ästen. Rehe konnten das keine sein. Das Knacken war so laut, dass es ein schwerer Körper sein musste, der auf die Äste trat. Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn er hier mitten im Dunklen verharrte, gäbe er ein leichtes Opfer ab. Durch diese Erkenntnis angespornt, beeilte Nimmsgern sich, dort wegzukommen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, dass ihm sein Übergewicht zum Nachteil werden konnte. Es ging verdammt schnell, schon bekam er keine Luft mehr. Aber er wollte sein Tempo nicht verringern. Seine Beine packten ihn nicht mehr und er begann ständig zu stolpern. Sein Kopf dröhnte, trotzdem hörte er in aller Deutlichkeit, dass das Knacken der Äste ihm im gleichen Abstand folgte. Sein Verfolger hatte mit ihm ein leichtes Spiel.

 

Endlich gelangte er an eine Lichtung. Der Mond kam hinter den Wolken hervor. Nimmsgern konnte etwas sehen. Er zog seine SigSauer aus der Jackentasche, hielt sie mit beiden Händen fest, nach Vorschrift ganz dicht am Körper, jederzeit zum Einsatz bereit. Hastig drehte er sich um und zielte. Aber das Einzige, was er sah, war ein Schatten, der in einem Dickicht verschwand.

»Polizei! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße.«

Hinter dem Dickicht bewegte sich nichts mehr. So verzweifelt Nimmsgern auch versuchte, dort etwas zu erkennen, fand er nichts. Angestrengt starrte er weiter in die Richtung, wo er den Schatten gesehen hatte. Vergebens. Nichts zu hören, nichts zu erkennen. Sein Kopf bewegte sich ruckartig hin und her, um das Blickfeld zu weiten. Seine Augen blieben endlich an einem dicken Baumstamm hängen. Bewegte der sich nicht, wölbte der sich nicht zur Seite, mal links, mal rechts? Der Stamm schien sich schattenhaft zu verformen.

»Legen Sie die Hände hinter den Kopf und kommen Sie langsam hinter dem Baum hervor.«

Nichts bewirkte diese Aufforderung. Nimmsgern wollte soeben seinen Befehl wiederholen, da löste sich der Schatten von dem Baumstamm und verschwand in ein tiefschwarzes Dickicht. Nimmsgern konnte unmöglich von seiner Waffe Gebrauch machen. Niemand bedrängte ihn unmittelbar, dass er sich auf Notwehr berufen könnte. Er jagte möglicherweise einem Phantom hinterher.

Als wenn sein unsichtbarer Gegner seine Gedanken lesen könnte, vernahm Nimmsgern von weitem ein leises Kichern.

Gänsehaut kroch ihm über den Nacken. Mit wem hatte er es zu tun? Die Liste seiner Verwandten und Bekannten raste blitzschnell an ihm vorbei. Gab es einen Streit, der Rache forderte, ein Kriegsbeil, das ausgegraben werden musste? Niemand fiel ihm ein, der ihm Böses antun wollte. Und diejenigen, die nicht sehr glücklich über seine Ergebnisse sein würden, konnten unmöglich Wind von seinen Recherchen bekommen haben. Bald würde eine Bombe einschlagen. Dann würden die Karten neu gemischt. Er würde sich ein unvergessliches Denkmal setzen können. Also, wer blieb da noch?

Sabotage, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das war doch unmöglich. Wie hätte jemand sein Auto so manipulieren können, dass es ausgerechnet an dieser Stelle stehen blieb?

Angestrengt versuchte Nimmsgern eine Bewegung hinter der Dornenhecke auszumachen, aber wieder nichts. Sein Verfolger trieb ein makaberes Spiel mit ihm und war ihm haushoch überlegen.

