Tingeln durch das Land Danach – Band 2

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Sehr, sehr viel später habe ich diese Szene, die sich in vielen Nächten abspielte, meiner älteren Schwester erzählt. Sie lachte und erzählte mir, dass sie – ein Zimmer weiter – ebenfalls Nacht für Nacht am Fenster gestanden und nach ihm Ausschau gehalten habe. „Und“, fügte sie hinzu, „ein Zimmer weiter stand unsere Mutter am Fenster und wartete jede Nacht auf ihn.“ Mutter, Tochter, Sohn: drei große Fenster mit Blick auf die Wüste.

Wenn er dann endlich in unserer Straße, dem „Rosental“, auf uns zu marschierte und nach oben schaute: sah er dann womöglich die bleichen Schatten hinter den dunklen Scheiben? Waren wir womöglich selbst – so fragte ich mich schon damals – die Gespenster, die ihn davon abhielten, durch das weite Tor zu treten, das nur für ihn offen stand? Waren wir es, die ihn daran hinderten heimzufinden?

Immerhin: unsere erste Wohnung war recht komfortabel, geradezu nobel. Zu nobel für Leute, die als „arme Schlucker“ in diese Stadt gezogen waren und die vorher in einer primitiven Baracke gehaust hatten, so dachte ich damals. Zu teuer das Ganze, so vermutete ich schon bei unserem Einzug, und fragte mich, wie lange wir uns hier wohl halten würden, denn mein Vater verdiente nur wenig. Drei Jahre hielten wir durch, dann kam die Kündigung. Wir mussten raus. Umzug Nummer eins.

***

Unsere zweite Wohnung lag im fünften Stock eines der ersten primitiven Nachkriegshäuser, in denen vor allem Flüchtlinge aus den „verlorenen Gebieten“ untergebracht wurden. Keine Zentralheizung, kein „Kachelbad“, kein heißes Wasser, nicht mal eine Badewanne in dem Raum, der als Bad vorgesehen war. Dort gab es nur ein mickriges Waschbecken und ein Klo – und das in einem stickigen engen Kabuff, das keine Fenster hatte, lediglich ein Gitter zu einem Entlüftungsschacht hin, durch den unser „Mief“ abziehen sollte. So war das wohl gedacht.

Tatsächlich war es aber so, dass der „Dampf“ unserer vier „Untermieter“ zu uns herauf und herein drang und seinen Duft verbreitete. Ich mochte diese Wohnung nicht: zu hoch oben, zu primitiv, zu miasmatisch … und alle Räume grün getüncht … Insgesamt eine Katastrophe.

Unsere Mutter drang darauf, dass wir hier möglichst bald wieder weg kamen. Es gelang ihr, unseren Vater unter Druck zu setzen – und diesmal setzte er sich tatsächlich voll ein. Nach wenigen Monaten fand er eine neue Wohnung, unsere dritte … Und er schrieb einen Brief.

***

Unser zweiter Umzug brachte uns weit weg aus der Innenstadt nach Hörde. Die Wohnung lag im ersten Stock eines Hauses an einer viel befahrenen Durchgangsstraße. Die LKWs, die zu den Baustellen in Wellinghofen und Berghofen an uns vorbei rumpelten, die quietschenden Straßenbahnen hin und her: wenn wir tagsüber die Fenster öffneten, lebten wir mitten im Straßenlärm. Nur nachts wurde es wunderbar still. Diese Wohnung war ein wenig skurril.

Unser Vormieter – oder wer auch immer vor uns – hatte offenbar eine Vorliebe für die Farbe Schwarz. Unser „Kachelbad“ war schwarz gefliest, hochglänzend, und die Fugen zwischen den einzelnen Fliesen glänzten silbrig. Das war eindrucksvoll. Über der Badewanne hing eine Gastherme und wir konnten wieder heiß duschen und warm baden. Der Komfort war zu uns zurückgekehrt. Die Anordnung der Räume war allerdings seltsam.

