Pyria

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Doch die Schattenwesen beachteten sie nicht. Sie blieben vor einem nahen Haus stehen, das sich äußerlich nicht von den anderen unterschied. Die Tür dieses Hauses war verschlossen und die Fenster waren dunkel. Bekamen die Toten Schlaf? Oder durchbrach nicht einmal die Nachtruhe ihre unendliche Eintönigkeit? »Kedrick.« Vielschichtig und wie von hunderten Stimmen gleichzeitig gesprochen echote das Wort durch die Luft. Es ließ Leén das Blut in den Adern gefrieren. »Kedrick Wellentriel«, sprachen die Schattenkreaturen und es hallte durch die graue Straße. »Todestag.« Wieder und wieder wurden die drei Worte zurückgeworfen, echoten von überall her und schienen nicht verstummen zu wollen. Es war nicht auszumachen, ob die Wesen noch sprachen, oder ob es sich tatsächlich um ein Echo handelte.

Der Mann, der die Tür öffnete, musste von Sinnen sein vor Angst. Leén wäre es gewesen. Sie wusste nicht sicher, was am Todestag geschehen mochte, aber es konnte nur ebenso grauenvoll sein, wie alles an diesem Ort vermuten ließ. In seinen unnatürlich blassen Augen lag der gleiche Ausdruck von besiegter Niedergeschlagenheit, wie ihn auch der Rest der Menschen hier trug, und es mischte sich Resignation hinzu. Auch wenn Leén Furcht in den Augen des Mannes zu sehen glaubte, wirkte er doch, als habe er sich auf abstruse Weise mit seinem Schicksal abgefunden. Was auch immer ihn nun erwartete, musste wahrlich grausig sein, und doch stellte er sich dem. Es mochte an scharfen hohen Wangenknochen liegen, doch sein Gesicht wirkte noch etwas fahler als die Haut anderer Cecilian. Eine Welle von Mitleid überrollte Leén, als sie beobachtete, wie Kedrick Wellentriel sich von den beiden Schattenkreaturen in die Mitte nehmen ließ und mit ihnen ging. Für einen kurzen Moment streifte ein besiegter Blick aus blassen Augen über tiefen Augenringen Leén und die Prinzessin, bevor er ihn auf den Boden richtete und von den Kreaturen um eine Ecke aus Leéns Blickfeld geführt wurde.

Noch einen Moment sah Leén dem Mann hinterher. Erstarrt und schockiert von der Resignation, die sicher nicht nur er hier angenommen hatte. Es machte ihr die Wirkung der Unterwelt auf ganz neue abscheuliche Weise bewusst und sie konnte nicht aufhören zu denken, dass kaum etwas im Leben schlimm genug sein konnte, dass ein normaler Mensch etwas Derartiges verdient haben mochte.

»Rish.« Kalte vielschichtige Melodik riss sie aus ihren Gedanken und sie fuhr zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. »Je weniger du darüber nachdenkst, desto besser.« Er war aus der Dunkelheit hinter ihr aufgetaucht. Eigentlich war dort eine Wand, aber er stand so selbstverständlich neben ihr, als sei dort eine Gasse oder wenigstens eine Tür, durch die er hätte kommen können. Sie bezweifelte, dass er durch das nahe Fenster geklettert war.

»Was passiert am Todestag?«, fragte sie und ihre Stimme zitterte noch immer vor Angst und dem Schauer, der einfach nicht aufhören wollte, sie zu erschüttern, weil sie nicht aufhören konnte, sich vorzustellen, was für Grauen den Mann erwarten mochte.

»Konkrete Strafen für konkrete Vergehen im Leben.« Jetzt erst nahm er die Hand von ihrer Schulter, weil sie sich endlich aus ihrer Starre löste und die dunkle Jacke enger um sich zog.

»Für immer?«, hauchte sie und konnte sich den Horror nicht vorstellen, den das bedeuten musste, wenn man jedes Jahr aufs Neue wusste, dass der Tag kommen würde und dass es kein Entrinnen gab. Sicher wie der Tod und nicht weniger angsteinflößend, aber wiederkehrend und vorhersehbar. Allein das war Strafe genug, wie sie fand. Wie diese Strafen am Todestag dann aussehen mochten, überschritt die Grenzen dessen, was sie sich vorstellen konnte und wollte.