Plötzlich erblickte er eine Gestalt, die sich blitzschnell in Bewegung setzte. Ein mühsam herausgepresstes »Halt! Stehen bleiben!«, konnte den anderen nicht aufhalten. Er holzte durch das Gestrüpp, wobei er gelegentlich tierische Schreie ausstieß. Nimmsgern wagte kaum, zu atmen. Staunend lauschte er dem Treiben hinterher, bis es abebbte. Die alte Stille umfing ihn wieder wie eine klamme Rüstung. Sollte das das Ende des Spuks sein? Erleichterung überkam ihn. Er sog tiefer die kalte Luft ein, wie um verlorene Kraft aufzutanken.

Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort. Erleichtert steckte er seine Waffe in seine Jackentasche zurück.

Aber es dauerte nicht lange, da tauchte im Schein einer Straßenlaterne ein Mann vor ihm auf. Nimmsgern zuckte zusammen, weil er sich schon in Sicherheit geglaubt hatte. Als er das Lachen des Mannes hörte, erkannte er ihn. Wütend über die Frechheit dieses Kerls, ihn in der Stunde größter Lebensgefahr auch noch auszulachen, schimpfte er: »Was tust du hier? Willst du dich an meinen Angstzuständen weiden?«

Sein Gegenüber lachte einfach weiter.

»Um mir zu helfen, bist du doch bestimmt nicht hier.«

Der andere lachte leise weiter, kaum hörbar, trat ohne Hast auf ihn zu und tat etwas völlig Unvorhergesehenes. Plötzlich, ohne dass Nimmsgern verstand, wie das überhaupt möglich war, schaute er in den Lauf seiner eigenen Waffe.

Kapitel 1

Wie oft hatte Anke schon die Akte studiert? Der zündende Gedanke wollte einfach nicht kommen, wie es bei Arthur Conan Doyles Hauptfigur Sherlock Holmes immer im entscheidenden Moment funktionierte. Seit neun Monaten wurde inzwischen der Todesfall Luise Spengler in ihrer Abteilung bearbeitet, und sie waren noch keinen Schritt weitergekommen. Im August des vergangenen Jahres war Luise aus dem Fenster ihres Schlafzimmers in den Tod gestürzt. Selbstmord kam nicht in Frage, weiter waren sie mit ihren Ermittlungen nicht gekommen. Aber wie sollten sie noch nach so langer Zeit zweifelsfrei feststellen können, dass Mord vorlag und kein tragischer Unfall? Ihr Vorgesetzter, Norbert Kullmann, war von dem Gedanken geradezu besessen, dass Luise Spengler aus dem Fenster gestoßen worden war. Und seine Hartnäckigkeit hatte sie kennengelernt. Dagegen war kein Kraut gewachsen. Also musste sie darauf hoffen, auf Indizien zu stoßen, da es nach so langer Zeit wohl kaum noch Beweise gab.

Seufzend erhob sie sich, stellte sich ans Fenster, das zur Straße lag, und beobachtete die Menschen, die geschäftig dort vorbeieilten. Der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite; die Sonne schien, die Temperaturen waren herrlich angenehm. Bei dem Anblick der Menschen, die ausgelassen und gut gelaunt durch die Straße gingen, bekam Anke das trügerische Gefühl, alles sei unbeschwert und heiter. Aber wenn sie sich umdrehte und in die Büroräume schaute, insbesondere auf die Arbeit, die auf ihrem Schreibtisch lag, beschlich sie das Gefühl, dass der Schein trog.

