Read the book: «Die Mumie der Bouffiers»

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© 2020 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-102-0

ISBN e-book: 978-3-99107-103-7

Lektorat: Susanne Schilp

Umschlagfoto: Ekhard Rudolf

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Bild 1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 9: © Ekkehard R. Bader

Bild 3: © Ekhard Rudolf

www.novumverlag.com

Danksagung
Frühes Licht
Statt eines Vorwortes

Die Mumie der Bouffiers
Als die Morgendämmerung den Horizont in einen geheimnisvollen Zauber verwandelt hat öffnet Jakob, der notorische Frühaufsteher, das Fenster seines spartanischen Studentenquartiers und vernimmt sogleich ein Ächzen vom Kirchturm, um den herum alles irgendwie zu schwanken scheint. Dann jedoch sieht Jakob die hastenden Nebelschwaden, wie sie allmählich den Sonnenstrahlen weichen und zuletzt die Oberhand gewinnen. So verspricht der kommende Tag, entgegen dem gestrigen Wetterbericht, recht freundlich zu werden, trotz der eben noch bizarr aufziehenden Gewitterwolken.
Während der große Zeiger des englischen Standregulators auf sieben Uhr vorrückt, dringt plötzlich das Rattern eines Transporthubschraubers in das bisherige Schweigen der bäuerlichen Siedlung. Es scheint, als versuche der Helikopter, vielleicht wegen eines Motorschadens, zu landen, ehe schlagartig jener höllisch anmutende Lärm über dem Ort verstummt und nichts mehr auf eine gefährliche Situation hinweist.
Es ist genau jener Augenblick, da startet mit einer Fehlzündung Ramona Grabowski, Tochter des pensionierten Ortsvorstehers und Studentin an der Kunsthochschule, vom elterlichen Grundstück zur Landstraße, von wo sie in gut zwanzig Minuten die ansässige Commerzbank erreicht, um Erkundungen einzuholen, ob das hiesige Geldinstitut ihrer kürzlich, etwas voreilig gegründeten „Bildergalerie malender Hausfrauen“ mit einem Kredit unter die Arme greifen könnte. Sie wollte es wenigstens probieren, fügt sie rasch hinzu, denn eigentlich glaubte sie noch nicht, wirklich erfahren genug zu sein für diesen, wie sie meint, waghalsigen Schritt auf dem immer hartnäckiger umkämpften Finanzsektor.
Als der Bankdirektor, vom Handy einer Mitarbeiterin herbeigerufen, bald darauf den Kundenraum betritt, sieht Ramona die eben noch eifrig plaudernden Angestellten sich ihr, der unerwartet aufgetauchten jungen Besucherin, eifrig zuwenden, während der Dienstherr mit einem implantierten Lächeln auf die Kundin zugeht. Ramonas Wunsch, deutet er an, werde er umgehend prüfen lassen. Er habe keinerlei Bedenken, sagt er mit gutmütigem Augenzwinkern, ihr eine bestimmte Geldsumme vorzustrecken, er werde tun, was in seiner Macht stehe. Und da eröffneten sich vielfältige Möglichkeiten.
Er kenne sich in derartigen, wenn auch nicht selten komplizierten Transaktionen aus, habe er doch oft damit zu tun. Natürlich, räumt er ein, herrsche überall das weiß Gott nicht leicht zu durchschauende Flechtwerk des Marktes. Es müßte allerdings mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht helfend einspringen könnte. Blickt dann mit sichtlichem Wohlgefallen zu der jungen Frau und wischt mit einer lässigen Handbewegung jeden Zweifel am Gelingen seiner Bemühungen beiseite.
Daß für den leutselig wirkenden Börsenmakler nur die Provision des Darlehens von eigentlichem Interesse ist, bleibt der Studentin zunächst verborgen. Hingegen findet Ramona passende Worte, mit denen sie zu danken weiß und zugleich gesteht, eine derartige Hilfsbereitschaft nicht erwartet zu haben. Wenn sie nur an ihre Lehranstalt denke, wo Kabale und Liebe einander ablösten und Intrigen als mitunter letzter Ausweg in Frage kamen.
Sie beschwöre aus genannten Gründen den Börsenmakler inständig, ihr das Ergebnis der Recherche möglichst rasch, vielleicht in zwei bis drei Wochen, mitteilen zu lassen. Wofür sie ihm, dem Bankenchef, sehr verbunden wäre. Sie leide an dem Mangel naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber mehr noch am Defizit in mathematischer Disziplin. Jetzt werde sichtbar, dass sie fast ihren gesamten Eifer hauptsächlich den musischen Fächern gewidmet zu haben glaubte. Sie müsse daher achtgeben, nicht in den verkehrten Zug einzusteigen. Oder irgendwann auf ein Nebengleis zu geraten. Das bedeutet, sämtliche Möglichkeiten abzuwägen und mögliche Fehler auszuschließen, ihnen keine Chance einzuräumen.
Der dunkelhaarige Mittfünfziger, ein agiler Geschäftsmann und zudem hinreichend diplomatisch sattelfest, läst etliche Sekunden verstreichen, bis er wiederum implantiert lächelt. Eine von ihm konsequent erprobte Taktik, die sich während seiner langjährigen Berufspraxis stets als vorteilhaft erwiesen hatte. Ist er doch zu weitläufigen Fähigkeiten gelangt dank fürsorglichen Umganges mit den Kunden, die er in Sicherheit zu wiegen verstand und denen er vor allem das sichere Gefühl einflößte, Hoffnungen seien erfüllbar, zumindest fast immer, wobei er den ihm angeborenen Optimismus auf jene übertrug, die sich seinen Spielregeln unterwarfen bzw. nicht bemerkten, dass er sie gekonnt übers Ohr haute.
Depressionen sowie Enttäuschungen fegt er gnadenlos aus seinen Gedanken, lagert sie daher außerhalb des eigenen Dunstkreises. Und hält sich strikt daran, nicht einmal langjährigen Freunden offen seine Schwächen erkennen zu lassen, weil es einem Sturz in eiskaltes Wasser gleichkäme, aus dem das rettende Ufer wahrscheinlich kaum noch zu erreichen ist. Auch für ihn, beteuert der Bankenchef, heiligt der Zweck die Mittel! Jedem seiner Kunden rate er daher dringend, er müsse zuerst lernen, sich selbst zu erleiden, um auf eigenen Beinen stehen zu können.
Inzwischen haben die Angestellten der Müllabfuhr sämtliche Reviere des Straßendorfes beräumt und dabei jeden Einwohner, auch den letzten, wachgerüttelt. Manche reden vom russischen Panzer. Auch Singvögel und eben noch gurrende Wildtauben geben sich jetzt reservierter. Die Welt ringsum, deren Gesetzen und Maßnahmen er voll zustimmen muss, hat jetzt zu ihrer üblichen Normalität zurückgefunden. Es wird ab sofort alles sein wie immer.
Genau in diesem Augenblick klingelt Jakobs Handy: Sein Studienfreund Markus möchte von ihm wissen, ob er sich am geplanten Sonntagsmeeting gegen den provokativen Aufmarsch von Rechtsradikalen beteiligen wird? Diese gesellschaftlich reaktionären Typen, beschwört Markus seinen Freund Jakob, wollten unter der demagogischen Losung „Für ein freies deutsches Vaterland“ vom gegenwärtigen System angeblich enttäuschte Bürger dafür gewinnen, sich an der 1871 nach dem Sieg Preußen-Deutschlands über das Kaiserreich Napoleons III. gepflanzten „Friedenseiche“ einzufinden. Am besten sei es, empfehlen sie, mit Kind und Kegel sowie Gleichgesinnten anzurücken. Denn je mehr Kameraden, wie sie ihre Mitläufer nennen, am Universitätscampus eintreffen, desto eher wird zu beobachten sein, dass die Front derjenigen Bürger wächst, die das jetzige korrupte System ablehnten! Nur durch sie, verkünden die „Wahren Demokraten“ mit demagogisch ausgereiften Texten der Bevölkerung, werde es gelingen, das deutsche Volk und seine Zivilisation vor einer Katastrophe zu bewahren.
Folgerichtig dürfe man deshalb, zitiert Markus Sprüche Rechtsradikaler, keine Zeit verlieren und müsse an diesem Sonntag starken völkischen Widerstand organisieren, um einem morschen System mit all seinen willfährigen Staatsdienern das Fürchten zu lehren und es in die Schranken zu weisen. Nach dem berüchtigten Motto Kaiser Wilhelms II.: Pardon wird nicht gegeben! Dabei heben Jacob und Markus ihre geballten Fäuste, schütteln sich hämisch vor lachen darüber, wie sich jene ekstatisch gebärden, die von ihrem künftigen Triumph überzeugt sind und dafür keine Mühe scheuen werden, auch wenn sie dafür ihren letzten Blutstropfen opfern müssten.
Dass es freilich genau jener Sonntag ist, an dem ein von linken Parteien und bürgerlichen Liberalen arrangierter „Protestmarsch gegen Rechts“ stattfinden soll und zufällig Brechts „Mutter Courage“ im Spielplan des städtischen Operntheaters angekündigt wird, macht es für Jakob jedoch problematisch. Obwohl er schon Wochen zuvor Eintrittskarten erworben hatte, davon eine für Markus, bei dem er sich nun dafür entschuldigen müsste, wegen des oben erwähnten Grundes nicht an jenem demokratischen Meeting teilnehmen zu können. Was er natürlich, wie er Markus versichert, sehr bedauere. Es aber leider nicht ändern könnte.
Verspricht seinem Freund jedoch, alles zu überdenken und sofort, falls ihm eine bessere Lösung einfalle, mit der Markus sowie andere fortschrittlich eingestellte Kräfte bereit wären, sich anzufreunden.
Augenblicklich jedoch vertieft sich Jakob erneut in das von Christian Friedrich Daniel Schubart 1740 verfasste Gedicht „Die Fürstengruft“. Entscheidend dafür war jene von ihm zufällig aufgeschnappte Unterhaltung zwischen Direktor Hebestreit und Seminarleiter Dr. Hufnagel, der, wie Jakob herauszuhören glaubte, in einem Feuilleton den Kerngedanken der leidenschaftlich gegen die Feudalherrschaft opponierenden Verse erläutert haben wollte.
Vielleicht, durchfuhr es Jakob, hinge davon auch seine Literaturnote ab, und nicht zuletzt das Halbjahreszeugnis! Bis dahin jedoch wollte er tüchtig ranklotzen, um verschiedene noch ausstehende Examen mit hoffentlich beachtenswerten Ergebnissen abzuschließen. Dann blickt er wiederum auf das von ihm wegen seiner inhaltlichen und sprachlichen Tollkühnheit verehrte Gedicht Schubarts, liest Satz für Satz, mit rhythmischen Hebungen und Senkungen.