»Denk nicht darüber nach«, riet Machairi ihr noch ein zweites Mal und dann ging er weiter. Sie folgten nicht der Straße, die die Dämonen genommen hatten. Leén war damit beschäftigt, verzweifelt zu versuchen, seinem Rat zu folgen und nicht weiter über die Unterwelt, ihre Strafen und das Grauen nachzudenken, das jeden hier ereilte. Sie versuchte, die drückende Trauer und die aufblitzenden Erinnerungen fortzudrücken, doch sie konnte an nichts anderes denken. Jeder schöne Gedanke, mit dem sie sich abzulenken versuchte, zerfiel unter ihren Fingern, bevor sie ihn zu fassen bekommen und seine süße Wohltat in diesem Schrecken fühlen konnte.

Schließlich zwang Leén sich, sich umzusehen. Wenn sie sich nicht mit dem ablenken konnte, was in ihrem Kopf war, musste sie versuchen, sich auf das zu konzentrieren, was sie sah, ohne anzufangen, darüber nachzudenken, wie grausam das war. Kory schlurfte mit gesenktem Kopf hinter ihr her, vermutlich ebenso in bösen Gedanken gefangen. Leén betrachtete die Menschen und die Häuser und versuchte zu raten, wo sich das Orakel befinden mochte. War es vielleicht möglich, dass es sich um einen Menschen gehandelt hatte? Eine Wahrsagerin vielleicht oder eine andere magische Person, die nie tatsächlich herabgebracht worden war, weil sie sterblich und nicht in der Gunst der Götter gewesen war? Wieder überrollten die Befürchtungen sie und Bilder von der Beerdigung ihrer Mutter blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Was, wenn sie auch hier war? Früher hätte sie gedacht, dass ihre Mutter eine so sanfte und wundervolle Person gewesen war, dass sie unmöglich in die Unterwelt geschickt worden sein konnte. Aber es gab so viele Dinge, die sie nicht über ihre Eltern gewusst hatte, und vielleicht waren die anderen Götter wütend auf die Frau, die der Grund war, dass Jico seine Göttlichkeit aufgegeben hatte. Was geschah mit den Menschen, die eigentlich in der Gunst ihres Vaters gestanden und deshalb nicht hierher gemusst hätten nach ihrem Tod? Vertraten die anderen Götter ihn oder hatte er seine Anhänger dazu verdammt, die Ewigkeit in diesem Hort der Grausamkeit zu verbringen? Der Gedanke schmerzte fast so sehr wie der, hier ihrer Mutter zu begegnen. Jede Harethifrau, die ihnen entgegenkam, jagte Leén einen Adrenalinschub von Angst durch den Magen und jedes Mal war sie erleichtert zu sehen, dass das eingefallene Gesicht nicht ihrer Mutter gehörte.

Gerade als sie glaubte, dass sie nicht mehr lange würde weitergehen können, ohne den Verstand zu verlieren, erreichten sie eine schwarze Wand. Stunden musste es her sein, dass sie das riesige Tor durchschritten hatten. Wie hatte ihr nicht auffallen können, dass sie inzwischen fast direkt vor der Festung standen? Leén fühlte sich schrecklich klein und verletzbar zu Füßen dieses Kolosses. Drohend bohrten sich die Türme den Monden entgegen und der glänzende schwarze Stein schien dunkler als die Dunkelheit selbst. Ihre Kehle schnürte sich zusammen und der Gedanke, dass Machairi sie offenbar geradewegs hineinführen wollte, war so einmalig abstoßend, dass sie sich nicht im Stande sah, ihm zu folgen. Das war keine Frage von mangelndem Vertrauen. Sie konnte einfach nicht. Ganz davon abgesehen war nirgends ein Eingang in Sicht.

»Oh nein«, hauchte Kory plötzlich und Leén fuhr zusammen und sah sich panisch in alle Richtungen um. Waren sie nun doch entdeckt worden? Sie suchte nach weiteren dieser teerartigen Wesen, die sich auf keine Gestalt festzulegen vermochten. Fast glaubte sie, bereits die dunklen Schwaden zu sehen, die sie umgaben.

»Was ist?«, quietschte Leén, als sie keine direkte weitere Bedrohung erkennen konnte, und fragte sich, ob die Prinzessin vielleicht noch später als Leén gemerkt hatte, wohin ihr Weg sie führen würde.

»In einer Übersetzung einer Nietali-Schrift habe ich gelesen, dass …« Sie brach ab, als Machairi ihr ins Wort fiel.