Vor einem halben Jahr, im November des letzten Jahres, war ein Kollege aus der Abteilung, Walter Nimmsgern, auf dem Nachhauseweg erschossen worden. Dieses schreckliche Ereignis hatte sie alle aus dem Gleichgewicht gebracht, weil ihnen dadurch vor Augen geführt worden war, welchen Gefahren sie wirklich ausgesetzt waren. Das Bild, das Verbrechen geschehe an wildfremden Menschen und die Kollegen seien nur dafür da, es aufzuklären, war damit ins Wanken geraten. Es konnte alle treffen, wie sie hautnah hatten miterleben müssen, auch einen Kollegen der Polizei. Besonders belastend wirkte es sich noch dadurch aus, dass es von dem Täter nicht die geringste Spur gab. Im Laufe der Zeit hatte sich die Verunsicherung in der Abteilung zwar etwas gelegt, aber eine schwelende Angst war zurückgeblieben. Bei ungewöhnlichen Geräuschen drehte Anke sich oft erschrocken um und fürchtete, dass sie die Nächste sein könnte. Die Tatsache, dass auch der Fall immer noch nicht aufgeklärt war, schürte diese Angst. Entmutigend kam hinzu, dass ausgerechnet im Fall des Polizistenmordes, der Anlass zu besonders intensiven Ermittlungen sein sollte, keinerlei Hinweise auf das Motiv, geschweige denn auf einen möglichen Verdächtigen gefunden werden konnten. Sie tappten im Fall Nimmsgern völlig im Dunkeln. Das bedeutete, dass es zwei unaufgeklärte Todesfälle in ihrer Abteilung gab, eine Bilanz, die nicht nur nicht vorzeigbar, sondern auch gerade für Kullmann besonders erschütternd war, weil er ausgerechnet in diesem Herbst in Pension gehen wollte. Mit Sicherheit wollte er seine vierzigjährige Dienstzeit nicht mit zwei unaufgeklärten Mordfällen abschließen. Eine derart unbefriedigende Situation hatte es in seiner langen Dienstzeit noch nicht gegeben.

Als sie so ihren Gedanken nachhing, erinnerte Anke sich wieder daran, dass Nimmsgern bis zu seinem Tod an dem Fall Luise Spengler gearbeitet hatte und regelrecht davon besessen gewesen war, gute Ergebnisse zu bringen. Es tauchten Bilder von seinen letzten Tag auf, bevor er erschossen worden war. Nimmsgern hatte ihr vor seinem Weggang noch von einer unheimlich wichtigen Spur vorgeschwärmt, die endlich zu Luise Spenglers Mörder führen würde. Es war schon immer seine Art gewesen, in Rätseln zu sprechen. Sie erlebte ständig, dass er seine Kollegen auf Distanz hielt. Nimmsgern wirkte immer unnahbar und abweisend, was wohl mit den ständigen Hänseleien der Kollegen über seinen unersättlichen Hunger zu tun hatte. Wer weiß, vermutlich war er selbst unglücklich darüber, und alle hatten kräftig in dieser Wunde gerührt. Deshalb gab es niemanden, dem er sich anvertraut hätte; so hatte er vermutlich sein Geheimnis mit ins Grab genommen.

Es war schon spät und rasch begann sie, ihren überfüllten Schreibtisch aufzuräumen. Die Tage wurden wieder länger, es war endlich wieder Frühling geworden. Das war ein Trost für sie, weil die Sonne sogar noch nach Feierabend lachte. Mit dem Kopf voller Pläne, wie sie ihren freien Abend verbringen wollte, bereitete sie sich auf den Heimweg vor, als Hübner ihr Büro betrat.

»Willst du schon Feierabend machen?«, fragte er ganz vorwurfsvoll.

»Ja! Mir ist nicht bekannt, dass ich die Pflicht habe, mich bei dir abzumelden«, konterte Anke böse. »Oder hast du dich schon vorsorglich selbst zum Chef ernannt?«

Hübner überhörte einfach Ankes Ironie und begründete seinen Vorwurf: »Inzwischen ist Nimmsgern schon ein halbes Jahr tot, und wir haben immer noch keine Spur. Wie kannst du da nur an den Feierabend denken?«

»Ganz einfach, weil ich nicht mit dir an dem Fall arbeite – hast du das schon vergessen? Dann erinnere ich dich daran: Ich arbeite zusammen mit Kullmann an dem Mordfall Luise Spengler.«

»Ja, und die Ironie daran ist, dass der Fall Luise Spengler noch länger zurückliegt und noch nicht einmal klar ist, ob es wirklich Mord war. Du bringst keine Ergebnisse zustande und denkst nur an dich«, blieb Hübner hartnäckig.