Trat man durch die Wohnungstür in den kleinen Korridor, so fand man nur drei Türen vor: zum Bad, zur Küche und zu unserem Wohnzimmer. Um in die hinteren Räume der Wohnung zu gelangen, musste man immer durch dieses Wohnzimmer laufen: dann war man im Kinderzimmer und von dort aus gelangte man schließlich ins Schlafzimmer unserer Eltern. Es fehlte der übliche Korridor und die Wohnung kam mir vor wie eine langgestreckte Höhle mit gemütlichen Kavernen …

Im Kinderzimmer machte die Wohnung einen Knick, da das Haus ein Eckhaus war und in einem stumpfen Winkel in eine Nebenstraße abbog. Unser Kinderzimmer hatte also fünf Wände, eine davon schräg. In ihr befand sich die Eingangspforte zur Schlafzimmerkaverne meiner Eltern.

Eine der fünf Wände in unserem Kinderzimmer hatte unser Vorbewohner mit einer ausgefallenen Tapete beklebt: sie war schwarz und hatte ein Muster aus hellen, pastellfarbenen, großen, stilisierten Blättern mit fünf Fingern. Das Ganze sah aus, als habe jemand seine Hände in gelbe, hellgrüne und weiße Farbe getaucht und die schwarze Fläche gestempelt. Ich mochte diese Wand.

Überhaupt mochte ich das Nierentisch-Design der Fünfziger: solche „neuartigen“ Tapeten, die zierlichen Tische mit den schräg angesetzten Beinen, die „Cocktailsessel“, die filigranen Regale mit den variabel einbaubaren Schränken, die neuen, ungewohnt bedruckten Stoffe, die zierlichen Decken- und Stehlampen: das war der große Bruch – so sehe ich das heute – mit dem piefigen-miefigen Wilhelm- und Nazi-Wohnstil der Vergangenheit. Doch leider war die Nierentisch-Ära nur von kurzer Dauer, eine ästhetische Eintagsfliege: Die schwere Eichenschrankwand, die klobige Sitzecke mit dem klumpigen „Rauchtisch“, kernige Esstische mit kernigen Stühlen: das Schwere, Klotzige, Klobige kehrte alsbald zurück und erschlug die neue Leichtigkeit.

***

Unsere dritte Wohnung, diese Höhlenwohnung mit den schwarzen Tupfern, habe ich in guter Erinnerung, denn ich entwickelte hier zwei neue Angewohnheiten.

Erstens: ich entdeckte die Nacht wieder, die wache Nacht.

An den Wochenenden, freitags und samstags, wenn ich am nächsten Morgen ausschlafen konnte, saß ich die ganze Nacht in der Küche und las. Im Hintergrund der Höhle schlief mein Rudel und ich war ganz allein auf der Welt. Ich öffnete das Fenster und ließ die Stille und die einsamen Geräusche der Stadt herein. Ich las die Krimis, die in unserer Wohnung herumlagen. Wir holten sie aus den „Tante-Emma-Leihbüchereien“, die es damals in jedem Viertel der Stadt gab: Vorläufer der Videotheken, die den Leuten wenige Jahre später zu schlaflosen Nächten verhelfen …

Agatha Christie, Edgar Wallace und viele andere: ich liebte die Thriller, das Abgründige, die Schockelemente – einfache Whodunnits sagten mir nicht zu. Viel gelesene Schwarten waren das, der Einband meist in durchsichtige dicke Folie eingeklebt, abgegriffen, klebrig vom vielen Gebrauch. Sie lagen vor mir auf dem Küchentisch – ich mochte sie nicht anfassen und in der Hand halten – und ich saß in aufrechter Haltung am Tisch und las. So hielt ich es die ganze Nacht aus. Dann und wann stand ich auf, räkelte mich ausgiebig und kochte mir einen heißen Kakao. Dann ging es weiter.

In jenen Herbst- und Winternächten, so ganz allein im stillen Kosmos der Hörder Nacht, begann ich Kafka zu lesen. Die Wochenendnächte in jenem Winter 1958/59 schlief ich nicht mehr, ich las wie ein Besessener.