»Die Übersetzung ist schlecht«, knurrte der Schatten. »Hätte dein Großvater nicht beschlossen, dass die Königsfamilie kein Nietali mehr lernt, hättest du das Original gelesen und wüsstest das selbst.« Der Kommentar war erstaunlich scharf, wenn man bedachte, dass Kory nichts dafür konnte. Außerdem drängte sich die Frage auf, was Nietali sein konnte. Offenbar handelte es sich um eine Sprache oder eine Schrift, aber Leén hatte noch nie davon gehört.

»Woher weißt du das?«, fragte die Prinzessin und obwohl sie noch immer kaum Stimme hatte, klang sie nun eher skeptisch als angsterfüllt. Dass die Prinzessin von Cecilia Zugriff auf alte Schriften und Bücher hatte, konnte Leén sich vorstellen. Sie wusste sogar, dass Machairi in die Bibliotheken von Kefa eingebrochen war, um etwas über eine Person zu recherchieren. Vielleicht war er dabei auf den gleichen Text gestoßen – wobei sie auch nicht verstand, weshalb mit der Erwähnung der Sprache sofort klar war, um welchen Text es sich handelte. Woher er dann wusste, dass die Übersetzung fehlerhaft war, oder auch nur, dass der König erlassen hatte, diese Sprache nicht zu unterrichten, war dagegen unklar. Trotzdem wäre das nicht ihre erste Frage gewesen. Sie wollte viel lieber wissen, was denn überhaupt dort gestanden hatte, was die Prinzessin so erschreckt hatte.

»Ich habe das Original gelesen.« Er war hier wirklich gesprächiger. Vielleicht wollte er sie so dazu bringen, möglichst schnell keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Eines seiner sagenumwobenen Messer tauchte in seiner Hand auf. Er stieß es direkt in den glatten Stein. Die Frage, die eines der beiden Mädchen zweifellos als nächstes gestellt hätte, blieb ihnen im Hals stecken und sie sahen zu, wie er das Messer ruckartig nach unten zog. Wie eine so kleine Klinge in solch massiven Stein schneiden konnte, war nicht mit den Regeln einer Welt, wie sie sie kannten, erklärbar. Doch dies war schließlich nicht mehr ihr Pyria. Dies war die Unterwelt und in der Unterwelt hinterließ Machairis Messer einen Schnitt im Stein, der ebenso gut in einer Zeltplane hätte sein können. Er klaffte auf wie eine Fleischwunde und dahinter lag völlige Dunkelheit. Es erinnerte Leén an den Riss in der Felswand am Vortag, nur dass dieser tatsächlich bedrohlich war und wohl leider nicht nur von harmlosen kleinen Spinnen bewohnt wurde. Obwohl sie keine Spinnen mochte, hätte sie eine ganze Horde davon in diesem Moment vorgezogen. »Alles ist eine Lüge«, sagte der Schatten und Leén fragte sich, ob das eine Erinnerung oder eine Erklärung war.

 

Fragen konnte sie nicht, denn er griff Leén und Kory je an einem Handgelenk, wie er es schon vor ihrem Sturz in die Unterwelt getan hatte, und zog sie durch den Schnitt, bevor sie ihren Unwillen auch nur äußern konnten.

Dunkelheit umfing sie und für einen schrecklichen Augenblick fürchtete Leén, dass sie wieder fallen würden. Doch dann gewöhnten ihre Augen sich langsam an die Lichtverhältnisse (wenn man sie denn so nennen konnte) und sie konnte Umrisse erkennen. Machairi zog sie eine Treppe hinab und es war kaum möglich, die nächste Stufe zu erkennen. Sie spürte jemanden hinter sich. Das musste bedeuten, dass er Kory nicht mehr an einem Arm durch die Finsternis zog, sondern sie allein laufen durfte. Vielleicht fürchtete er, dass Leén der Dunkelheit erliegen würde, wenn er sie losließ. Tatsächlich fühlte sie die drückende Schwärze hier stärker gegen ihr naturgegebenes Licht drücken, aber wie vermutet war dieser Ort zu düster, als dass ihr Licht sich hervorgewagt hätte. Sie versuchte, gar nicht erst an die Frage zu denken, ob die Treppe erschienen war, weil er ein Loch in die Wand geschnitten hatte, oder ob er genau gewusst hatte, wo er schneiden musste, um perfekt auf die Treppe zu treffen. Endlos führten die Stufen hinab. Die Wände waren nah und Leén spürte, dass sie zu zittern begonnen hatte. Alles hier war beklemmend. Es war eng in ihrer Brust und ihr Hals war wie zugeschnürt, während sie verzweifelt versuchte, ihren Körper am Zittern zu hindern und das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken.