»Und noch viel ironischer ist, dass dich der Fall Luise Spengler überhaupt nichts angeht. Mach du deine Arbeit und ich meine. Was hältst du davon?«

»Verdammt, du verstehst überhaupt nichts mehr, seit du nur noch die Pferde im Kopf hast«, sprach Hübner endlich das aus, was ihn bedrückte. »Dieser Mist ist dir schon in den Kopf gestiegen.«

»Daher weht also der Wind. Mein Privatleben geht dich nichts an. Dass wir beide mal zusammen waren, heißt nicht, dass du dich heute noch in mein Leben einmischen kannst. Wann kapierst du das endlich? Ich lasse mich nicht von dir beleidigen. Da höre ich lieber auf den Rat meines Chefs und genieße mein Privatleben. Ich vernachlässige meine Arbeit nicht, verlass dich drauf.« Anke zog ihre Sporttasche aus dem Schrank.

Vor einigen Monaten hatte sie sich endlich dazu entschlossen, reiten zu lernen. Davon war sie durch nichts abzuhalten. Die Arbeit mit den Pferden machte ihr unendlich viel Spaß. Zu Hause konnte sie sich kein Haustier halten. Ein Hund oder eine Katze würde viel zu viele Stunden in ihrer kleinen Wohnung alleine verbringen müssen, was sie keinem Tier antun wollte. Aber durch das Reiten erfüllte sie sich ihren Wunsch, ein Tier in ihrer Nähe zu erleben. Der Umgang mit den Schulpferden machte ihr Freude. Diese Tiere waren brav und reagierten auf sie. Niemals hätte sie geahnt, dass Pferde so menschenbezogen und einfühlsam sein könnten. Sie waren ein wundervoller Ausgleich für ihre angespannte Polizeiarbeit und den ständigen Leistungsdruck. Ihr Herz schlug immer höher, wenn ein Pferd wieherte, sobald es ihre Stimme hörte. Seit sie mit ihrer früheren Freundin gelegentlich am Koppelrand gesessen und die Herde wild tobender Pferde beobachtet hatte, deren ungebändigte Lebensgier und deren Schönheit und Eleganz hatte bewundern können, war ihr diese Idee gekommen. Und sie bereute es nicht, obwohl sie schon einige Male heruntergefallen war und sich jede Menge blaue Flecken zugezogen hatte.

Sie zog sich ihre Reithose und ein T-Shirt an, während Hübner im Nachbarzimmer wartete, bis sie fertig umgezogen war. An diesem Tag würde sie zum ersten Mal, seit sie im Reitverein war, auf dem Außenplatz reiten. Sie spürte, wie aufgeregt sie war. Schnell bürstete sie ihre kurzen, dunklen Haare kräftig durch. Als sie mit dem Reiten angefangen hatte, hatte sie ihre schulterlangen Haare abschneiden lassen, weil ständig der Pferdeduft darin hing, was auf der Dienststelle nicht immer auf Wohlwollen gestoßen war.

Als Hübner wieder das Zimmer betrat, bewunderte er ihre sportliche Figur, die durch die enge Reithose noch mehr betont wurde. Aber Anke ließ ihm kaum Gelegenheit dazu, weil sie diese Blicke bereits bestens kannte. So sehr er sich auch bemühte, wieder bei ihr zu landen, so deutlich zeigte sie ihm, dass die Trennung endgültig war.

Mit ihrer Tasche über der Schulter marschierte sie los und steuerte das Zimmer ihres Chefs an, um sich zu verabschieden. Kullmann war nicht allein in seinem Büro, doch als Anke sich wieder zurückziehen wollte, wurde sie von den beiden älteren Herren gebeten, einzutreten. Sie kannte den Besucher nicht, er war ein Kollege der uniformierten Polizei. Kullmann stellte ihn ihr als langjährigen Arbeitskollegen und Freund vor. Die beiden Alten bestaunten sie in ihrem sportlichen Dress und der Kollege meinte: »Schade, dass die Reiterstaffel im Saarland schon seit 1987 nicht mehr existiert. Eine so sympathische junge Frau hätte ich gerne in meiner Einheit gehabt.«

 

»Das heißt, Sie waren bei der berittenen Polizei?«, staunte Anke.