Der Tag endet, ohne dass er sich in düstere Fiktionen hineingezogen und von irgend jemandem bedrängt fühlt. Schließt die Augen und lehnt sich entspannt im Sessel zurück. Braucht sich nicht vor dem nächsten Morgen zu grämen, weil keine unruhige Nacht vorausfolgen wird. Da ist er todsicher. Streckt sich und gähnt vor sich hin, bleckt dann wie ein heranschleichendes Raubtier seine weißen Zähne, als setze er zu einem gewaltigen Sprung auf ein junges Reh an, aber nur für einen winzigen Augenblick, bis er nichts mehr als karge Leere um sich erblickt. Ahnt jedoch dessen ungeachtet, dass ein Wetterumbruch bevorstehe. Zumindest für ihn und einige seiner engsten Freunde. Das müsse sorgfältig beobachtet werden, ehe es nichts mehr zu beobachten gäbe.
Dennoch glaubt er, wie in früheren Jahren, an seine stabile Gesundheit. Nicht irgendwelchen Schwachstellen wird er unterliegen, jedenfalls nicht jetzt. Und weiß ziemlich genau, wo er anzupacken hat, damit es ihm gelingt, sich weiterhin fest im Sattel zu halten, ohne daß irgendein politisches Ereignis ihn wirklich erschüttern könnte. Da lohnt es sich natürlich stets, gute Ideen rasch zum Durchbruch zu verhelfen. Lacht auf und öffnet seine Lippen, um sie gleich wieder zu schließen, als setze er einen Schlusspunkt hinter seine Überlegung.
„Da liegen sie“, nimmt sich Jakob, diesmal beinah reserviert, den ihn ungeheuerlich vorantreibenden Text Schubarts wieder vor, „die stolzen Fürstentrümmer, vom fürchterlichen Schimmer des blassen Tags erhellt, einstmals die Götzen ihrer Welt, mit erloschnem Blick, wo ein Fingerzeig von ihnen über Leben oder Tod entschied. “
Jakob erschaudert es, bedenkt er die Leiden und Konsequenzen für die meisten der Untertanen. Immerhin: Wegen jener rückhaltlosen Kritik an der feudalen Obrigkeit musste Schubart zehn Jahre Kerkerhaft auf dem HohenAsperg verbüßen. Laut Befehl des Herzogs Carl Eugen von Württemberg, angeheirateter Neffe Friedrichs II., der nicht weniger barsch als sein fürstlicher Spießgeselle im Süden des Reiches jeden Ungehorsam leibeigener Bauern auf seinen Gütern sowie die ganz Europa empörende Soldatenschinderei mit drakonischer Härte erbarmungslos unterjochen ließ.
Friedrich Schiller, vom gleichen Winkeldespoten auf der Hohen Karlsschule als Zögling in harter Zucht festgehalten, gelang es, den Herzog zu täuschen und den württembergischen Freiheitshelden in dessen Kerker aufzusuchen, wo er ihn unmenschlich behandelt und darben sah.
Ob es damit zusammenhängt, dass man derartige Ungeheuerlichkeiten nicht mehr nachzuvollziehen imstande ist, weil darüber Jahrhunderte voller Kriege und brutaler Ausbeutung vergangen sind? Jakob fährt, als sei er über diese Misshandlungen noch jetzt empört, mit der rechten Hand durch die Luft, als wollte er beiseite wischen, was ihn daran so entsetzte, was er vielleicht zum Teufel gejagt hätte, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre. Ob es vielleicht nur ein dummer Zufall ist, dass es gerade jetzt in Jakobs Hörmuschel mehrmals knackt und bald darauf Markus ausgeblendet ist, oder verschuldet doch nur eine banale technische Störung das jähe Tonversagen? Wer aber sollte das entlarven, wo ähnlich fatales Versagen oder Unvermögen öffentlicher Behörden inzwischen zur Tagesordnung geworden zu sein scheint, also zu einer selbstverständlichen Gepflogenheit?
Hauptsache, es bleibt genügend Zeit für sorglose Teestunden mit Plaudereien und Witzen über angeblich niederträchtig handelnde Nachbarn, die selbst auf Kinder verzichten angesichts dringender Termine, wie sie vor sich und aller Welt behaupten. Und wohl noch stolz darauf sind auf jene gewiss seltsame Art von leiblichen Entbehrungen. Alles hängt wohl doch mit entsprechenden Erfahrungen zusammen, die wir nur gemeinsam vollbringen können, bis wir über sämtliche Details unserer Umgebung verfügen.
Seine gewöhnlich erst in den Abendstunden unternommenen Promenaden durch die Dorfaue führen Jakob zunächst bis zur Feldsteinkirche, ein rechteckig gemauertes Bauwerk aus dem frühen Mittelalter. Dort verharrt er nachdenklich am Turm und lauscht erwartungsvoll in den nächtlichen Himmel, der, wenn er wolkenlos bleibt, in fernen Galaxien mit abertausenden Sternen zum Hofball einlädt. Umkreist von Fledermäusen und Myriaden von Kleinsttieren.
Es ist eine jener feierlich anmutenden Stunden, da Jakob vom Turm der Feldsteinkirche zwölf Glockenschläge vernimmt, die noch am Ende des Dorfangers, nahe seinem Quartier, wahrzunehmen sind. Gelegentlich schildern ihm Einheimische, dass hier, bei Mondenschein, oft kuriose Gestalten beobachtet worden sind, die gewiss aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Enge, schwarze Hosen tragend, weite Umhänge und weiß retuschierte Gesichter. Darüber Narrenhüte gestülpt, mit denen sie hin und her schwanken wie auf hölzernen Stelzen, was ihnen erstaunte Blicke und nicht selten verständnisloses Schulternzucken bringt sowie Kopfschütteln.
Jakob jedoch ist überzeugt, dass es sich dabei lediglich um sogenannte „Gruftis“ handelt, von denen er einige frühmorgens, wenn er über den Marktplatz schlendert, um Obst und Gemüse einzukaufen, in Abfallbehältern nach Pfandflaschen wühlen sieht. Mancher die begehrte Pulle mit beiden Händen umklammernd, als befürchte derjenige, sie könnte verloren gehen, andere ein Pfeifchen schmauchend, ehe sie aus einem Leinensäckchen etwas Essbares hervorkramen. Dann beendeten sie eilig dieses absonderliche Gebaren und verlassen hastig den Marktplatz, ohne sich noch weiter um Jakob und den hiesigen Trubel zu kümmern.
Sie erzählen Jakob, der eher zufällig mit jenen eifrigen Zechbrüdern ins Gespräch gekommen ist, von Spukgestalten, denen man lieber nicht in die Arme laufen sollte, wobei sie augenzwinkernd hinzusetzen, es handle sich um ein schauriges Wohnviertel, das man selbst am hellen Tag fürchten müsse! Vielleicht, geben sie mit weit von sich gestreckten, erhobenen Armen zu bedenken, sei es vielleicht einfacher, mit vielen Gefahren zu existieren als nur mit einer Notlage.
Ungeachtet dieser eigentlich nicht ernstzunehmenden Andeutung fühlte sich Jakob zuletzt von irgendwelchen finsteren Gesellen angegriffen, auch wenn er schließlich nur die verzerrten Fotos des eigenen Handys vor sich hatte.
Zurück in seinem Studentenquartier, hängt Jakob ermattet am Schreibtisch, durchstöbert bis Mitternacht ein weiteres Mal das Stenogramm des gestrigen Germanistikunterrichts, um für eine mögliche Prüfung vorbereitet zu sein. Zumal sie jetzt mit Dr. Schubert, ihrem neuen Seminarleiter, auskommen müssen, der, kaum hatte er sich der Klasse in kurzen Worten vorgestellt, sogleich frischen Wind entfachte. Jedenfalls hielt man Äußerungen, er werde künftig regelmäßige Leistungskontrollen schreiben lassen, für eine Methode, mit der man sich erst einmal anfreunden müßte. Vor allem betraf das leistungsschwache Studenten, die ohnehin das Rennen verlorengaben.
Schließlich richtet sich Jakob auf und blickt zum Fenster, wo rückseitig Dutzende Mückenschwärme ununterbrochen kaum zu beschreibende Tanzrhythmen vollführen, bis alles irgendwann in den Mägen hungriger Vögel endet. So wird aus dem lustigen Spiel abrupt ein tödlicher Ernst. Und alles überkommt ein unstillbares Verlangen.
Dann vernimmt Jakob plötzlich von der Tür her kaum wahrnehmbare Geräusche, als versuche jemand einzudringen. Doch jetzt glaubt Jakob zu träumen, als er Großmutter plötzlich vor sich auftauchen sieht, wie sie lächelnd und voller Stolz ihren Enkel, einen Prosagedichte schreibenden Studenten, in die Arme nimmt und ihn, als hätte sie es sich schon lange vorher überlegt, nach der in absehbarer Zeit stattfindenden Semesterprüfung fragt.
Infolge der beachtlichen Witwenrente, die ihr als einer höheren Bankangestellten pünktlich auf Heller und Pfennig ausgezahlt wird, muss sie nichts entbehren, wirtschaftet im Haushalt aber dennoch sparsam, so daß es möglich ist, nach wie vor aktiv am gesellschaftlichen Leben des Umfeldes teilzunehmen. Ebenso zählt dazu die unentgeltliche Tätigkeit in einem Seniorenheim, wodurch sie viel Wertschätzung erhält und ihren sozialen Status beachtlich aufzuwerten vermochte.
Das heftige Räuspern der Großmutter deutet Jakob, als wollte sie ihm noch wichtige Dinge mitteilen, doch plötzlich musste sie es sich wohl anders überlegt haben und entschwand wie hinter einem dicken Nebelvorhang, der jedes ihrer Worte und Schritte sofort verschluckte. Schon fiel die Tür gewohnt leise ins Schloß, als habe man alles Notwendige erläutert, darunter auch die herannahenden Semesterferien und eine Stippvisite in Großmutters Fachwerkhaus mit dem romantischen Blumengarten. Dann versucht Jakob ein unverbindliches Lächeln, als wolle er ausdrücken, daß ihn nichts mehr so schnell aus der Ruhe bringen könne, es sei denn, der Mond nehme Kurs auf die Erde.
Jakob, immer noch ziemlich verdutzt vom unerwarteten „Besuch der alten Dame“, wie er anlehnend an das berühmte Theaterstück des Schweizer Autors Friedrich Dürrenmatt seine Großmutter heimlich nennt, eilt durchs Zimmer, als wäre noch viel zu tun, steuert auf den massiven Ledersessel zu, der, inmitten des Raumes stehend, einem Fels in der Brandung gleicht. Läßt sich schließlich in dessen bequem gearbeitete Polster fallen, um darin der brütenden Mittagshitze einigermaßen zu entfliehen.
Das schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten in Auftrag gegebene Möbel ist Jakobs unerschütterliche Bastion, um, wenn es notwendig sein sollte, Körper und Geist zu schonen, ehe ihn sämtliche Ausdauer verlassen würde. Er verzieht spöttisch den Mund und durchschneidet mit einer abfälligen Bewegung der rechten Hand die Luft. Doch weitere Gesten des Unmuts, wie es jetzt häufig bei anderen Studenten zu beobachten ist, erspart er sich. Vorläufig noch.