Die Treppe nahm ein so abruptes Ende, dass Leén viel zu fest auf den Boden trat. Kurz knickte ihr Knie ein und sie stolperte, weil Machairi ihren Arm noch immer festhielt. Der Raum hatte sich geöffnet, sodass die Wände nicht länger in Reichweite waren, und man konnte etwas mehr erkennen. Die Gewölbe, die sich vor ihnen erstreckten, glichen schon viel mehr dem, was sie sich unter der Unterwelt vorgestellt hatte. Der kalte Stein bildete lange dunkle Gänge, die sich teilten und in gähnende Unendlichkeit zu erstrecken schienen, und Leén ahnte, dass es leicht war, hier verloren zu gehen. Sie mussten sich unter dem Palast befinden und wenn sie an die Größe der Stadt und der Festung dachte, würde sich dieses Labyrinth schier endlos ziehen.

Nach einer Leidensgenossin suchend traf ihr Blick automatisch Kory. Sie war auf Machairis anderer Seite. Er hielt auch ihr Handgelenk weiter fest und ihre helle Haut war selbst in den wesentlich dunkleren Graustufen dieses Ganges bleich. Ihre Blicke trafen sich und blanke Angst stand der Prinzessin ins Gesicht geschrieben. Leider fühlte sich Leén davon nicht nur bestätigt, sondern angestachelt. Sie fühlte es also auch. Hier fühlte sie sich direkt beobachtet und bedroht und das Einzige, was zumindest einen Hauch von Sicherheit versprach, war ausgerechnet Machairis Nähe. Während sie die Angst fast wie einen Griff zu fühlen glaubte, die sich wie eine kalte Hand in ihren Nacken legte und die Kälte durch ihren ganzen Körper jagte, rückte sie näher an ihn und griff mit der freien Hand ganz freiwillig nach seinem Arm.

Schweigend gingen sie weiter und sie starrte in die Finsternis vor sich, jeden Moment ein Ungetüm erwartend, das ihnen entgegenspringen würde, während sie die Finger in den schwarzen Stoff von Machairis Ärmel grub und sich auf Korys fast unhörbare Schritte hinter ihr konzentrierte, um sich irgendwie zu beruhigen. Sie versuchte, sich zu sagen, dass er auch in der Unterwelt unschlagbar mit einem Messer war und sie bei ihm so sicher war, wie sie eben sein konnte. Langsam löste Machairi den Griff um ihr Handgelenk und ihr vor Angst rasendes Herz geriet ins Flattern, als sich das weiche Leder des Handschuhs stattdessen richtig um ihre Hand schloss.

Das beruhigte sie so lange, bis sie Korys Blick auf Machairis anderer Seite begegnete, die noch immer nur am Handgelenk gehalten wurde und sie peinlich berührt hoffte, dass die Prinzessin nichts von der Hand des Schattens in ihrer mitbekam. Die siedend heiße Erkenntnis traf sie einen winzigen Augenblick später: Die Gestalt hinter ihr konnte nicht Kory sein.


Feen

Die Welt, die sich um ihn herum erhob, war wie aus tausenden kleinen Kristallen geschaffen. Als Gwyn die Augen wieder aufschlug und sich zwischen Blumen und hohen Gräsern aufsetzte, fiel sein Blick auf diese glitzernden Gebilde, die in den Bäumen hingen. Sonnenstrahlen des ersten Tageslichts tasteten sich durch das Blätterdach und trafen auf die milchigen Konstrukte. Wie kleine Pavillons oder kunstvolle Gebäude sahen sie aus, mit glitzernden Säulen und Details, die so winzig waren, dass der beste Bildhauer sie nicht hätte kreieren können. Zehn dieser kleinen Verschnörkelungen hätten problemlos auf dem Nagel von Gwyns kleinem Finger Platz gefunden, hätte er den Frevel begangen, sie abzubrechen. Die Gebilde selbst waren alle winzig genug, dass Gwyn sie in beiden Händen hätte tragen können. Das größte glich in seinen Maßen in etwa seinem Oberkörper. Sie glitzerten in allen Farben des Regenbogens und warfen ein Lichtspiel zwischen die Bäume, in denen sie hingen wie besonders schöne Bienenstöcke.