»Oh ja! Bis zum Schluss.«

»Ich glaube, dort hätte ich Ihnen nicht viel genützt. Ich falle ja ständig herunter«, lachte Anke, doch der Kollege winkte ab und entgegnete: »Das gehört dazu. Ein Reiter ist nur dann gut, wenn er nach einem Sturz wieder auf ein Pferd aufsteigt. Daran erkennt man sein Durchhaltevermögen.«

»Was wurde aus Ihrem Pferd, nachdem die Reiterstaffel eingestellt worden ist?«

»Ich habe den Wallach einfach abgekauft und mit nach Hause genommen«, erzählte der ältere Kollege mit schwärmerischem Blick. »Und dort läuft er heute noch auf der Koppel herum und richtet Unheil an.«

»Ach. Wie alt ist er denn jetzt?«

»Er ist schon achtundzwanzig Jahre alt und immer noch kerngesund. Nur manchmal glaube ich, dass er senil geworden ist.«

»Erzählen Sie.«, forderte Anke auf, weil sie vor Neugierde brannte.

»Wir haben eine kleine Herde von vier Pferden in Dillingen-Diefflen auf der Koppel stehen. Dort ist auch mein betagter früherer Arbeitskollege dabei. Immer wenn ich abends die Pferde rufe, laufen alle zielstrebig zum Stall, weil sie wissen, dass dort Futter auf sie wartet. Nur mein Rentner nicht. Er verläuft sich jedes Mal und dann muss ich den weiten Weg über die Koppel gehen und ihn zum Stall führen.«

Anke und Kullmann lachten.

»Hinzu kommt, dass er sich morgens, wenn ich den Pferden die Boxentüren öffne, um sie auf die Koppel laufen zu lassen, ebenfalls verläuft. Ständig muss ich ihn suchen, weil der alte Diener sich mal wieder in den angrenzenden Heuschober verirrt hat. Und weil er so groß und kräftig ist, ist es schon vorgekommen, dass er zwischen den Heuballen feststeckte und ich ihn mühsam befreien musste.«

Anke und Kullmann amüsierten sich prächtig.

»Sie sehen, ich habe immer noch meine Freude mit ihm. Solange er keine Schmerzen leidet und sich wohlfühlt, behalte ich ihn. Er hat sich sein Gnadenbrot redlich verdient.«

Der Kollege verabschiedete sich und ließ Kullmann mit Anke allein zurück.

»Bisher hatte ich gar keine Ahnung von Pferden. Jetzt habe ich wirklich den Eindruck, dass Sie sich ein sehr schönes Hobby ausgesucht haben«, meinte Kullmann gut gelaunt. »Mit den Pferden können Sie endlich einmal etwas für sich selbst tun, was Sie bisher sträflich vernachlässigt haben. Das beweist mal wieder, dass Ihnen die erfrischenden Ideen nicht ausgehen.«

»Das allein verschafft Ihnen diese gute Laune?«, hakte Anke nach, als sie Kullmanns zufriedenes Gesicht sah.

»Oh nein. Auch Ihre wohltuende Anwesenheit. Seit Sie mit dem Reiten angefangen haben, wirken Sie noch fröhlicher und charmanter, obwohl das eigentlich kaum zu überbieten ist.«

Anke freute sich immer wieder über Kullmanns schmeichelnde Worte, sie erkannte jedoch, dass da noch etwas war.