In den Sommerferien hatte ich meine ersten Erfahrungen in der Arbeitswelt gemacht, bei den „Kinderschindern von Berghofen“. Das steckte mir noch im Gemüt. Ich hatte andere, dunkle Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit gesehen, die mir bislang so vertraut und fest erschienen war. Ich war in die Malocherwelt eingedrungen. Ich hatte viel gelernt bei den Arbeitern, ich hatte ihre Kälte und Gefühllosigkeit gespürt. Meine Welt war ins Rutschen gekommen, ich spürte deutlich die Verschiebung und wurde skeptischer. Ich fing an, die Abgründe und den Horror hinter den Papierwänden zu sehen, auf die meine banale Gegenwart projiziert war. Vielleicht – so denke ich heute – sah ich damals zum ersten Mal das Land Danach in all seiner ruinenhaften Brüchigkeit. Ich sah nicht mehr nur die Zerstörungen und Ruinen „draußen“, um mich herum, sondern auch „drinnen“, in den Köpfen und Herzen der Menschen, mit denen ich zu tun hatte. Kafka lehrte mich sehen.

***

Zweitens: das Verhältnis zu meiner Mutter veränderte sich.

Das ist meine schönste Erinnerung an jene eigenartige Wohnung. Ich entdeckte meine Mutter neu. Ich sah eine andere Frau in der Frau, die mir bislang so bekannt und so vertraut vorgekommen war. Ich sah tiefer in sie hinein und fing an sie zu verstehen.

Es kamen zwei Faktoren zusammen, die mir das ermöglichten: einmal jener Nachkriegsnotbehelf, nämlich der Schichtunterricht an meinem Gymnasium – eine Woche Vormittagsschicht, die nächste Woche Spätschicht am Nachmittag – und zum anderen der seltsame Schnitt unserer neuen Wohnung.

Wenn ich Spätschicht hatte, war ich einen ganzen Vormittag lang mit ihr allein: Vater im Büro, Geschwister in der Schule. Dann „arbeiteten“ wir gewissermaßen Tür an Tür. Ich saß an dem großen, alten, schwarz gebeizten Schreibtisch aus massiver Eiche und machte meine Hausaufgaben für die Schule. Die Türen des Wohnzimmers, in dem ich arbeitete, waren geöffnet, denn es war ja ein Durchgangszimmer und meine Mutter musste es durchqueren, um die hinteren Zimmer aufzuräumen und die Betten zu machen. Ich war also nicht mehr eingeschlossen und allein wie in den früheren Wohnungen, wenn ich mich an meine Schulaufgaben machte.

Hier nun, in dieser komisch geschnittenen Wohnung, stand meine Mutter gleich nebenan in der Küche. Ich hörte das Geschirr klappern, wenn sie spülte – und wenn sie kochte, hörte ich, wie sie mit ihren Pfannen und Töpfen hantierte. Das waren angenehme, vertraute Geräusche, die mich bei meinen Schularbeiten begleiteten und trösteten. Ich hörte aber noch mehr.

Zuweilen setzten die Arbeitsgeräusche aus und dann hörte ich sie leise vor sich hin reden. Ich hörte sie atmen. Sie atmete zuweilen ruckartig und stoßweise ein – es klang wie ein langer Seufzer – und wenn sie ausatmete, hörte ich ein leises tiefes Stöhnen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass sie litt …

Das Unglück war über sie gekommen, als sie noch ein kleines Mädchen war und von da an hatte das Unglück sie ihr ganzes Leben hindurch verfolgt wie ein dummer, aggressiver, bissiger Straßenköter. Manchmal lauschte ich angestrengt, wenn sie ihre Selbstgespräche führte. Ich erkannte, dass es sich um Dialoge handelte, die anscheinend aus frühen Epochen ihres Lebens stammten und deren Sinn ich nicht verstand.

 

Sie war als Kind in einem kleinen, vornehmen Paradies mit zärtlichen und liebevollen Eltern aufgewachsen, das wusste ich. Als sie sechs war, starb ihr bewunderter Vater, als sie zehn war, starb ihre schöne Mutter. Nach diesen beiden Katastrophen wurde das Leben für sie zum Kampf gegen das Leid, das um sie herum immer wieder aufbrach.

All das wusste ich damals nur sehr ungenau und natürlich konnte ich überhaupt noch nicht einschätzen, was die Unglückssträhne, die sich durch ihr Leben zog, in ihr angerichtet hatte und schon gar nicht, wie weit ich und meine Geschwister Betroffene und seelische Erben ihrer Schicksalsschläge waren.