Noch faszinierender als die Nester waren jedoch die Wesen, die sie bewohnten. Aus allen Ecken schielten sie hervor, beäugten ihn stumm, wie er völlig baff in ihrer Mitte saß und ihre kleinen Gesichter betrachtete. Sie trugen ein menschliches Antlitz und doch war ihre Haut wie aus Glas. Glatt und durchsichtig, wie sie waren, wirkte es unmöglich, dass sie sich bewegen konnten. Zarte Libellenflügel trugen die winzigen Wesen lautlos in der Luft und ihre Glieder wirkten so zart und filigran, dass man bei der kleinsten Berührung Angst haben musste, sie zu zerbrechen. Der ganze Körper war durchsichtig, sodass Gwyn die Blätter hinter ihnen erkennen und man sie sicher leicht übersehen konnte. Einzig ein leichter Hauch von Rosa war erkennbar, wenn man sie genau betrachtete. Es erinnerte ihn an Rosenquarz, nur schöner und subtiler.

Noch nie hatte Gwyn solche Idylle erlebt. Selbst der Rest der Insel erschien dagegen durchschnittlich und trüb. Dieser Ort war der Inbegriff der Schönheit. Ein winziger Bachlauf plätscherte überwucherte Felsen hinab und die Bäume streckten dichte Kronen neckisch in den Himmel. Saftiges Grün und prachtvolle Blütenkelche umgaben den Feuerspucker und überall schwirrten diese kleinen Feenwesen. Jedes ihrer kleinen Augen ruhte auf ihm, wie er völlig hingerissen und reglos dasaß und die Augen nicht von den Wundern abwenden konnte, die ihn umgaben. Das aufgeregte Tuscheln ihrer hohen Stimmchen war sanft wie das Flüstern des Windes und als sich das erste zögerlich und scheu auf sein Knie sinken ließ, wurde ihm klar, dass er erstmals seit Om’falo etwas wie Frieden verspürte.

Mit einem zaghaften Lächeln betrachtete er die winzige Gestalt, die auf seinem Knie saß und ihn mindestens ebenso fasziniert musterte wie er sie. Selbst ihre langen Haare schienen gläsern, doch sie bewegten sich, wie normales Haar es getan hätte, und als sie mit ihrer winzigen vierfingrigen Hand hindurchfuhr, fiel es in fließenden Strähnen zurück. Insgesamt war die Fee etwas kleiner als Gwyns Hand und er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, sie dann zu verscheuchen. Er wagte nicht mal zu sprechen, weil der Klang seiner Stimme die herrliche Ruhe dieses Ortes sicher zerstört hätte. Das ferne Zwitschern einzelner Vögel klang schon ungewöhnlich laut. Ganz ruhig saß Gwyn da und beobachtete die Feenstadt um ihn herum, die kleinen, kunstvollen Häuser und die zierlichen Bewohnerinnen. Es war so unwirklich schön, dass er es für einen Traum gehalten hätte, hätte er nicht gewusst, dass sein trauerschwerer Kopf schon lange nichts als Albträume mehr zustande brachte.

Wie viel Zeit verging, in der Gwyn einfach nur still und stumm dasaß und das Lichtspiel in den Bäumen beobachtete, vermochte niemand zu sagen. Doch je länger ihn die Feen beobachteten, desto mehr schienen sie zu glauben, dass er sich nicht im nächsten Moment auf sie stürzen würde. Vorsichtig und zögernd folgten sie dem Beispiel ihrer Schwester und ließen sich langsam bei ihm nieder. Winzige Füßchen trafen seine Schultern und Hände. Sie saßen auf seinen Beinen und seinen Füßen und waren dabei so leicht, dass er ihr Gewicht kaum spüren konnte. Doch jedes der kleinen Wesen schien den Knoten aus Verzweiflung und Schuld in seiner Brust etwas zu lösen. Federleicht waren ihre Berührungen, doch sie brachten gewichtigen Frieden und Trost und für einen Moment fühlte sich alles ein bisschen weniger hoffnungslos an.