In diesem Augenblick probiert erneut jemand, so glaubt es Jakob zumindest, das verriegelte Türschloß, eventuell mit einem Draht, zu öffnen. Prompt macht sich Jakobs altes Kopfschmerzsyndrom aus Grundschulzeiten wieder bemerkbar. Nicht genug damit ist vom Kleiderschrank her ein Rascheln zu hören, etwa von einer den Winter überstandenen Maus? Oder einem anderen Geschöpf, durch Jakobs Betulichkeiten und dem Türgeräusch aufgeschreckt?
Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Sinnestäuschung oder die Folge der gestern von Gutknecht unerwartet angeordneten Literaturprüfung zum Thema „Martin Luthers nachhaltiger Beitrag zur Entwicklung der deutschen Sprache“. Eine gewiß nicht leichte Aufgabe, die vielgestaltiges Wissen erforderte über das „sanft lebende Fleisch zu Wittenberg“, wie der gegen Junkertum und reaktionären Klerus kämpfende Theologe und Bauernführer Thomas Münzer den 1483 geborenen Kirchenreformator einst bezeichnet hat.
Jedoch bezahlt der aufrecht für die Interessen des einfachen Landvolkes streitende Münzer sein tapferes Ringen gegen Fürstenwillkür und deren willfährige Lakaien, nach grausamen Folterungen, mit dem Leben.
Sein Mahnruf für künftige Generationen ist bis heute aktuell: Die Enkel fechten es besser aus! Da hilft uns vielleicht doch nur ein Wunder, das glauben zu dürfen! Zum Spotten ist Jakob jetzt wirklich nicht zumute.
Er hat die Anspannung bezüglich der Klausur hinter sich, rafft sich endlich auf, am Nachmittag, auch wenn es sich kaum noch lohnen wird, in der Dorfaue spazierenzugehen. Gleich zu Anfang entdeckt er links und rechts der ehrwürdigen Kastanienallee, die aus der kleinbäuerlichen Siedlung bis in die waldumsäumte Seenlandschaft führt, weißlich blühenden Klee, darunter Dutzende vierblättrige Exemplare. Verkünder des Glücks oder wenigstens einer gewissen Ahnung davon? Das genau herauszufinden, wird Jakob noch manche Überlegung kosten, bevor er zu anderen Sprachlosigkeiten wechseln kann.
Er nickt schweigend vor sich hin: Um Neuartiges zu schaffen, geht es ihm durch den Sinn, muß er den Horizont überblicken und dem Himmel ein großes Stück näher sein, ehe sich die Welt in Nebensächlichkeiten verstrickt. Er müßte durch regelmäßige Atemübungen, wie er das aus dem Yogaunterricht kennt, seine Lungen kräftigen.
Jetzt aber schnuppert Jakob den faszinierenden Duft gemähter Streuwiesen, hört das sanfte Murmeln eines vorüberhuschenden Baches, dessen schmale Uferböschung von Sumpfdotterblumen gesäumt wird, als würden gelbleuchtende Fackeln ihm den Weg markieren. Da weicht jene Idylle plötzlich einem kolossalen Schnattern und Flügelschlagen: unbändige Schreie Hunderter Wildgänse zerbrechen jäh die elegische Tatenlosigkeit eines sich bisher ausnahmslos friedfertig um Jakob ausdehnenden Landstriches. Eine ungewöhnliche Situation, die sich ihm bisher nicht derart drastisch geboten hat.
Jakob verlangsamt den Schritt, stemmt, wie zur Abwehr eines feindlichen Überfalls, beide Arme in die Seite, als wolle er sich damit gebührlichen Respekt verschaffen. Braust auf, schnippt wütend mit den Fingern und rückt die schmale Intellektuellenbrille paßgenau in die Stirnmitte. Und kann jetzt die ihn umgebende Wald- und Wiesenlandschaft haargenau ins Visier nehmen.
Während die Vogelschar den riesigen See überfliegt, naht gleichzeitig eine Gewitterfront, die schon den Himmel zu verdunkeln beginnt. Jakob sieht die romantische Auenlandschaft, eben noch ein bildschönes Traumgespinst zwischen ihm und den Wolken, rasch enteilen. Nichts auf der Welt, denkt er fassungslos und vergißt beinah, Luft zu holen, ist von Dauer, und so vermutet er in dem hitzigen Naturgeschehen einen höheren Fingerzeig: Sofort den Spaziergang abzubrechen, wird in den nächsten Minuten die entscheidende Frage sein!
Während Jakob dorthin zurückkehrt, wo er seine Tour begonnen hat, irritieren ihn Bäume, deren frühzeitig dürres Laub kaum noch Schatten wirft und jeden heiteren Gedanken verbietet. Alles scheint, zumindest in jenem Winkel, wo er sich gerade befindet, nicht mehr in Ordnung. Und dieser nichts Gutes verheißende Zustand droht sich offenbar immer heftiger zu entfalten, um Jakobs Empfindungen negativ zu beeinflussen, als besitze er kein Durchsetzungsvermögen, mit Hilfe anderer Gesinnungsgenossen das absehbare Verhängnis noch zu stoppen.
Wohin kann die bedrängte Menschheit des noch bewohnbaren Planeten flüchten, wenn dafür notwendige oder geeignete Chausseen nicht mehr vorhanden sind oder erst noch gebaut werden müssen?
Als Jakob endlich sein studentisches Quartier erreicht hat und ins Wohnzimmer tritt, macht er sich umgehend am Computer zu schaffen und läßt das wundersame Gerät, diese genial konstruierte Verschmelzung von Mensch und Maschine, nach seinem Willen unermüdlich für sich rattern. Schon die ersten Sätze, glaubt Jakob, haben es in sich, warnen vor der tödlichen Bedrohung der Umwelt, namentlich durch den vielerorts erkennbaren drastischen Wandel des Erdklimas auf allen Kontinenten.
Verbunden mit einem beängstigenden Ansteigen der Weltmeere sowie der Rücksichtslosigkeit der Menschen gegen ihre ureigene Existenzgrundlage sowie die aller Geschöpfe Gottes, wie die christliche Religion sagt.
Mit weit geöffneten Augen liest sich Jakob jene Passagen, die er gerade formuliert hat und die ihn zugleich durch und durch verunsichern, immer wieder vor:
„Die nur schleierhaft vorliegenden Planspiele angeblich frei gewählter Regierungen und Institutionen“, heißt es zu Beginn seines Textes, „sowie unsozial organisierter Wirtschaftskonzerne vor aller Öffentlichkeit schuldig zu sprechen und anzuklagen, erfordert beträchtliche Energie sowie viel Mut, Entschlossenheit und spezielle Kenntnisse über die Machtmechanismen des modernen Staates, hauptsächlich jedoch ein stabiles Rückgrat, das sich der jeweiligen Situation anzupassen versteht.“
Insgesamt entwickelt sich das Pamphlet, wie Jakob seinen „Mahnbrief“ verstanden wissen möchte, als deutlich umfangreicher und drastischer, als von ihm anfänglich gedacht. Doch nun gibt es kein Zurückweichen mehr, ist das Finale besiegelt. Endlich! Der ansehnliche Prosatext liegt korrigiert und zweifach gedruckt auf dem Schreibtisch. Und er kann, wie es ihm beliebt, nach wie vor jeden Satz und jedes Wort prüfen, selbst einzelne Buchstaben und die Interpunktion, bis er sich davon überzeugt hat, nichts mehr ändern zu müssen oder zu wollen.
Jetzt entscheidet Jakob, die letzte Fassung als unumstößlich zu betrachten und auf einen Stick zu bannen. Für sämtliche Eventualitäten. Dann erst wird er den Computer abschalten. Jedenfalls für heute! Nicht am Ziel angekommen zu sein, dieses Gefühl hatte ihn noch gestern bedrängt und zugleich emporgerissen.
Jetzt möchte er Markus, den Studienfreund, in der Nähe haben, ihm seine Abhandlung präsentieren. Mit den banal klingenden Worten: „Na, was hältst du davon? Ist es für dich und auch jeden unserer Kumpel verständlich? Ich meine, gut genug für unsere aufrührerische Absicht?“ Danach würde er Markus das am Schluß seines geharnischten Prosatextes komponierte Gedicht endlich vortragen:
Verlogene Porträts
Noch immer an Ort und Stelle
HIOB mit krasser Botschaft:
Aufhören zu singen
die Wasser, Grün gerinnt
unwiderruflich zur Legende.
Zwischen
menschlicher Ruhmsucht
und deren Begehrlichkeiten
ein hart gezogener Strich
durch verlogene Porträts
schräger Zeitgenossen.
Nicht die Dauer eines Wimpernschlages darf künftig verlorengehen, wenn Niedertracht gegen die zivilisierte Welt fortschreitet. So bohrt es in Jakob unaufhörlich, weiß er doch, warum und wodurch Hoffnungen auf eine friedliche und lohnende Gegenwart zerstörbar werden!
Er wirft sich in den Sessel, macht es sich bequem, streckt die Beine aus und erhebt sich gleich wieder, als spüre er an den Fußsohlen das Kribbeln Hunderter Ameisen. Deswegen in Panik zu geraten, ist nicht sein Ding, würde ihm nicht einmal im Traum einfallen. Eher schon bedrängen Höhenängste seine Existenz. Oder irgendwelche Konkurrenten, die ihn hindern möchten, in die erste Liga aufzusteigen, um selbst die Spitze zu erklimmen. Denn gnadenlose Konkurrenz, so hat es Jakob schon beim Spielen im Sandkasten erfahren, bringt Stärkeren den sicheren Gewinn. Er hebt beschwichtigend die Hände und seufzt. Diese Art zu leben wird auf Dauer nicht leicht sein.
Nach wie vor glaubt Jakob, erst neulich habe wieder jemand in sein Studentenquartier eindringen wollen. Die seltsamen Geräusche an der Tür scheinen seine Vermutung zu bestätigen. Jakob spürt plötzlich das Hemd schweißnaß am Rücken kleben. Sein blasses Gesicht formt sich zu einem verdrießlichen Staunen. Er knipst die Stehlampe aus und schwankt, so schnell es eben möglich ist wegen der eingeschlafenen, jetzt allerdings auch noch schmerzenden Beine, zum Feldbett, das er seit Jahren vorsichtshalber mit sich herumschleppt. Auf jeden Fall immer dann, wenn er den Aufenthaltsort wechselt, seine Ausbildungsstätte und sich deshalb in einer anderen, vielleicht interessanteren Universitätsstadt einrichten kann.
Jakob blickt gespannt zum Fenster hin, das er einen Spaltbreit geöffnet hält, wegen der im Zimmer lungernden Sommerhitze. So vernimmt er bald die wehmütigen Gesänge der Nachtigall oder ihrer nahen Verwandten. Dann irritiert lautes Krächzen seine ausgeprägte poetische Wehmut. Kolkraben übernehmen vorerst die Herrschaft im geheimnisvoll dahinraschelnden Dunkel des Parks.