»Das ist aber nicht alles.«

Verschmitzt grinste Kullmann und meinte: »Ihnen kann ich nichts vormachen.«

»Ich bin bei Ihnen durch eine gute Schule gegangen.«

»Ja, und meine Bemühungen waren wirklich nicht umsonst.«

»Weichen Sie mir nicht aus«, erinnerte Anke ihren Chef wieder an ihre Frage, so dass Kullmann nun endlich zum Thema kam: »Ich bin im Fall Luise Spengler einen Schritt weitergekommen. Die Anwaltskanzlei der Familie Spengler hieß früher Otto Klein und Söhne. Diese Kanzlei gibt es nicht mehr, weil Otto Klein inzwischen verstorben ist. Aber durch meine Recherchen habe ich endlich herausgefunden, dass die sogenannten Söhne alle Schwiegersöhne sind, weil Otto Klein keine Söhne, sondern nur Töchter hatte. Die Kanzlei heißt nun Klose & Partner. Also bin ich auf Verdacht zu dieser Kanzlei gegangen und habe dort den Anwalt Bertram Klose angetroffen, einen der Schwiegersöhne. Bertram Klose hatte Luise Spengler als seine Mandantin vertreten. Mit ihm habe ich heute gesprochen.«

Anke stutzte: »Wie kann dieser Anwalt uns weiterhelfen?«

»Ganz einfach: Luise Spengler hatte die Scheidung eingereicht.«

»Und das soll ein Motiv für einen Mord sein?«

Kullmann kratzte sich am Kinn und meinte nachdenklich: »Luise kam aus einer sehr reichen Familie. Geld war schon immer ein Mordmotiv.«

»Im Fall einer Scheidung bekommt der Ehemann aber auch ein gutes Stück vom Kuchen«, überlegte Anke weiterhin skeptisch. »Glauben Sie, dass Kurt Spengler so gierig war und sich damit nicht abfinden wollte?«

»Nein, ich habe von Anwalt Klose erfahren, dass Luises Vater bei der Eheschließung auf einen Ehevertrag bestanden hatte, nämlich Gütertrennung.«

»Oh«, stutzte Anke. »Aber Kurt Spengler ist Bankdirektor einer der größten Banken des Saarlandes. Er verdient doch weiß Gott genug.«

»Ja, das ist noch der einzige Haken an meiner Theorie. Aber ich habe das Gefühl, auf eine verdammt gute Spur gestoßen zu sein.«

Wieder staunte Anke über Kullmanns Hartnäckigkeit in diesem Fall. Bevor sie in den Feierabend ging, fragte sie, was sie schon lange beschäftigte: »Wer war Luise Spengler wirklich?«

»Wie sagt man unter Reitern: Ein dreifaches Horrido!«, lenkte Kullmann einfach ab. Anke verstand den Wink sofort.