Gwyn kannte sich nicht aus mit Magie, hatte stets nur das Feuer gekannt und das mehr als Talent gesehen und weniger als magische Begabung. Es hatte sich nie angefühlt wie Magie, weil es einfach ein Teil von ihm gewesen war und den Umgang zu erlernen sich nicht anders anfühlte, als einen Radschlag zu üben. Jetzt fühlte er, wie diese Wesen, die reine Magie sein mussten, mit ihren hauchzarten Berührungen winzige Impulse direkt in das Magiezentrum in seiner Brust schickten. Das Feuer, das seit seinem Ausbruch in Om’falo jeden Tag stärker gegen die Unterdrückung rebelliert hatte, kam zur Ruhe, ebenso wie Gwyns aufgewühlter Geist. Es vermochte ihn nicht von seiner schwermütigen Stimmung zu befreien, aber es gewährte ihm einen Moment der Ruhe und des Friedens in all der Verzweiflung.

Wenn es nach Gwyn gegangen wäre, hätte es ewig so bleiben können. Leider hatte das Leben eine Neigung, sich nicht dafür zu interessieren, was Gwyn wollte. Viel zu spät hörte er die Angreifer kommen. Er hatte in seiner Trance am Vorabend nicht darauf geachtet, ob er Spuren hinterließ, und es hätte ihn wohl auch nicht gekümmert, wenn er es bemerkt hätte. Fünf cecilianische Soldaten standen zwischen den Feenbäumen, bevor Gwyns Hirn ganz verarbeitet hatte, was die Geräusche im Unterholz jenseits des Dorfes bedeuten mochten. Erschrocken stoben die Feen auf, hätten vielleicht sogar den Neuankömmlingen eine Chance gegeben, wären die nicht in fester Erwartung eines Kampfes gekommen.

Sie brauchten nicht halb so lange wie Gwyn, um ihre Überraschung und Faszination zu überwinden. »Feen«, stieß einer ungläubig hervor. Ein dicker rötlicher Bart wand sich unter seinem Helm hervor und versteckte teilweise das Grinsen, das sich über seine Züge legte.

Gwyn sprang auf die Füße und wünschte sich eine Waffe, irgendetwas, was er benutzen konnte, um diese Männer von diesem Ort fortzuscheuchen. Der einzige Soldat mit Abzeichen am Helm, das im Volksmund nur als Wedel geschimpft wurde, anstatt es als ranghebende Auszeichnung anzusehen, griff nach Gwyn und der Feuerspucker versuchte auszuweichen. Leider war Gwyn ein miserabler Nahkämpfer und weil er sich nicht überwinden konnte, das Feuer freizulassen, war er leider deutlich unterlegen.

»Ich habe gehört, es sind lebendige Glücksbringer!«, sagte ein jüngerer Soldat, der nicht aussah, als habe er überhaupt schon Bartwuchs, während der Anführer Gwyn mit Hilfe eines grobschlächtigen weiteren Gardisten zu Boden rang und fesselte. Es war wahrlich aussichtslos, sich zu wehren, und Wut flammte in Gwyn auf. Sie stachelte das Feuer an, das bereits gefährlich nah vor dem Ausbruch stand. Nur der Gedanke, dass dieser wundervolle Ort danach aussehen würde wie die Altstadt von Om’falo, hielt ihn davon ab, es einfach freizulassen.

Der Letzte machte einen zustimmenden Laut. »Denk an das Vermögen, das Leute mit dem gleichen Aberglauben für ein so‘n Ding blechen würden.« Ältere Soldaten waren häufiger nicht die hellsten Sterne am Himmel. Es hatte einen Grund, dass sie nicht längst in höhere Positionen aufgestiegen waren, aber dieses Exemplar hatte einen ganz besonders dümmlichen Ton. Gerne hätte Gwyn ihm für diese respektlose frevelhafte Aussage kräftig ins Gesicht geschlagen. Leider lag er auf dem Bauch und gefesselt am Boden.

Der Wedel drehte Gwyn auf den Rücken, was seine gefesselten Hände mit einem stechenden Schmerz quittierten. So konnte Gwyn beobachten, wie der Jungspund erstaunlich flink nach einem der schwirrenden Geschöpfe griff und es beim zweiten Mal schaffte, die Hand um den zarten Körper zu schlingen. Alles in Gwyn zog sich zusammen bei dem Anblick, als die Fee ein leises, empörtes Quietschen von sich gab und sich dann verzweifelt gegen die Hand zu stemmen begann. Um sich selbst kümmerte er sich in diesem Moment am allerwenigsten. Er war sich geradezu egal geworden in den letzten Tagen.