Mit seinen Schlafgewohnheiten geht es Jakob ähnlich wie einst dem Weimarer Geheimrat Goethe, der auf strapaziösen Fahrten, die ihn mit einer erstaunlich vorteilhaft gefederten Chaise durch halb Europa führten, lieber das eigene, zusammenklappbare Bett mitnahm, als eine gewiß in jedem vornehmeren Hotel vorhandene Schlafcouch zu benutzen. Vor allem deshalb, weil sich der längst weltberühmt gewordene und in vielen Salons herumgereichte Autor der „Leiden des jungen Werthers“ nicht die Ausdünstungen eines Pensionsvorgängers zumuten wollte.
Er, der ohnehin für Gerüche äußerst empfindsame Dichterfürst, setzte eben auf seine eigene Duftmarke, die er mit keinem anderen Fahrgast zu teilen bereit war. Zumal er gewöhnlich schon früh morgens die Pferde anspannen ließ, um sein Tagewerk möglichst zeitig zu beginnen.
In der nächtlichen Stille seines Studentenzimmers, die er vor dem Zubettgehen gern noch mit Lektüre verbrachte, fühlte sich Jakob oft von Phantasiegebilden regelrecht eingemauert. War das nur ein für ihn bestimmter Zufall, mit dem er stets zu rechnen hatte? Zuletzt scheint alles, was um ihn vorgeht und zu fliehen versucht, nicht wirklich durchschaubar. Jakob mußte auf der Hut sein, nicht durch Unachtsamkeit orientierungslos abzugleiten. Für ihn ein permanentes Experiment, sich loszueisen von gefährlichen Strömungen oder Blockaden.
Hielt ihn vielleicht das zeitweise ohrenbetäubende Scheppern und Ächzen von Lastkraftwagen sowie Mähdreschern längs der buckligen Pflasterstraße, wo im Parterre eines bäuerlichen Hofgutes seine studentische Unterkunft lag, tatsächlich zum Narren?
Jakob lauscht, wie so oft, in das nächtliche Schweigen hinein, schmeckt förmlich den ermüdenden Hauch des in Jahrzehnten mürbe gewordenen Anwesens, seine bräunlichen, von Holzwürmern durchbohrten Möbelgarnituren.
Inzwischen spendet der im Nebeldunst treibende Erdbegleiter, herabblinzelnd in die vor sich hindösende Dorfaue, nur noch fahles Licht. Kündigt sich vielleicht ein Wetterumschwung an? Tatsächlich rieselt bald ein leiser, warmer Regen, freilich nicht passend zu dem eher Kälte ausstrahlenden Gestirn. Zugleich macht sich Jakobs bislang nur sporadisch aufgetretender Drehschwindel erneut bemerkbar. Erschrocken sucht er nach einem festen Halt in seiner Nähe. Das fehlte ihm gerade noch, wie ein taumelnder Trunkenbold zu wirken! Vor seinen entzündeten Augen beginnen jetzt, rote Blitze zu tanzen, die sich rasch ausbreiten und wieder verlöschen.
Vermutlich sind diese gesundheitlichen Probleme wohl dem zunehmenden Leistungsdruck an der Germanistischen Fakultät geschuldet, wo die bevorstehende halbjährliche Semesterprüfung längst schon den gesamten studentischen Lernprozeß beherrscht. Mit Gesprächsrunden zu allen erdenklichen Themen. Gewiß schwierige Wochen, in denen jeder Student Federn lassen muß, vielleicht aber auch gute Resultate erzielen kann.
Seine körperlichen Beschwerden würde Jakob bald vergessen haben, beruhigt der Röntgenologe aus dem städtischen Gesundheitszentrum und klopft ihm auf die Schulter, die allerdings schwach genug ist, es zu bemerken. Entläßt Jakob, der sich in der Röhre anwachsend eingeengt fühlt wie in einem Brutkasten, endlich aus dem MRT. Belehrt ihn noch einmal, vorerst den Lerneifer unbedingt zu mäßigen, Ruhepausen einzulegen und, wenn möglich, Sport zu treiben: oft zu radeln und sich einer Fußballmannschaft anzuschließen. So würde er, ohne daß es ihm bewußt ist, allmählich wieder ins Gleichgewicht zurückfinden.
Die Worte des Facharztes ermutigen Jakob, das offenbar seelisch bedingte Gebrechen allmählich zu überwinden. Denn nichts scheint ihm jetzt dringender, als sein Studium fortsetzen und erfolgreich zu beenden.
Jakobs Augen leuchten, als habe er soeben eine freudige Botschaft erhalten, die ihm verspricht, sich aus der Zwickmühle befreien zu können, da er Sorge hat wegen seiner Verläßlichkeit im täglichen Existenzkampf. Enthusiasmus hauptsächlich wird er benötigen, um gut voranzukommen.
Er knirscht mit den Zähnen, als wolle er demonstrieren, daß man trotz all der vermeintlichen Schwächen keinen Grünschnabel vor sich habe. Doch plötzlich ändert sich Jakobs Mine völlig, besonders drastisch durch die sich ihm stellende Frage, was er eigentlich anfangen will nach dem Studium. Einen Freigeist möchte er aus sich machen, keinesfalls den laschen Spießbürger, der sich nur wirklich begreifen und entfalten kann als Nabel der Welt. Und der nur etwas Gescheites von sich hören läßt, wenn es auch andere befriedigt. Wenn er auch den Menschen neben sich akzeptieren will.
Er springt auf, geht zur Tür und beginnt zu lachen, woraus ein albernes Kichern wird, bis Jakob sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Wes Geistes Kind er ist oder sein darf, wird seine Umwelt auszustehen haben!
Er schwört, seine Bleibe möglichst oft zu verlassen und Streifzüge an frischer Luft zu unternehmen. Stubenhockerei werde er künftig meiden wie der Teufel das Weihwasser. Auf dem Schreibtisch liegt, mit schwarzer Tinte hingekliert, ein kurzgefaßter Brief an Markus, den sein Freund heute noch erhalten soll. Mit dem Eilboten versteht sich, als wäre er jemand, der sich einen solchen Aufwand leisten könne, auch wenn er noch bis heute seiner Wirtin die letzte Miete schuldig geblieben ist.
Am übernächsten Tag betreten Jakob und Markus die am städtischen Mühlengraben gelegene „Gaststätte zum Alten Dessauer“, wo sie bei dem Kellner, einer jungen Aushilfskraft, frischgezapftes Köstritzer bestellen, später aber ins nahe der Kirche eingerichtete Café wechseln, wo man heiße Schokolade, Eiskreationen und diverse Speisen genießen kann. Für Jakob, den Kommilitonen wegen seines gerade erst notdürftig auf Butterbrotpapier gekrakelten Umweltgedichtes als künftigen Poeten feiern, die richtige Wahl.
Im Stadtcafé mit seinen exotischen Düften und den oft einkehrenden Studenten beiderlei Geschlechts fühlen sich Jakob und Markus stets gut aufgehoben. Hier erwartet niemand letzte Kenntnisse über den weltweit debattierten Urknall, der selbst unter Experten der Quantenphysik nicht erschöpfend geklärt ist.
Man streitet heftig über das Für und Wider „heiliger Kühe“ im fernen Indien, unter wessen religiösem Schutz diese oft genug den öffentlichen Straßenverkehr behindernden Tiere auch stehen mögen, und wie durch eine zunehmende Einwohnerzahl städtische und ländliche Metropolen beängstigend anzuwachsen drohen, ohne den Lebensunterhalt und die kaum lösbaren Probleme einer solchen Menschenmenge gewährleisten zu können.
Irgendwann würden auch sie jenes ferne asiatische Land besuchen und an Ort und Stelle alles Schulbuchwissen darüber prüfen. Vorläufig aber bleibt ihnen nur, von jener abenteuerlichen Reise in eine völlig andersartige Welt zu träumen. Dazu ein Glas Portwein, den sie auf das Wohl Indiens und seiner Menschen trinken und der ihre Phantasie aus den Angeln hebt.
Trotz der zahlreichen Gäste, von denen in erster Linie die Jüngeren mit Spektakel, bisweilen geheimnisvollem Tuscheln und albernem Gehabe sämtliche Aufmerksamkeit auf sich lenken, gelingt es Jakob, seinem eifersüchtig gehüteten Laptop, den er stets mit sich herumschleppt, literarische Inspirationen oder, wie er sie nennt, „Momentaufnahmen des Alltages“ einzutippen.
Sieht lächelnd zu Markus, während er volkstümliche Rhythmen auf die Tischplatte trommelt und zwischendurch ausruft: „Klar, wir schaffen das schon!“ Gemeint ist der übliche Studienkram, die sorgfältige Verarbeitung von Informationen aus Lesungen und Seminaren an der Fakultät, die er für künftige Prüfungen später einmal ausdrucken will. Er beginnt zu scherzen, während er sich rhythmisch bewegt und dabei wie ein Urbayer auf die Schenkel schlägt. Mit aller Wucht. Nicht einmal Jakob selbst versteht den Anlaß dieser seltsamen Heiterkeit.
Ihm gefiel es, mit durchschaubaren Ideen den Brennpunkt eines ausgewählten Objektes erfassen zu können. Sein Umfeld anzufeuern, darauf kam es Jakob an. Er wollte nicht bloß auf der Stelle treten, sondern sich möglichst ungebremst fortbewegen, um ihrem engen, kleinbürgerlichen Wirkungskreis als einfallslose, taumelnde Eintagsfliegen, die sie ja unbestreitbar waren, durchbrechen zu können und möglichst ihm ohne Schaden zu entgehen.
Konnte er denn mit sich zufrieden sein? Wenn nicht, was musste er unternehmen, um nicht leblos im Gewirr von Illusionen zu hängen? Das hieße doch, auf nichts mehr warten oder hoffen zu dürfen. War für ihn ein solcher Zustand überhaupt denkbar? Er, Jakob, der Poet, dem es logischerweise um das exakte Verdichten von Erkenntnissen geht, wusste es von vornherein und zu genau, daß für ihn eine derartige Zukunft nicht in Frage kam und er sie sich auch keineswegs wünschte!
Genau dort zu rasten, wo zunächst Unergründliches an die Oberfläche gehoben werden mußte, galt Jakob als maßgeschneiderte Aufgabe. Um diese Erkenntnis noch hervorheben, runzelte er seine Stirn und verkniff sich den anmutig, aber durchaus männlich geformten Mund. Es war Jakobs erkennbare Art, sich pantomimisch zu äußern, die allerdings auch hin und wieder zur Manier abgleiten konnte. Dann wurde es Zeit, sich umzusehen.
Natürlich glaubte er, in allen Lebenslagen unerschütterlich zu sein, sich fest im Griff zu haben, vor allem, wenn Markus ihm half, sich der wuchernden Bequemlichkeit an den Lehreinrichtungen der Universität entziehen zu können.