Um sie aus ihrer Trübsal herauszuholen, überwand ich mich und ließ sie an meinem Leben da draußen in der Schule teilnehmen. „He, sag mal“, rief ich dann in die beredte Stille oder in die Phase des Seufzens, „wie schreibt man eigentlich das und das …“ „He, ich muss einen Deutschaufsatz schreiben. Komm mal her und gib mir mal ein paar Ideen …“

Das waren schöne Zeiten, wenn sie dann in der Tür lehnte, mich beriet und sich mit mir unterhielt. Ich hatte sie ja nie für mich allein im Gewimmel unserer „Großfamilie“. Jetzt war sie nur für mich da und plauderte mit mir. Es war die einzige Phase während meiner gesamten Schulzeit, in der ich ihr – oder überhaupt irgendeinem Menschen – von der anderen Seite meines „eisernen Vorhangs“ erzählte, aus der „Draußenwelt“ der Schule. Ich suchte für sie vor allem die angenehmen, lustigen oder komischen Erlebnisse und Ereignisse aus, ich wollte sie – wie immer – nicht auch noch mit meinem „Kram“ unglücklich machen.

Sie erzählte mir zuweilen Anekdoten aus ihrer eigenen Schulzeit in Berlin. Sie erzählte, dass ihr Stiefvater selbst Studiendirektor gewesen sei – an dem Lyzeum, das sie selbst einst besuchte. Ich lernte so manches aus ihrem Leben und es kam mir vor, als sei sie in meinen früheren und naiveren Jahren fast unsichtbar gewesen. Sie rührte mich und ich fing an, die Stärke und Ausdauer zu bewundern, mit der sie uns, ihre Kinder, durch diesen Unglücks- und Elendsschlamassel zog ohne zu wanken.

Immer standen unsere Gespräche unter einem Zeitdiktat. Die große Standuhr schlug jede halbe Stunde und trieb mich an. Gegen zwölf Uhr Mittag musste ich mich auf den Schulweg machen …

„Du, hör mal. Ich muss noch einiges für Mathe machen. Schade, dass wir nicht mehr weiterquatschen können“, so „entließ“ ich sie. Dann kam sie auf mich zu, stellte sich neben meinen behäbigen Schreibtischstuhl, streichelte mir nur ganz kurz über die Haare und sagte: „Mein Eigenbrötler.“ Es klang wie immer ein wenig stolz und ich genoss wie immer ihre verhaltene Zärtlichkeit.

Der Brief

An jenem Schreibtisch, an dem ich die schönen Vormittage mit meiner Mutter genoss, schrieb mein Vater „seinen Brief“.

Es war wohl so, dass sie ihn dazu angetrieben hatte: sie wünschte sich eine größere Wohnung mit zwei Kinderzimmern, denn bis auf den Jüngsten waren wir, ihre Kinder, allesamt inzwischen in das Teenie-Alter hineingerutscht. Und Mädchen und Jungen sollten im Teenager-Alter nicht mehr in einem Raum schlafen: das gehörte zu ihrem Wertekodex.

Dortmund war in jener Zeit eine Hochburg der Sozialdemokraten. Weit über sechzig Prozent der Wahlbürger wählten damals SPD – und das kam nicht von ungefähr. In jenen Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs und eines sozial angehauchten Keynesianismus war die Dortmunder SPD – wie die SPD insgesamt – noch die Partei des sozialen Fortschritts und der sozialen Reformen, eine Partei, die sich für die „kleinen Leute“ einsetzte und viel für die „kleinen Leute“ tat. Die „Partei der kleinen Leute“ eben – so war das damals. Lange her …

Die „rote“ Stadtregierung fing schon früh in den Fünfziger Jahren an, Wohnraum zu schaffen für die vielen Flüchtlinge und Arbeitsimmigranten mit ihren vielen Kindern und ihren vielen Nöten. Man baute „Flüchtlingssiedlungen“ mit kleinen, primitiven Häuschen und einem Stückchen Land, auf dem man gärtnern konnte. Und neuerdings baute man an einem Großprojekt, einer Siedlung für „Kinderreiche“: recht komfortable Reihenhäuser mit Gartenland. Mein Vater hatte von diesem Projekt erfahren und bewunderte den Mann, der es mit viel Engagement initiiert hatte und es mit viel Energie schließlich durchzog. „Ein richtiger Sozialdemokrat“, so äußerte er sich über jenen Stadtrat, der der Leiter des Amtes war, in dem er selbst damals arbeitete. „Echter Sozialdemokrat. Der tut was für die kleinen Leute!“ Und dann setzte er sich hin und schrieb seinen Brief.