 

»Lasst sie in Ruhe!«, rief er, auch wenn er wusste, dass es nichts bringen würde. »Was seid ihr denn für Menschen?!« Der Junge warf Gwyn einen völlig irritierten Blick zu. War der so blöd, oder tat der nur so? Sein bärtiger Kollege stieß dagegen ein kurzes Lachen aus und wie ein kleiner Junge, der hinter einem Schmetterling herlief, sprang er los und griff nach den Feen. Die stoben auseinander, versuchten, sich in die Höhen zu retten, in denen die Soldaten sie nicht erreichen konnten, während nun schon drei Gepanzerte nach ihnen durch die Luft langten. Der junge Soldat wurde mit kleinen Steinen beworfen und das leise Gezeter der zarten Stimmen schwebte durch die Luft. Gwyn, der unbedingt helfen wollte, begann sich umherzuwerfen und an den Fesseln zu zerren und japste im nächsten Moment nach Luft, als ihm ein schwerer Stiefel auf die Brust trat und ihn am Boden fixierte.

Der Wedel beugte sich etwas vor, sodass er Gwyn direkt ansehen konnte und sein Gewicht noch fester auf den Brustkorb des Zhaki verlagerte. »Wo sind der Messerdämon und die Prinzessin?«, fragte er mit leicht gesenkter Stimme und tat, als würden seine Kollegen nicht wie Wildgewordene hinter ein paar harmlosen Feen her hüpfen oder – wie im Fall des Schrankes – Büsche durchwühlen, als erwartete er ernsthaft, Machairi könnte im Unterholz hocken.

»Weiß ich nicht«, stieß Gwyn hervor und erwiderte den Blick des Mannes mit Wut. Technisch gesehen hätte Gwyn ruhig die Wahrheit sagen können. Geglaubt hätten sie ihm ohnehin nicht. Natürlich kam Machairi zu verraten trotzdem nicht in Frage. Nicht schon wieder.

»Ist es nicht deine Aufgabe, zu wissen, wo dein Herr sich aufhält?«, fragte der Soldat und der drohende Tonfall verschärfte sich. Gwyn erinnerte sich an die braunen Kleider und mit jeder Sekunde schwand der Frieden, den die Feen noch eine Weile hinterlassen hatten, rapide weiter.

Gwyn schob das Kinn vor und weigerte sich, diesem Mann den Respekt entgegenzubringen, den er offensichtlich erwartete. »Wo der ist, weiß ich. Er ist aber nicht Machairi.« Er sah dem Wedel direkt in die Augen und musste nicht mal lügen.

»Ach?« Der Mann nahm den Stiefel von Gwyns Brust und zog stattdessen sein Schwert. Die blitzende Klinge fing das gebrochene Licht der vielen kleinen Gebäude auf und reflektierte die Spektren. Es hätte schön aussehen können, aber kein Schwert, das sich auf seinen Hals richtete, konnte Gwyn aufrichtig als schön bezeichnen. »Mit wessen Unmut muss ich denn dann rechnen, wenn ich dir einfach die Kehle durchschneide?«

Der Feuerspucker fragte sich, ob die Soldaten Mico, Vica und Gina wohl gefasst hatten. Sie mussten seiner Spur schließlich vom Zhakidorf aus gefolgt sein. Am liebsten hätte Gwyn einfach behauptet, dass er in jenem Dorf lebte, aber das hätte ihm früher einfallen müssen. Er zuckte mit den Schultern. Fast war es ihm egal, ob der Wedel seine Drohung wahrmachte. Nur den Feen wollte er so gerne helfen, dass es frustrierend gewesen wäre, jetzt zu sterben. Wenn sie diesen wundervollen Ort seinetwegen nun zerstörten, gab es erneut etwas, wofür er sich Vorwürfe machen konnte, und nach wie vor nichts, was er tun konnte, um es wiedergutzumachen. »Mit meinem nicht«, sagte er deshalb und wich der Frage damit effektiv aus. Sein Überlebenswille war dank der Feen anfänglich zurückgekehrt, aber mit noch mehr Schuld wollte er nicht leben. Die Fee, die zuvor auf seinem Knie gesessen hatte, schwirrte kurz darauf über ihm her und ließ ihm einen Kiesel auf die Stirn fallen. Es war wohl kaum als Angriff zu verstehen, aber er war sich sicher, dass das kein Zufall gewesen war.