In diesem Café aus Historismus und Jugendstil suchten Studenten meist höherer Semester kurzweilige Zerstreuung. Hier trafen beide Freunde recht auffällige Typen, die ihnen anderswo, in einem eher apathischen Umfeld, nicht wirklich nahegekommen wären. Denn hier wurden deftige Sätze und Sprüche gewechselt, die sich anderswo vermutlich nicht so offenherzig und schnellfüßig von einem Tischende zum anderen ausgebreitet hätten.
Er biß auf seine Lippen, die wie ausgetrocknet waren. Kaum zu fassen, daß der am Ecktisch neben einer jungen Studentin flirtende Herr mit braunem Schlapphut und schmalen Brillengläsern tatsächlich Gutknecht war, der neue Seminarleiter, der sie vorige Woche durch eine überraschend angeordnete Prüfungsarbeit schockiert hatte! Jetzt hoffte Jakob inständig, daß Gutknecht sie übersehen möge, zumal er in die hübsche Studentin vernarrt schien, hinreichend abgelenkt von aller Welt, sein noch ungeleertes Glas erhebt und ein wenig nervös zitternd auf das Wohl der jungen Schönheit prostet. Man lächelt sich an und lebt, wie es zuverlässige Beobachter der Szene beschreiben, alle möglichen erschwingbaren Träume, von denen Gutknecht, dem Umfeld gemäß, eine analoge Vorstellung besitzt und eifersüchtig hütet. Er glaubt nur noch sich selbst zu spüren, und davon würde er nie mehr ablassen.
Daß in der feuchtfröhlichen Runde ab und zu eine Flasche Wein geköpft wurde, ergibt sich je nach Gemütszustand der Anwesenden und war unumstößliche Regel. Die bekannte Erfahrung, unser Aufenthalt in einer seit langem aus den Fugen krachenden Welt sei ohnehin nur von flüchtiger Dauer, fand allgemeines Interesse und wurde frenetisch beklatscht.
Schließlich war die letzte Flasche, ein jahrzehntelang im Weinkeller umsorgter Riesling, bis zum Boden geleert, da hallten vom nahen Kirchturm her, per Finger nachgezählt, zwölf metallische Glockenschläge. Als handelte es sich tatsächlich um Kuckucksrufe, wurde durch deren Zahl, so wußte man es aus der geheimnisumwitterten, aber schon längst verstaubten Sphäre der Großeltern, noch mögliche Lebensjahre preisgegeben. Natürlich ahnte keiner, was es für den einzelnen bedeuten würde.
Wenn das Abschiednehmen vom liebgewonnenen Alltag gekommen war, nickte jeder der sein Heil suchenden Gäste, bis plötzlich diese gewisse Stunde eintrat, in der Schein und Realität getrennt wurden. Dann breitete sich ringsum in den angestrengt lauschenden Mienen nicht von ungefähr so etwas wie Bestürzung aus, die jedoch bald in Heiterkeit umschlug und eine wichtige Triebfeder für jede Art von Daseinsfreuden wurde.
Spontan erhob sich Jakob. Wahrscheinlich etwas zu rasch, denn ihm war, als schwankte jetzt der Boden unter den Füßen. Hatte er doch wieder mit unangenehmen Gleichgewichtsstörungen zu tun? Wobei ihn ein Frösteln überkam, das lange anhielt, zu lange wohl, ehe sich die Gänsehaut zu verflüchtigen begann. Ihm fiel eine Melodie aus frühen Kindheitstagen ein, woran er sich lange Zeit nicht mehr erinnert hatte. Vielleicht stellt sich irgendwann auch der einst so leicht von den Lippen gekommene Text wieder ein? Dann tauchen plötzlich die wie in einem tiefen Loch versunkenen Worte an die Oberfläche: „Maikäfer, fliege, der Vater ist im Kriege. Pommernland ist abgebrannt, Maikäfer fliege!“ Aber wohin sollte er denn fliegen können, wenn ringsum alles zerstört war?
Genauso mußte es sich abgespielt haben: Der eigene Vater, den er nicht einmal gekannt hatte, geschweige denn sich an ihn liebevoll erinnern konnte, ist im Kriege verschüttgegangen wie so viele noch blutjunge Väter. Und keiner würde jemals erahnen oder gar erfahren, wo sie hingeraten sind.
Wer staunt heutzutage wirklich noch über Goethes unzähligen Äußerungen zur Vernunft und Torheit, wenn auch die Gegenwart ähnliche Theorien anbietet? Obwohl sich Jakob, inzwischen hoffnungslos gegen den Schlaf ankämpfend, noch bis Tagesanbruch über den impulsiven Disput dreier Bürger in der Marktszene „Vor dem Tor“ ärgerte, glaubte er unbeirrt, durch einen intensiven Meinungsaustausch mit vernunftbegabten Wesen zuletzt doch gewinnbringenden Umgang pflegen zu können.
Jene vom Suff rotgesichtig und mit hängendem Unterkiefer herumstreunenden Studenten waren für Jacob alles andere denn begehrte Gesprächspartner, denen er lieber den Rücken zukehrte. Sich mit ihnen nicht einlassen wollte.
Er würde sämtliche Friedensstörer, die er als Schlitzohre charakterisierte, jedenfalls nahm er sich das oft genug vor, gehörig zurechtweisen und demonstrieren, daß er und nicht sie das Herz am richtigen Fleck besaß, oder den Arsch, wie man es in der Umgangssprache heutzutage kurz und bündig sagte, eben ohne zu zögern, meist noch mit einem albernen Kichern dabei. Schließlich war sich Jakob mit Markus einig, daß Goethes „Faust“ bis in unsere Tage hinein zum Nachdenken anstiftet: Das seit Jahrhunderten angeblich längst Entschwundene ist mit der modernen Lebensart durchaus engagierter verknüpft, als wir Zeitgenossen es wahrhaben möchten.
Selbst Jakob gelang es nicht im Handumdrehen, seinen angestauten Groll einfach abzuschütteln, von trübseligen Überlegungen geplagt, etwas Sinnvolles anzupacken, sich ernsthaft zu fragen, ob wir vielleicht nur unser kleines geliehenes Leben im Kopf behalten können.
Wohin, in welches Land, sollte man auswandern, um sich nicht selbst beim Aufbruch in neue Regionen zu behindern, was sollte man schleunigst unternehmen bzw. fallenlassen, wenn man das eigene, über all die Jahre liebgewordene Gesicht nicht mehr ertragen kann, wenn es nicht attraktiv genug ist für einen neuerlichen Start ins gelobte Land der Weisen? Dann, im gängigsten Ton der Welt, fragte er sich, ob solche Gedanken gut ausgehen könnten.
Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe: An diese Worte versuchte sich Jakob um jeden Preis festzuklammern. Und das mit aller verfügbaren Entschlossenheit und Kraft.
Die einfachste Lösung müßte vielleicht darin bestehen, sich den Nachbarn wieder anzunähern und ergiebiger zu werden für Gemeinsamkeiten, sich also nicht uferlos voneinander entfernen! Deshalb sollten wir die folgenden Sätze aus dem „Faust“ für unsere moderne Existenz wenigstens skeptisch unter die Lupe nehmen, ehe wir sie zur Grundlage zeitgemäßer Handlungen erheben:
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen,
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus
Und segnet Fried und Friedenszeiten …
Des Menschen Weg zur Ehre war wenig dezent, aber schonungslos und mit holprigen Steinen gepflastert. Von einem unveränderlichen Nimbus geformt, hat doch jede Kreatur nur ein brauchbares Gesicht. Im Getriebe des Weltgeschehens muss jeder Mensch den ihm gemäßen Anteil suchen und schließlich auch finden.
Nach wenigen Stunden, gut davon die Hälfte unüberschaubare Trugbilder, verläßt Jakob sein bequemes Ruhelager, obwohl der Fakultätsbetrieb erst am frühen Nachmittag wieder begann. So blieb noch ausreichend Zeit, in der kleinen Bibliothek zu stöbern, die sein Vormieter, ein ehrgeiziger Jungakademiker, vergessen hatte, für den geplanten Umzug in ein anderes Quartier mitzunehmen, ohne der Wirtin und ihm rechtzeitig Bescheid zu geben. Das hätte sich doch wenigstens gehört für einen künftigen Hochschulabsolventen mit Aussicht vielleicht auf eine Professur!
Wenn Jakob sich im Studium belastet fühlte oder durch irgendwelche Ausbildungsmängel gehemmt glaubte, fragte er sich mit nachdenklich hochgezogenen Augenbrauen, was ihn das eigentlich anginge, diese biederen, hausgemachten Rezepte und Konflikte zwischen uns Menschen, als wäre das Leben zuletzt doch nur eine Kleinigkeit, nicht aber für ein Butterbrot zu gewinnen.
Den Kopf nach hinten werfend, wollte er deutlich machen, künftig wichtigere Angelegenheiten zu regeln, als einer schrulligen Meute zu folgen und deswegen kostbare Zeit zu verlieren. Er schüttelte nochmals seinen Kopf und versank ermattet im Sessel. Ob er sich noch zu abendlicher Stunde mit irgendwelchen Geschichten plagen wollte, von wem auch immer ausgeklügelt? Nichts fürchtete er mehr als Übersättigung oder sich gar darin einzunisten! Er möchte, dass man in seiner Umgebung weiß, hauptsächlich unter seinen Freunden und Kumpeln, es gibt ihn, diesen Studenten, der es zu etwas Anständigem bringen will. Egal wie anstrengend dieser Weg dauern wird.
Jakob ahnt jetzt, warum er das Studium mit einem nicht unbedingt zufrieden stellenden Resultat bestehen wird: War alles damit erklärbar, daß ihm altertümlich anmutende Bilder und Fotos, meinetwegen von einem Schnitter, der die Sense kraftvoll durchs Getreide schwingen kann, immer seltener begegneten, wenn überhaupt, wo sie doch selbst auf dem flachen Land kaum noch anzutreffen sind?
Wäre dieser Zustand nicht schon theatralisch genug, müßte er dagegen sofort wirksame Schritte unternehmen. Schließlich hingen Jakob die Mitgliedschaft im städtischen „Klub junger Literaten“, dem er vorigen Herbst nach häufigem Drängen von Markus beigetreten war, sowie hauptsächlich das Studium der Germanistik mit allen Pflichten und Funktionen schwer wie Mühlsteine um den Hals. Er muss schließlich schmunzeln, als er sich die Mühlsteine vorstellt, wie sie ihm den Hals beschweren, bis er kaum noch Luft holen kann.Und schickt ein leichtes Schulterzucken hinterher. Alles ist eben Schicksal!
Die monatliche Publikation des Klubs unter dem Titel „Geborgenheit“ steckt auch heute wieder pünktlich in Jakobs Briefkasten, der meist halbleer und schief im Flur hing. Seine Wirtin, die nichts dem bloßen Zufall überließ, hatte sich bereits kurz nach seinem Eintreffen vorsorglich angeboten, ihm das Journal auf den Schreibtisch zu legen. Gewissermaßen direkt vors Gesicht, damit es nicht zu übersehen war.