Ich habe diesen Brief nie zu lesen bekommen und ich bin mir nicht sicher, ob er ihn je mit meiner Mutter besprochen hat. Als er schließlich mit seiner Endfassung endgültig und ein für alle Mal zufrieden war – mehrere Bögen, die mit seiner akkuraten, nach rechts geneigten, etwas steilen und eckigen Schrift bedeckt waren –, packte er alles in einen großen Briefumschlag, den er mit der Privatadresse eben jenes Stadtrats versah, den er so sehr bewunderte.

Am darauf folgenden Wochenende, am Samstag, lud er mich zu einem „kleinen Ausflug“ ein. Wir fuhren mit der Straßenbahn in die „Südstadt“, eine Dortmunder Gartenvorstadt, in der die Bessergestellten ihre feinen kleinen oder auch größeren Villen bewohnten. Wir fanden das Haus des so menschlich eingestellten und sozial engagierten sozialdemokratischen Lokalpolitikers, wir fanden den Briefkasten … und weg war der Brief.

Mein Vater lachte mich fröhlich an. Er schlug mit den Fingerknöcheln seiner rechten Hand dreimal an seinen Schädel:

„Auf Holz klopfen bringt Glück“, sagte er. Und in der Tat: es dauerte nicht einmal mehr ein Jahr und wir bezogen unsere eigene „Reihenhausvilla“ mit Garten – in einer nagelneuen Siedlung für kinderreiche Familien. Schlackenhalde inklusive. Umzug Nummer drei.

***

Ja, so wird es wohl gewesen sein, dachte ich später: sein Brief brachte uns ins „Programm“, wir wurden in die Eigentümergemeinde aufgenommen.

Meine Eltern hatten einige Urkunden zu unterzeichnen, etliche Kreditverträge abzuschließen (zinssubventioniert: also im sozialdemokratischen Geist jener Zeit) – und von den Schultern meiner Mutter purzelte ein riesiger Sack mit Sorgen. Wir sieben waren von nun an sicher und ausreichend behaust.

In dem Trubel, der folgte, nachdem wir im „Programm“ waren, verschwand „sein Brief“ fast vollständig aus meinem Bewusstsein. Im Herbst vor dem winterlichen Umzug besuchten wir oft die Baustelle, auf der „unser“ Haus emporwuchs, wir kletterten die Leitern hoch, begutachteten die Fortschritte, wir fingen wieder einmal an, unsere Sachen zusammenzupacken und unseren dritten Umzug vorzubereiten – und nie mehr war die Rede von seinem „Brief“.

Ich erinnere mich, dass wir zuweilen von dem „Glück“ sprachen, das wir gehabt hatten, vom „glücklichen Zufall“. Aber der eigentliche Auslöser unseres Glücks, sein Brief, geriet in Vergessenheit. Nicht einmal mein Vater sprach von ihm, obgleich er durchaus gerne von den kleinen Erfolgen und Glücksmomenten in seinem Leben erzählte. Aber auf seinen so erfolgreichen und folgenreichen Brief kam er nie mehr zurück.

Damals ahnte ich schon, dass er zu jenen Menschen gehörte, die über bestimmte Erlebnisse in ihrem Leben nicht reden können oder wollen. Er konnte voller Spaß und Humor schöne und angenehme Erlebnisse aus seiner Jugend erzählen: er war wie viele seiner Landsleute, die an der „Deutschen Märchenstraße“ groß geworden waren, ein hervorragender Döntjes-Erzähler, der mit Freude den Gag, den Witz einer Geschichte herauszukitzeln vermochte. Das Fröhliche und Leichte, das ihm im Leben widerfahren war, konnte er erzählen, über das Schwere und Leidvolle schwieg er.