Der Wedel dagegen schien mehr als unzufrieden mit Gwyns Antwort. Es war nicht einmal ungewöhnlich, dass Sklaven sich früher oder später in ihr Schicksal fügten, und bevor sie Kefa verlassen hatten, war die Selbstmordrate aufgrund einer neuen Mode für Strafen deutlich gestiegen. Immerhin schien der Wedel zu denken, dass er so nicht weiterkommen würde, und nahm das Schwert zur Seite. Er hatte eine Prinzessin zu finden und keine Sklaven zu erschlagen. Tatsächlich beobachtete Gwyn sich dabei, dass er erleichtert aufatmete. Vielleicht, so dachte er, war ihm sein Leben doch nicht so egal, wie er sich selbst eingeredet hatte.

Die kurze Genugtuung über diese Erkenntnis verblasste, als Gwyn aufsah und beobachten konnte, dass der Bärtige, der Jungspund und der Dumme inzwischen einen der kleinen Pavillons von seinem Baum geschnitten hatten. Wie eine Frucht musste er daran gehangen haben, denn der Baum hatte eine harzende Wunde an der Stelle. Der Dümmliche hielt das filigrane Gebilde in den Händen und drehte es interessiert, während Gwyn es ihm am liebsten entrissen hätte. Es tat ihm in der Seele weh, mitanzusehen, wie diese Männer mit diesem wundersamen Ort und seinen Bewohnerinnen umgingen. Die anderen beiden Soldaten hatten indes zusammen sieben Feen gefangen und drückten die kleinen Wesen mit dem einen Arm gegen die gepanzerte Brust, während sie mit dem anderen weiter durch die Luft fischten, in der Hoffnung, vielleicht doch noch eine weitere zu erwischen.

»Es ist niemand sonst hier«, grunzte der Schrank und beendete seine Suche in den Büschen. So eine Überraschung.

Kurz ließ der Wedel den Blick über die kleine Lichtung schweifen und nickte schließlich, als hätte er sich noch selbst davon überzeugen müssen, dass niemand sonst hier Spuren hinterlassen hatte. Gwyn versuchte indes, sich von den Fesseln zu befreien, wurde allerdings auf die Beine gerissen, bevor er es auch nur schaffte, den Knoten zu ertasten. Auch wenn es mit dem Feuer ein Leichtes gewesen wäre, ein Seil durchzubrennen, wagte er es nicht einmal, eine kleine Stichflamme zu rufen. Abgesehen davon, dass er dabei vermutlich seine Kleider ver- oder zumindest angebrannt hätte. Der Wedel befahl, dass sie gehen würden, und Gwyn sah nur noch eine Chance, den Feen zu helfen. »Lasst die Feen lieber hier!« Er sprach vor allem an den Jungen, weil er auf dessen Aberglauben baute. »Wisst ihr es nicht? Es bringt fünfundzwanzig Jahre Unglück, eine Fee zu fangen.«

»So‘n Quatsch«, schnauzte der Dumme und man musste sich Sorgen machen, dass er das geraubte Feenhaus nun auch noch fallen lassen würde. Sicherlich würde es in tausend Stücke zerspringen. »Die können ja nich mal sprechen. Dann können se auch kein Pech bringen.« Es hätte viele logische Dinge gegeben, die man auf Gwyns Behauptung hätte sagen können. Dies war keines davon. Das Frustrierende daran war nur, dass es dem Rest zu reichen schien.

Der Wedel hatte scheinbar Profit gerochen und schmunzelte. »Nehmt die Viecher und kommt«, bellte er und trat den Rückweg an. Mit sieben entführten Feen, einem geklauten Kristallhaus und einem wütenden Gwyn, der von dem Schrank durch den Wald geschubst wurde, verließen die Soldaten die wundersame Lichtung. Sie hinterließen Chaos und Leid, aber immerhin keine vollständige Zerstörung.

Den Moment, das Feuer einzusetzen, hatte er verpasst, so sagte er sich, und allein einen Kampf aufzunehmen, war dumm. Vielleicht konnte er es schaffen zu entkommen, wenn sie erst irgendwo ankamen und er wusste, ob die anderen ebenfalls gefangen genommen worden waren. Da sie gründlich genug in ihrer Suche gewesen waren, um ihn zu finden, befürchtete der Feuerspucker, dass zumindest Vica, die im Moment nicht ganz sie selbst zu sein schien, ihnen in die Hände gefallen sein könnte. Ein Windhauch fuhr Gwyn unter das Hemd und kurz darauf folgte ein sanfter, warmer Magieimpuls und etwas klammerte sich von Innen in das Kleidungsstück. Überrascht sah Gwyn an sich hinab und hoffte, dass niemand die kleine Ausbeulung bemerken würde, die sich nun an seiner Seite erhob.

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