Als sie die Tür zu Kullmanns Büro hinter sich geschlossen hatte und durch den leeren Flur ging, begegnete ihr Esche. Er war tadellos gekleidet, trug einen Anzug von Carlo Colucci. Wenn Anke sich nicht täuschte, benutzte er auch das Parfüm dieser hochwertigen Marke. Aber sie verspürte kein Bedürfnis, ihre Eindrücke zu überprüfen. Bei Esche hatte sie ohnehin schon Mühe genug, ihn auf Distanz zu halten. Seine Annäherungsversuche verlangten Ankes volle Aufmerksamkeit. Esche war vor zwei Jahren in ihre Abteilung gekommen und hatte sich durch seine Fahndungserfolge in der kurzen Zeit einen unheimlich guten Ruf verschafft. Nur ihm war es gelungen, einen Kindermord in Merzig aufzuklären, an dem alle Kollegen wie besessen gearbeitet hatten, weil keiner von dieser schrecklichen Tragödie unberührt geblieben war. Aber Esche war kaum in die Abteilung versetzt worden, schon hatte er den entscheidenden Beweis gefunden, der zur Lösung des Falles beigetragen hatte. Sogar Kullmann hatte sich mit seinen Ermittlungen festgefahren und war heilfroh, dass es dem Neuen gelungen war, diesem Albtraum ein Ende zu setzen. Deshalb schätzte er ihn sehr, was er auch oft zum Ausdruck brachte. Anke konnte das nicht nachempfinden. Seit Esche in der gleichen Abteilung wie sie arbeitete, ließ er keine Gelegenheit aus, sich an sie heranzuschleichen oder ihr frivole Angebote zu machen. Sie fühlte sich in seiner Nähe nicht wohl und schon gar nicht, wenn sie ihm allein begegnete. Aber sie wusste, dass sie mit ihrer Antipathie gegen ihn alleine in dieser Abteilung war, denn Esche war beliebt bei den Kollegen. Außerdem sah er gut aus, was sein ohnehin starkes Selbstbewusstsein nur bestätigte. Diese Vorzüge setzte er geschickt ein. Keine Gelegenheit ließ er aus, Anke seine Selbstzufriedenheit zu zeigen, was sie ärgerte. Sie fand sein Gehabe zum Kotzen. Was sie aber ganz besonders ärgerte, war, dass er in ihr keine ebenbürtige Arbeitskollegin sah, sondern nur eine Frau. Frauen hatten in seiner hierarchischen Vorstellung keine Berechtigung auf Gleichstellung. Seine chauvinistische Einstellung war unübersehbar. Anke lehnte seine herablassende Haltung als entwürdigend ab. Aber damit musste sie sich arrangieren, denn mit ihren persönlichen Eindrücken würde sie bei Kullmann kein Gehör finden, weil er Esche als Polizeibeamten sehr schätzte und auf seine Fähigkeiten nicht mehr verzichten wollte.

»Verdammt heiß siehst du aus«, meinte er mit zuckersüßer Stimme.

»Verschwinde lieber, sonst muss ich kotzen«

»Das glaube ich nicht. Oder leidest du an Bulimie, wie so viele junge Frauen, die mit Gewalt schlank sein wollen?«

Anke ärgerte sich darüber, wie aalglatt er ihre Abfuhr überging.

»Dieser Reitsport hat wirklich seine Vorzüge«, machte er einen neuen Anlauf; als sie an ihm vorbeiging, gab er ihr einen Klaps auf den Po.

Im gleichen Augenblick, als Anke ihn anschnauzen wollte, betraten Esther Weis und Jürgen Schnur den Flur. Als sie Anke und Esche sahen, meinten sie vergnügt: »Hey ihr Beiden, es gibt schönere Orte, den gemeinsamen Feierabend zu verbringen. Gelegenheiten, Überstunden zu machen, bekommt ihr noch genug.«

Mit dem Ausdruck unverschämter Zufriedenheit verschwand Esche in seinem Büro, während Anke mit hochrotem Kopf das Gebäude verließ.

Sie hätte dem Kollegen Jürgen Schnur mehr Feingefühl zugetraut. Seit Anke auf dieser Dienststelle arbeitete, kannte sie ihn als zuverlässigen und aufmerksamen Mitarbeiter, der immer sachlich blieb. Wie war es möglich, dass er sich plötzlich zu oberflächlichen Floskeln hinreißen ließ?

Esther war ihm vor zwei Jahren als Teamkollegin zugeteilt worden. Hatte sie ihn schon beeinflusst?

Während Esther ihr Leben in vollen Zügen genoss, war Jürgen seit vielen Jahren glücklich verheiratet und hatte kein Interesse an Abenteuern. Esther bemühte sich ständig, Jürgen von seinem Pfad der Tugend abzubringen, bisher erfolglos. Sie wusste ihr Glück gar nicht zu schätzen. Ihre beruflichen Aussichten waren stabil und sicher. Aber Anke stand vor der Frage, welchem Kollegen sie zugeteilt werden würde, wenn Kullmann nicht mehr da war. Jürgen Schnur wäre ihr am liebsten gewesen, weil er es gut verstand, Arbeit und Privatleben zu trennen, ohne andere damit zu verletzen.