Ich ahnte, dass in ihm etwas eingegraben war, an das er – außer meiner Mutter – niemanden heran ließ. Sie war es, die mir manchmal kleine Hinweise über sein „früheres Leben“ gab, sein Leben „vor meiner Zeit“ – aber wenn ich nachhakte und mehr wissen wollte, wies sie mich ab. „Er will darüber nicht reden“, sagte sie, „und ich soll euch auch nicht davon erzählen. Das ist sein Wunsch.“ So blieb mir mein Vater mit seinem seltsam ichbezogenen, rücksichtslosen Verhalten, das mich in jener Zeit stark beschäftigte, lange ein Rätsel.

Dass er auf seinen Brief überhaupt nicht mehr zu sprechen kam, hing vielleicht, so dachte ich später, mit dem zusammen, was er dort hineingeschrieben hatte – und dieser besondere Inhalt wiederum, so folgerte ich, hing mit den Rätseln seines Lebens zusammen, die ich nicht entschlüsseln konnte, weil mir die Informationen fehlten. Auf jeden Fall: ich glaubte nicht an „Glück“ oder „Zufall“. Mir war klar: Auslöser der massiven Verbesserung unseres Lebens war jener Brief. Ich sagte mir: sicherlich hatte es viele, sehr viele Bewerber mit einer großen Kinderschar und kleinem Einkommen gegeben, die ein Häuschen aus dem „Programm“ ergattern wollten. Die „vielen Kinder“ und die „Armut“ konnten nicht den Ausschlag gegeben haben, dass wir aus der Fülle der Bewerber „ausgesucht“ worden waren. Kinder und Armut: das galt schließlich für alle.

Dass er den „Dienstweg“ nicht eingehalten hatte, empfand ich von Anfang an als seinem Anliegen eher abträglich: ein fairer Behördenchef wird nicht ausgerechnet den begünstigen, der sich an der Warteschlange vorbei mogelt, so dachte ich schon, als wir den Brief in den Kasten warfen.

Es musste also etwas in dem Brief gestanden haben, dass jenen Mann so beeindruckt hat, dass er ihn mit einem wohlwollenden Vermerk an die zuständige Stelle weiter reichte. Und das – so dachte ich – musste etwas mit dem „Rätsel“ meines Vaters zu tun gehabt haben, mit den dunklen Phasen in seinem Leben, über die er grundsätzlich nicht redete.

Später habe ich aus den spärlichen Informationen, die ich über ihn hatte, entscheidende Ereignisse in seinem Lebenslauf gedanklich zu rekonstruieren versucht. Über eines bin ich mir bei meinen Überlegungen ganz sicher geworden: er wurde zum Opfer der Nazis.

Er wurde zum Opfer, so dachte ich, weil er ein stadtbekannter „Roter“ war und aus einer „roten“ Familie stammte, weil er Sozialdemokrat war, der die Nazis hasste und verachtete. Vielleicht hat er, als er den wichtigsten und erfolgreichsten Brief seines Lebens schrieb, auf seine sozialdemokratische Vergangenheit während der Nazi-Zeit hingewiesen – diesem Dortmunder Sozialdemokraten gegenüber, den er so sehr bewunderte. Vielleicht hat er auch darauf hingewiesen, dass er – wie sein Vater – unmittelbar nach dem Krieg von der britischen Besatzungsmacht als „sauber“ herausgepickt und beauftragt wurde, in den niedersächsischen Dörfern und Kleinstädten wieder SPD-Ortsvereine aufzubauen. Das passierte in jener Zeit, da die Briten ihren berühmten Churchill abgewählt und „Labour“ an die Regierung gebracht hatten. Und „Labour“ wollte eine starke SPD in der „britischen Zone“, eine „Labour“-Zone eben.

Möglicherweise hat er sich in diesem Brief überwunden und hat von seinem Schicksal erzählt, was er sonst nicht tat. Vielleicht hat er dieses eine Mal alles in die Waagschale geworfen, weil es für unser Leben so wichtig war – und weil er seiner Frau gegenüber vieles wieder gut zu machen hatte. Vielleicht hat er sein Schweigen dieses eine Mal gebrochen: nicht von Angesicht zu Angesicht in einem Gespräch mit den Menschen, die ihn liebten, sondern in einem anonymen Brief an einen Fremden.