Darin enthaltene Rezensionen und Aufsätze über deutsche und europäische Lyrik nahm sich Jakob normalerweise am selben Abend vor, bis er durch das jetzt mit aller Kraft erwachende Schlafbedürfnis noch übriggebliebene Themen für den kommenden Vormittag wegräumte. Eine, wie ihm schien, effektive Methode, womit er gut zu Rande kam und an der er während des gesamten Studiums festzuhalten vermochte.
Für Benutzer leicht überschaubar, reihte Jakob das abwechslungsreiche Material, geordnet nach verschiedenen Disziplinen und Inhalten, sorgfältig in die Bibliothek ein. Verbrachte damit viele Stunden, die sich endlos hinzogen. ohne daß ihm etwas Erfolgversprechendes, zumindest etwas, das er dafür halten konnte, aufgefallen wäre, um der Gesellschaft Nutzen und Vorteile zu bieten.
Er horchte auf, schaute zum Fenster hin, als hätte er davor Schritte gehört, allerdings sehr bedächtige. Doch es blieb still. Zu still, um sich wohl fühlen zu dürfen. Eben zu friedfertig, um nicht arrogant zu scheinen.
Niemals hatte er Unproduktives oder Verwerfliches angestrebt. Daher unterließ es Jakob auch, eine Rechnung aufzustellen. Jungsein und Altsein schließen sich eigentlich aus. Dazwischen gibt es kein oder zumindest wenig Verständnis. Wer schon verrät absichtslos dem eifersüchtigen Nachbarn, vielleicht auch noch freiwillig, wie viele Jahre ihm eigentlich die strapazierte Seele belasten, oder wie alt er an Leib und Seele zu werden beabsichtige? Und hauptsächlich, was er sich für seine letzten Erdenjahre noch alles vorgenommen hat? Kummerjahre, davon hatte er sich längst überzeugt, würde er jedenfalls nicht zulassen!
Eine sture, durchaus interessante Existenz, von der manche seiner Kommilitonen geprägt waren, schien für Jakob keine praktikable Option. Ganz im Gegenteil: Er wollte diesem gefährlichen Virus ausweichen, durfte ihm nicht auf den Leim kriechen oder in den Abgrund folgen. Und keineswegs in die Töne grausamer Einsamkeit, aus denen keiner mehr unbeschadet entrinnen würde! Er will unbedingt und hoffentlich zu den Siegern gehören, weil es cool ist, Sieger zu sein und auf der obersten Treppe zu stehen, umjubelt von einer ihn beneidenden Welt! Ertappt sich dann bei der Vorstellung, bestaunt oder wenigstens begafft zu werden von der Bitterkeit der ewig nur beifallklatschenden Zuschauermenge.
Dann fing Jakob eines Tages plötzlich an, unhörbar für jegliche Nachbarn und sogar Freunde, denen er seit Jahren vertraulich verbunden war, mit sich selbst zu reden und zu hadern, alle möglichen Probleme und Streitfragen unverblümt auszutragen und deren Lösung in Angriff zu nehmen. Was man nicht weiß, ging es Jakob mit einem Lächeln durch den Kopf, kann nicht in Vergessenheit geraten. Dafür aber hat man selbst Sorge zu tragen.
Springt auf und stolziert mit langen Schritten quer durch sein Zimmer. Einen fünfundzwanzig Quadratmeter großen Raum mit zwei Fenstern auf der Südseite, davor Jalousinen, leicht zu bedienen per Knopfdruck. Ohne jede Quälerei. Aber es wird einem auch nichts mehr zugemutet, denkt er. Von niemandem! Und verharrt unvermutet auf der Stelle, um ein wenig nachdenken zu können. Bleckt dabei die Zähne und kräuselt leicht die Oberlippe.
Es schien besonders kompliziert, über das zu plaudern, was man selber herausgefunden hatte und somit gewöhnlich für unumkehrbar hielt. Wer sich dabei nicht gänzlich die Finger verbrannte, dem stand gewiß ein Schutzengel hilfreich zur Seite, den Bedürftigen zu retten, und wen noch alles, aus erworbener Gleichgültigkeit vor der hinterhältigen Ohnmacht des leisen Sterbens, diesem wunderlichen Treiben bis zum wagemutigen Ende!
Als die Wirtin gegen die Tür klopfte, war Jakob gerade damit beschäftigt, das heißt er wollte sich hineinknien in einen Gedichtband Rainer Maria Rilkes, versuchte, darin mit all seiner unersättlichen Neugier zu blättern. Und staunte wie einer, der schon wegen dieser hohen Kunst noch lange Jahre, wenn nicht gar ewig, vor sich zu haben wünscht. Was er da in Leinen gebunden und gedruckt sah, von ihm fest mit beiden Händen umklammert, erschien ihm ungeheuer spannend und bewegte, neben der Sturm- und Drangperiode des 18. Jahrhunderts, sein leicht entflammbares Gemüt. Das half ihm wirkungsvoll, sich für die Lebendigkeit festzulegen, gegen das andauernde Leidenwollen der Pessimisten und Daseinsflüchtigen. Und er stocherte wie abwesend in einem dicken Stapel von Briefen.
Würde er die verzehrende, kompliziert zu lösende Aufgabe bewältigen, die, wie er glaubte, genialen Geistesexplosionen auch zu entschlüsseln und nicht von gehaltlosem Mitleid überwältigt, sich in einem für vernunftbegabte heutige Menschen verständlichen Sinn auszudrücken? In einer unerhörten Klarheit der Sprache und Gedanken, mit dem jeder etwas für sich selbst anzufangen gewußt hätte?
Jetzt war der Punkt gekommen, mehr denn je ernsthaft nachzudenken, nicht aber zu schweigen oder jemandem blindlings zu gehorchen. Er lehnt sich wieder zurück in den Sessel. Es ist dunkel um ihn geworden. Er atmet heftig, aber es fehlt ihm nichts Wichtiges, also lebt er noch mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen und genießt den Beifall, der von allen Seiten vordringt. Er hebt seine Hände und winkt zurück in die Menge. Huldvoll, wie er glauben möchte, ohne sich zu überfordern. Danach wacht er auf wie aus einer lange währenden Ohnmacht. Und fühlt sich an sämtlichen Gliedern erholt wie seit langem nicht mehr. Ihn überkam der Moment, wo er die ganze Welt am liebsten umarmt hätte, jeden, der ihm auch nur die geringste Neigung entgegenbringt.
Konnte er um das Frühstück, für ihn meist nur eine ärgerliche Unterbrechung, jetzt noch einen Bogen machen, da sein Magen hartnäckig revoltierte, als tobten darin Dämonen, und die Wirtin, in Ausdauer geübt und damit widerstandsfähig geworden, bereits ein weiteres Mal vorstellig wurde? Nur diesmal, entgegen sonstiger Manier, ungezügelt, fast jähzornig, an der Tür klopfte und danach sogar die Klinke ärgerlich herabdrückte. Heftig, als wenn sie es tatsächlich eilig hatte oder haben mußte vor jetzt gefährlich anschwellender Ungeduld.
Kann jemand solchem Druck dauerhaft und vor allem ohne Schaden entweichen?, fragte sich Jakob, bevor er seiner Wirtin endlich die Tür freigab und ihr ungewöhnlich lammfromm zulächelte. Jakob beteuerte, sich dezent vor der alten Dame mit dem vergreisten Gesicht verneigend, doch ein bißchen zu tief, wie andere glauben würden, er werde das Hungergefühl, wenn es ihm gelingen sollte, prompt einstellen, indem er nun mit großem Appetit über das vorzügliche Frühstück herfallen und versuchen werde, sämtliche Delikatessen bis zum letzten Bissen wegzuputzen.
Auf dem Teller werde kein Krümel übrig sein. Beschwörend hob er die rechte Hand. Doch es war nur eine verkümmerte Geste, die ihm keine Wertschätzung brachte.
Wie recht der junge Gentleman doch habe, gab sich die Wirtin jetzt freundlicher und verzog nicht mehr ihre mit den Jahren schroff gewordenen Gesichtszüge. Magenknurren zu unterdrücken, winkte sie ab und knüpfte an Jakobs Worte an, wäre nicht so einfach. Sie habe die Zeit freilich auch nicht gepachtet, trage alles andere als Eintönigkeit mit sich herum!
Danach brach endlich zwischen beiden das einförmige Techtelmechtel ab. Man war sich plötzlich durch und durch willkommen. Und Jakob zitierte etwas, das er von irgendwoher kannte, wahrscheinlich aus einem Gedicht: Das Leben ist wahrlich voller Tücken! Es kommt einfach so daher, um für uns Menschen im richtigen Moment vorhanden zu sein und bestanden zu werden.
Die Wirtin servierte vollendet wie eine Grande Dame, die gelernt hatte, alles genau auf den Punkt zu bringen, die wußte, was sich gehörte, während Jakob energisch zulangte, als müßte er gerade jetzt genügend Kraft sammeln, um auch künftig sein Studium zu bewältigen. Wer an die Zukunft denken will, glaubte er überzeugt, muß hauptsächlich Vorsorge treffen.
Das Motiv seiner Hartnäckigkeit am Abend zuvor war die für Wochenbeginn angezeigte Klausur über Goethes Faust, weshalb Jakob immer wieder vor allem jene Verse durchackerte, in denen sich möglicherweise Prüfungsfragen verbergen konnten. Oder fehlte seiner Auffassung nach, wie er plötzlich schlußfolgerte, doch eine unbekannte Größe?
Das schnell herauszufinden, blieb jetzt eine seiner dringendsten Aufgaben. Klar war ihm jedoch: Es würde keinem noch so begabten Denker möglich werden, das endlose Weltall nach allen Richtungen hin oder gar vollständig auszuspähen. Nicht einmal Götter wären dazu in der Lage.
Jakobs Erkenntnisdrang rieb sich erneut, wie schon beim erstmaligen Durchlesen des Faustdramas, an dessen vielleicht aussagekräftigstem Satz: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen.“
War das Goethes kategorischer Imperativ bezüglich der stets aktuellen Herausforderung aller existierenden Materie durch menschlichen Entfaltungswahn? Das Unsagbare, zumal sämtlicher Fortschritt eines freilich noch fernen Tages, an dem die Sonne, das Zentralgestirn unseres Sonnensystems, nach Berechnungen von Kernphysikern explodieren wird, bleibt stets der letzten, nie wirklich haargenau berechenbaren Strecke vorbehalten.
Längst haben sämtliche zuständigen Experten die Erfahrung hinter sich, daß unser Erdenkreis zu keiner Zeit komplett klassifiziert werden kann! Man ist sich jetzt so sicher wie niemals zuvor, wohin alles steuert, wohin eigentlich die kosmische Reise geht. Dem Instinkt des Weimarer Giganten demütig folgend, gelang es Jakob, seinem Idol näherzukommen, wenn auch vorerst nur in winzigen Schritten.
Er schaute verdutzt in den an der Wand hängenden ovalen Spiegel, aus dem seine schon in frühester Jugend erwachten Sehnsüchte auf erstaunlich makellose Weise hervorzublicken schienen: Wurde es Jakob verständlich, daß nichts seine Persönlichkeit mehr und gründlicher beförderte, als wenn er Nutzbringendes zu erkennen und sogleich anzuwenden verstand?