***

Auf jeden Fall: das „Haus“ veränderte sein Verhalten in einem entscheidenden Punkt: er stand immer öfter am Wochenende auf und blieb nicht einfach von Freitagabend bis Montagfrüh im Bett liegen, wie er es bisher meist getan hatte. Lange Zeit glaubte ich, er müsse sich an diesen Wochenenden, die er im Bett verbrachte, von den anstrengenden Ausschweifungen der Woche erholen. Das stimmte wohl nur zum Teil. Tatsächlich war er krank. Was mich nämlich wunderte und rührte, war die Tatsache, dass meine Mutter, die ihn häufig so heftig angreifen und heruntermachen konnte, ihn an all diesen Wochenenden ohne Murren umsorgte, bediente und pflegte. Erst sehr viel später begriff ich, dass die beiden dann die „Urszene“ ihrer Liebe wiederholten und – Wochenende für Wochenende – die Rollen einnahmen, die sie in die Urgeschichte ihrer Beziehung zurück brachten: Krankenschwester und Patient.

Jetzt stand er also am Samstagmorgen auf und werkelte das ganze Wochenende im Haus und im Garten. Oft kam er selbst an Wochentagen früh abends nach Hause … und schleppte Pflanzen an – Johannisbeersträucher, Erdbeerpflanzen und schließlich sogar kleine Apfel- und Birnbäume –, die wir in unseren Garten setzten.

 

Erst wenn es bereits dunkelte – nach getaner Arbeit – setzte er sich auf der Terrasse in seinen Sessel und genehmigte sich sein erstes Bier. Er konnte stundenlang in der Dunkelheit sitzen und in die Nacht hinaus denken. Manchmal kamen wir dann auf eine freundliche Art zusammen und führten angenehme und ruhige Gespräche miteinander. In einem dieser Gespräche wandte er sich einmal zu mir, schaute mir voll ins Gesicht und lachte kurz auf:

„Du musst nicht denken, dass ich im Trüben fische, wenn ich hier in der Dunkelheit sitze und träume. Was ich hier mache, ist so etwas Ähnliches: in der Pfütze angeln. Meist kommt ja nichts dabei heraus, eine Pfütze gibt ja nichts her. Aber plötzlich hängt ein kapitaler Hecht am Haken und man wundert sich.“

Anfangs hielt ich das, was er da von sich gegeben hatte, für eine seiner hübschen Floskeln, die er immer mal gerne von sich gab. Später war ich mir sicher, dass es ein verschlüsselter Kommentar zu seinem „Brief“ war. Vielleicht der einzige Kommentar, den er je dazu von sich gegeben hat.

5 Durst wird durch Bier erst schön

Häuschen mit Garten: das Jahr 1959 hatte also gut angefangen und natürlich setzte ich in den Sommerferien „mein Projekt“ fort: ich machte weiter als Ferienmalocher. An unserer finanziellen Situation hatte sich ja nichts geändert – da waren noch immer die „finanzielle Misere“, der „ewige Krampf“ und das Leben „auf Pump“. Das hieß für mich weiterhin: Malochen gehen, Kohle machen!

Schon Wochen vor den Sommerferien war es sehr heiß geworden. Ein Sommer zog hoch wie eine glühende Fahne und das Sommerhoch lag gleißend und stickig auf der stinkenden Stadt, über ganz Deutschland, über Mitteleuropa, wochenlang, monatelang. Schon früh im Jahr kochte alles auf und kühlte nicht wieder ab und als es wieder darum ging, mir einen Ferienjob zu suchen, hatte ich Glück, „multiples“ Glück. Ich ergatterte einen unter den „Ferienschülern“ heiß begehrten Job: „auf’e Brauerei“, wie man hier sagte, d. h. in einer der bekannten großen Bierfabriken der Stadt.

Glück Nummer eins: hier wurden hohe Löhne gezahlt, sogar höher als für Hilfsarbeiten auf dem Bau. Die NGG, die Gewerkschaft, die für die Nahrungs- und Genussmittelindustrie zuständig war, hatte in der Zeit des Aufschwungs gute Arbeit geleistet und viel für ihre Leute herausgeholt.