Bei dieser Feststellung vergaß Jakob fast zu atmen und er spürte drastisch ein Kribbeln, das sich vom kleinen Zeh bis zum Kopf auszubreiten begann. Gewohnheiten als zerstörerischer Gewaltakt! Wenn man sich von ihnen nicht rechtzeitig zu trennen versteht oder trennen kann, schrumpfen wir Menschen in kurzer Frist zu engstirnigen Kreaturen, geraten in einen ruinösen Hinterhalt, aus dem es kein Entkommen gibt. Wie ein zufällig in eine Falle geratenes Tier sich nicht aus dem Fangeisen zu befreien vermag.
Jetzt fühlte sich Jakob geläutert wie lange nicht mehr, war überzeugt, die bisher nicht selten phlegmatisch dahintreibende Schöpfung sei noch zu retten. Irgendwie schon. Und warum nicht in diesem Augenblick!
Vielleicht auch mit seiner, wenn freilich äußerst bescheidenen Hilfe. Er wischt sich über sein rechtes Auge, in dem sich ein Staubkorn verfangen zu haben scheint.
In absehbarer Zeit würde er Verzweiflung sowie deren Zwillingsbruder, den Kummer, in Rückzugsgefechte verwickelt sehen, vielleicht sogar hineinziehen können. Und glaubte deshalb, für Gegenwart und Zukunft alles Notwendige gemanagt zu haben. So befand er sich überraschend in der untrüglichen Gewißheit: Er, Jakob, der Germanistikstudent im sechsten Semester, muß vor niemandem den Rücken krumm machen, wie er das manchmal vermutet hat. Er deutet eine Verbeugung an, in Richtung eines Studenten, mit dem er sich gestern zufällig im Campus getroffen hatte.
Endlich war er angelangt in dieser absonderlichen Welt, der auch er sich zinspflichtig wähnte, so regelwidrig alles zusammengebastelt war in einer ringsum anstößigen Übersättigung, die irgendwann sämtliche Individuen zu ersticken drohte. Deshalb müssen die anwesenden Bilder geordnet werden, und zwar übersichtlich und verständlich für jedermann, bis alle den gebührenden Platz eingenommen haben als Teil unbegrenzter Bewegungsfreiheit! Und das voller Stolz über die eigene Leistung.
Dann passierte es: Seine Aufmerksamkeit entgleiste, einfach so, ohne wesentlichen Grund. Hatte er zuviel hineingesteckt in all die Sehnsüchte rund um die ganze triviale Existenz? Irgendwann ein Erwachen überall, bevor wieder Töne der Einsamkeit überhandnahmen. Wodurch man nicht mehr ins Innere der Menschen vordringen kann. In die oft genug boshaft funkelnden Gesichter ringsum.
Rücksichtslos erhebt sich die Frage: Was wird einmal in zwanzig oder dreißig Jahren mit uns, der Menschheit? Gibt es diese Spezies dann überhaupt noch und vor allem mich, das Einzelwesen, das nur entsteht und vergeht im Arrangement mit anderen Geschöpfen des Universums? Wohin flüchtet dann alles berauschend Schöne, wonach wir stets voller Begierde Ausschau hielten?
Und dennoch steht für Jakob fest, er wird sich nichts Unredliches auf die Fahnen schreiben, sämtliche Betrügereien ins Visier nehmen, nichts Unzumutbares anfangen oder stützen. Seine Arbeitslust, getrieben durch rätselhafte Ereignisse, Worte oder Nachrichten, gilt ausnahmslos der Menschenliebe und ihrer Veredelung.
Sollte er zum Schluß wirklich noch einen Tango riskieren, um sich zu lockern, um sich endgültig freimachen zu können von jedem Ballast? Nachdenken allein half zu wenig.
Ohnehin wollte er nur unschuldige menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten in den Fokus nehmen und erforschen. Doch es müßte sehr bald geschehen, vor allem unumkehrbar sein für künftige Chancen. Also nicht in Bedrängnis geraten, in aussichtslose Situationen.
Goethes im Faustdrama offenbarte Zurückweisung der Sterblichkeit beflügelte Jakobs Einbildungskraft: Wer derartigen Ideen Zuflucht gewähren konnte, sagte er sich, und darüber hinaus anschaulich zu interpretieren verstand, lebte zweifellos mit sich und seinem sozialen Umfeld in tugendhafter Weise. Gleichsam als willensstarkes Geschöpf, unerschütterlich in sich ruhend und parallel strebend gegen jede Zügellosigkeit. Nichts aber sollte dem Zufall überlassen werden. Ist überhaupt eine mißverständliche Laune denkbar zwischen Leben und Tod, und wie lange ist sie von der Natur niederzuringen?
Jakob war das oben erwähnte Zitat aus der erfolgreichsten deutschen Tragödie schon von Kindheit an vertraut, da seine Mutter aus Goethes „Faust“ Kapitel für Kapitel deklamierte, als stünde sie auf den heilig genannten Brettern einer Theaterbühne vor einem wissensdurstigen Publikum, das herbeigeströmt war, sich zu amüsieren, zu unterhalten und zu erschaudern. Er hatte seine Lippen leicht gekräuselt und blickte herausfordernd um sich.
Schließlich aber kam es auf die Intensität des Lebens an, auf deren Gestalt, Farbe und Form. Und tonangebend beeinflußten tiefschürfende Denkprozesse, wie das Leben pulsierte, was und wie es in seinem Inneren strömte und eines Tages dauerhaft blieb.
Es schien Jakob eher riskant, dieses ewige Kommen und Gehen in der Natur, diese Wiederkehr in den vielstimmigsten Farben und Formen. Nicht wegzudenken war das einmalige Blau des Himmels, das Meer in seinem planlos hervorbrechenden Despotismus. Substantiell nicht zu begreifen, daß eines freilich noch fernen Tages alle Materie verglüht sein wird für Erdbewohner, daß es uns todsicher, ohne Gnade, mit Haut und Haar verschlingen, in die kaum vorstellbar bodenlosen Strudel hinabziehen wird.
Wo sich Objekte offenbaren werden, die vorher keiner für möglich gehalten hätte. Und wer könnte dafür geschickt einen Würfel setzen, bei dem ein Sieger nicht erkennbar sein wird. Nicht einmal aus der Nähe! Sich brüsten vor dem Freund oder Feind, meinte er, helfe unter keinen Umständen, eine nebulöse Angelegenheit zu klären.
Während er die Faustsaga Seite für Seite durchquerte, gewissermaßen wie ein den sicheren Erfolg spürender Goldgräber das umherliegende Geröll erneut durchstocherte, griff Jakob nun doch zu der von seinem Freund Markus kürzlich angebotenen Zigarette. Und las erstaunt auf der buntglänzenden Packung, daß Qualmen, wie vor allem junge Leute das Rauchen nannten, tödlich sein könnte, ein ruinierendes Medium, wenn man diese Warnung in den Wind schlage.
Da reizvolle Dinge immer wieder verführen, ob sie heimtückisch sind oder nicht, mußte jeder selbst entscheiden, mit wem und womit er sich abgeben wollte. Ein probates Mittel gegen nervöse Beschwerden und Erschöpfung, wie Markus auf Treu und Glauben versicherte, war Tabak allerdings ohnehin nicht. Zumal die inzwischen über den gesamten Erdball kultivierte Pflanze ein Genußmittel war, das, wurde es getrocknet und geraucht, einen widerlichen Nachgeschmack hinterließ. Zumindest bei ihm.
Um nicht rückfällig werden zu können, öffnete Jakob den Kachelofen und warf die Zigarettenschachtel in die auflodernde Flamme, als wolle er dieses Kapitel endgültig zu den Akten legen, also nie wieder aufschlagen.
Vom Strohfeuer blieb lediglich ein Häufchen Asche, und sein Versuch, durch Rauchen als Person gewichtiger zu erscheinen, war kläglich gescheitert. Zumindest endete das affektierte Gehabe, wie es ausgehen mußte: ohne einen Funken von Wollust. Nunmehr stand für ihn fest, daß er so schnell nicht wieder einen Glimmstengel zwischen Daumen und Zeigefinger halten würde. Dennoch wurmte ihn hartnäckig der Gedanke, diese, wie er glaubte, schmähliche Scharte irgendwann auswetzen zu müssen.
Jakob,dessen Atem auf einmal ungewohnt flach wurde, begann zu schnaufen. Immerhin war der Tag nicht erfolgreich gewesen, eher mußte er ihn kompliziert nennen. Zu dilettantisch, dachte er, hatte er seinen Lebensfaden gesponnen, zu leichtfertig dringende Entscheidungen verschoben bzw. sogar abgebrochen. Stand er sich häufig selber im Weg? Von Ferne hatte er machvolle Töne vernommen. Von einer Orgel vielleicht? Oder hatte Jakob doch nicht das Studium gewählt, mit dem er später einmal im Beruf auftretende schwierige Situationen zu überbrücken verstand?
Das Leben durfte nicht von Sorglosigkeit und Zufällen abhängig sein. Deshalb wäre es notwendig, nur mit ähnlich geneigten Menschen einen Pakt zu schließen, vielleicht als Ergänzung des eigenen Ichs, sich aber keinesfalls scheinheiligen Moralaposteln zu unterwerfen! Er mußte sich hüten, seine Intelligenz und Gaben durch Nachlässigkeit oder Schwäche verlieren zu können.
Jakob Breitenbach, Student der Germanistik und Kunstgeschichte, war jetzt entschlossen, etwas Eigenständiges anzupacken und zu besiegeln, um eines Tages das Studium vielleicht sogar mit cum laude beenden zu können. Er lebte doch nicht, um irgendwelche Menschen zu bestaunen, sondern um selbst bestaunt zu werden für ein nachahmenswertes Verdienst im ewig kreisenden Hamsterrad. Er wollte auf keinen Fall bieder sein wie so viele gläubige Menschen.
Unverkennbar eine heikle Sache, als habe er, der Patient, und nicht der behandelnde Arzt vor einer schwierigen Operation zu entscheiden, welche Betäubungsmittel er benötige, welche nachfolgende Behandlung seine Genesung erfordert und beschleunigen hilft.
Parallel dazu fragte er sich, wohin Ehrgeiz eines Tages führen würde und was käme danach auf ihn zu, auf seine künftige Berufsentwicklung?
Mitten in dieser Überlegung tauchte unverhofft wieder Hella auf, eine zu Semesterbeginn im Hörsaal getroffene bildhübsche Studentin, in die er sich sofort über beide Ohren verliebt hatte. Jakob fragte sich allerdings bald danach, ob aus der ersten, rein zufälligen Begegnung eines Tages Beziehungen entstehen könnten, um irgendwann gemeinsam etwas Tollkühnes zu unternehmen. Vielleicht ein Abenteuer in für sie beide noch unbekannte Welten? Eine Reise von Kontinent zu Kontinent oder sogar auf einen fremden Planeten?
Hinter diesem Wunschdenken verbarg sich der Gedanke, ob sich durch eine hoffentlich nie eintretende Situation krasse Widersprüche zwischen beiden Charakteren offenbaren und entwickeln könnten. Dann stellte sich Jakob vor, eines Tages mit ähnlich abstoßenden Reliquien umgeben zu sein wie es ihre Eltern für dringend notwendig erachteten. Manchmal konnten derartige Späße auch ganz schön zusetzen, und er vergaß sie recht schnell.
Sollte er besser an nichts denken und nichts voraussehen wollen, dann würde er, Jakob, eines Tages nur noch in der Gegenwart leben. Verharren in unbeugsamer Stille, die das Leben vollständiger machen könnte und vielleicht auch interessanter? Tatsächlich begannen ihre Gefühle zueinander mitten in der Examenszeit zu taumeln, bis jähe Umwälzungen im privaten Bereich nicht mehr zu verbergen waren und schließlich riskant für ihr Verhältnis wurden, demnach unkalkulierbar. Die einst so intensiven Träumereien von Jakob und Hella entfernten sich unerklärlich rasch voneinander, als wären sie jäh von einem Sturm zerrissen worden, als wären sie nie feinfühlig zu nennen gewesen.
Es war also vorbei, sie trennten sich, als hätte man sich nie liebevoll in den Armen gelegen, nie liebevoll in die Augen geschaut. Wie durch ein Unwetter waren ihre Gefühle plötzlich blockiert. Bald war von Hella kaum noch die Silhouette übrig, deren Details zu schwinden begonnen hatten, mit denen Jakob ohnehin nichts mehr wirklich anzufangen wußte.
Er lehnte sich von seinem Schreibtisch zurück, bis er diesen ihn beklemmenden Zustand überwunden sah, jedoch gereizt blieb und ungeduldig, dann latschte er auf den Ledersessel zu, ein wuchtiges, schon etwas hinfälliges Prunkstück, und ließ sich hineinfallen wie in eine Zuflucht, die man am liebsten nie mehr verlassen möchte.
Schob jetzt das Möbel in Richtung des Fensters und atmete tief durch. Fragte sich aber, was ihm das unruhige Studentenleben denn einbrachte, wofür er sich immer aufs Neue derart herumplagte an der Fakultät mit seiner steifen und zeitweilig manierierten Gelehrsamkeit, die, wie es ihm hin und wieder vorkam, nicht selten noch aus dem vorigen Jahrhundert entlehnt schien! Was nützt es da einem schon, wenn Gefühle von Überlegenheit aus den Augen und jeder Bewegung blitzen, als gehöre einem irgendwann der Kosmos ganz allein.
So kauerte er wie abwesend in seiner spartanischen Studentenbude. Unrasiert und das weiße T-Shirt über die engen Jeans hängend, wiegte er mürrisch den Kopf, dessen dunkelbraunes Haar eher zu einem Südländer gepaßt hätte. Hinzu jener Distanz verschaffende geheimnisvoll wirkende Blick aus großen, jetzt allerdings eher verdrießlich umherschweifenden Augen, die nichts weiter bezweckten, als irgendwo sicheren Halt zu finden.
Hatte er sich etwas Ernsthaftes vorzuwerfen?, fragte er sich und wußte nicht, wie es mit ihm und der hübschen Banknachbarin vorangehen sollte. Vielleicht die Beziehung aufgeben, einfach Schluß machen mit diesem Verhältnis, das jederzeit instabil werden konnte?
Er spürte zunehmend eine bedrückende Stille, sah die Bilder seines Lebens vorüberflüchten, das vielleicht zweckdienlicher abgelaufen wäre, hätte er sich für ein anderes Studienfach entschieden, nur eben nicht für Germanistik. Jetzt allerdings waren die Würfel gefallen. Jakob hätte am liebsten alles hingeschmissen, was ihm lieb und teuer war. Dachte jetzt oftmals an Georg, seinen Onkel mütterlicherseits, den freischaffenden Architekten, der selbst bei frühlingshaft sonniger Wetterlage ohne seinen Filzhut nicht vorstellbar gewesen wäre.
Georg wußte genau um das Unaussprechliche, das jeden Morgen neu an ihn herantrat: Vor allem hatte er sich zu beschäftigen, der preisgekrönte Baukünstler, mit Entwürfen moderner Schulen und Krankenhäuser sowie großzügig gestalteter Sozialwohnungen. Eingefaßt von üppigen Grünanlagen, in denen sich Menschen jeden Alters uneigennützig begegnen konnten und sich dabei offenbarten.
Einer seiner beharrlichsten Leitsprüche war, immer darauf achtzugeben, daß es zwischen den Menschen nicht von heute auf morgen nachläßt zu grünen. Dann allerdings, so glaubte er, sei die moderne Welt wirklich ernsthaft in Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit für alle. Um darüber nachzudenken, wie das zu verhindern sei, zog sich Georg oft in den zweiten Stock seiner Villa zurück, ins Atelier, wo ursprünglich das Herrenzimmer eingerichtet war.
Dort hockte er an seinem verschnörkelten Schreibtisch, der noch vom Ausgang des 19. Jahrhunderts zu stammen schien und den er in einem Laden für An- und Verkauf ersteigert hatte. Umgeben von altrosagetünchten Wänden, bedeckt mit großflächigen Skizzen, Entwürfen sowie Reproduktionen historischer Fotos und Gemälden, die Landschaften früherer Epochen darstellten.
Das nach persönlichem Kunstverständnis geprägte Inventar verhalf Onkel Georg, aus der verstaubt anmutenden Privatsphäre zu entrinnen und ihr ein gemütlicheres Image zu geben. Und vor allem konnte er hier produktiv arbeiten. Wer ahnt denn schon, überkam es den Onkel mitunter, wenn ihm das Tagewerk nicht erfolgreich vollbracht erschien, was uns Menschen alles noch bevorsteht!
Es fehlte ihm lediglich die Klangwelt Johann Sebastian Bachs, dessen Brandenburgische Konzerte oder eines seiner Orgelwerke und Kantaten, wobei ihm die berühmte „Kaffeekantate“ in den Sinn kam. Vielleicht aber, glaubte er zeitweilig, war sein bisheriges Schaffen mit zu unterschiedlichen Gastrollen verknüpft?
Auch Jakob liebte die altbarocke Kultur, in der sich sein rastloser Onkel so erfolgreich bewegte, und war erstaunt, daß er wieder sorgfältiger über alle möglichen Lebensinhalte nachzudenken begann, sich plötzlich an den lehrreichen Satz des chinesischen Altphilosophen Konfuzius erinnerte, nach dessen Überzeugung Essen und Sex die Begierden des in allen Lebenslagen abgehärteten Mannes sind.
Eine tiefschürfende Erkenntnis, von global anzutreffenden Denkmälern verkündet als bemerkenswerte Überlegung: Unser Leben, unser Zusammenhalt darf nicht zu einem Gefängnis entarten. Wir dürfen uns hauptsächlich nur als solche Menschen begreifen, die zuallererst solidarisch miteinander Umgang pflegen und fühlen.
Für Onkel Georg stand schon vor Beginn seines Studiums fest: Niemand brauchte sich aus dem Weg zu gehen. Man war gern und gemeinsam unterwegs für alle möglichen Chancen. Durchschaute sich ohne Furcht und Brotneid, jeder sollte bei sich einkehren dürfen und zugleich die Hand ausstrecken nach dem Gleichgesinnten. Ein jeder lebte nach Belieben grenzenlos in schwelgerischer, triebhafter Sehnsucht, ohne Ungereimtheiten zu begehen oder sich fallen zu lassen irgendwem zu Füßen.
Die finsteren Gestalten hingegen, die uns Menschen bedrohen und sich schamlos anschicken, jeden skrupellos auszunutzen, ohne faires Geben und Nehmen im Sinn zu haben, galt es davonzujagen. Mit Wärme und heiteren Wünschen, so dachte Jakob, sollten wir stets ins Leben heimkehren, bis jede Gefahr, jedes sich anbahnende Verhängnis ausgemerzt ist. Und wir stolz sein können, unser Scherflein beigetragen zu haben!
Energie und Fähigkeiten wollte Georg sammeln gegen herablassendes und arrogantes Lächeln einer verkümmernden Gesellschaft. Unsere Vorstellungen, darauf bestand er unausgesetzt, müssen haarscharf konfrontiert werden mit handfesten Tatsachen, bevor auch die letzten Träume unwiderruflich zerrinnen. Das sollte denjenigen, die Erfolge anstreben, als Leitmotiv dienen! Als eine Sprache ohne hinterhältige, ohne mißverständliche Dekoration.
Im Grunde war und blieb das Georgs einziges verwertbares Rezept. Da war von irgendeiner Vereinsamung oder Isolation niemals die Rede gewesen. Nicht von unkalkulierbaren Abgründen oder eingebildeten Schwächen. Hier setzte er unerbittlich den Schlußpunkt! Wahrheiten müssen aus Glaubwürdigkeit bestehen, nicht aus Irrgespinsten. Von Schocktherapien hielt er wenig, aber realistische Träume begleiteten ihn schon immer. Dafür brauchte er vorzugsweise scharfe Augen, keine schmerzlich verzogenen, keine traurig und hilflos zitternden Hände.
Das war die erste Nacht, in der Georg, wie er unverblümt gestand, das erste Mal eine Frau in sein Zimmer nahm und mit ihr schlief, ehe beide am frühen Morgen nebeneinander aufwachten. Verdutzt und enttäuscht von ungewohnt enger Gemeinsamkeit und Berührung. Ein nicht seltenes Bild friedlicher Bedeutungslosigkeit Erwachsener.
Der Alte aus Weimar sah den von ihm erstrebten Vorsatz, seine Spuren nicht in Äonen untergehen zu lassen, als das von ihm höchst Errungene, unter dessen Niveau er sich keinesfalls zufriedengeben durfte. Was aber hatte das mit Jakob Breitenbach, einem aufstrebenden Dichter, zu tun, der zwar hoffte, ebenfalls nachhaltige Spuren zu hinterlassen, trotz gewaltigem Abstand zu Weimar?
Was ihn jedoch zweifellos ängstigte, war der in eine schwindelerregende Höhe führende steile Pfad, der für ihn, den begabten, jedoch in einem finanziell spartanischen Milieu aufgewachsenen Studenten, kaum zu bezwingen erschien.
Zunächst aber machte ihm die irdische Realität erheblich zu schaffen: ein Unwetter, das auch jene abseits der Hauptstraße gelegene Siedlung, wo Jakobs Studentenzuflucht war, nicht verschonte. Es blitzte und donnerte ringsum, als würden feindliche Heere aufeinander prallen.
Ein ähnliches Naturgeschehen lag für Jakob schon viele Jahre zurück, als seine Eltern, er mochte in die vierte Klasse gegangen sein, an einem Sonntagmorgen mit ihm zu einem Kiefernwald fuhren, wo sie schon oft Pilze gesucht hatten. Auch diesmal kehrte die Familie mit einem Korb voller Steinpilze und Maronen zurück.


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