Glück Nummer zwei: es gab ein Bierdeputat. Man hatte einen tarifvertraglich verbürgten Anspruch auf sage und schreibe drei Liter Bier pro Arbeitstag, sechs Flaschen „Haustrunk“, so hieß das. Ich wusste, dass mein Vater glücklich sein würde, mir beim Austrinken der Flaschen zu helfen: jeden Tag musste alles ausgetrunken werden. Unsere Haushaltskasse wurde entlastet.

Glück Nummer drei: es zog dieser unglaubliche Sommer hoch, heiß, trocken, über Monate anhaltend. Der Jahrhundertsommer 1959 sorgte dafür, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben richtig, richtig Geld verdiente, viel Geld für meine Verhältnisse. Denn die Menschen hatten Durst und … „Durst wird durch Bier erst schön“: das war die Parole dieses Hitzesommers.

Wenn ich am Hauptbahnhof umstieg auf meinem Weg zur Arbeit, kam ich nicht umhin, das Werbeplakat der Bierindustrie ins Visier zu nehmen, das überall in der Stadt zu sehen war: eine weite Wüste, Freddies „brennend heißer Wüstensand“, dahinter, am Horizont, als Fatah Morgana, ein überschäumend gezapftes Pils, das Glas mit einem Kältereif überzogen. Perlende Tropfen rinnen am Glas herunter. Darunter der berühmt gewordene Reklamespruch, den mein Vater oft zitierte, wenn er seine erste Flasche ansetzte.

Die Hitzeopfer dieses Sommers nahmen den Spruch ebenfalls bierernst, wie ich „auf Maloche“ feststellen sollte. Es wurde die Saison der trockenen Kehlen. Es wurde gesoffen, gesoffen, gesoffen … Dortmund soff, Deutschland soff, Europa soff. Die Bundesgartenschau lief und Tausende hechelten durstig durch die Rabatten, die ich ein Jahr zuvor nicht hatte mit anlegen dürfen, weil ich noch zu mickrig wirkte. Rettung für die Verdurstenden brachten die nächste Kneipe, der nächste Kiosk mit gekühlten Flaschen, der nächste Biergarten …

Der Kohlenpott musste versorgt werden, Westfalen, das Münsterland. Das Sauerland trocknete aus. Frankreich, Belgien, die Niederlande und selbst West-Berlin warteten auf das „Dortmunder“. Alle Dortmunder Brauereien produzierten am Rande ihrer Kapazitäten und das hieß für mich: ich durfte Überstunden machen – noch und noch. Das brachte mir – zum ersten Mal in meinem Leben – einen großen Batzen Geld durch eigene Arbeit.

Es ist fünf Uhr, die Stadt erwacht …

Meine Schicht begann um sechs Uhr morgens, jeden Tag, fast sechs Wochen lang.

Wenn ich aufstand, kurz nach vier, stand der riesige rote Sonnenball noch sehr tief im Osten, über der großen Halde, auf der täglich die Schlacken des Hörder Stahlwerks abgekippt wurden. Die schrägen Strahlen überzogen die stillen Straßen und Häuser unseres neuen Viertels mit einem warmen, rötlichen Gold – und warfen lange Schatten über die Wiesen vor den Häusern und über den Asphalt der Straßen. Es war noch angenehm kühl. Ich schlich leise die Treppe hinunter und kochte mir meinen Kaffee. Ich hörte, wie meine Mutter ebenfalls die Treppe herunter getrappelt kam. Sie brachte es – wie immer – nicht fertig, ihren Sohn so früh morgens allein zu lassen. Sie kochte mir die obligatorische dicke Haferflockensuppe, die ich brav in mich hinein löffelte und die mich – nach ihrer Vorstellung – gut über die erste Hälfte der Schicht bringen würde. Das war auch so. Danach ging’s los.

Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle lag mir die Kühle des Morgens angenehm auf der Haut. Ich genoss die Frische vor der Hitze des Tages, das stille Sonnenlicht in den Straßen, die feierliche Einsamkeit der Frühe. An der Kirche in Brackel stieg ich in die Straßenbahn, die mich erst einmal zum Hauptbahnhof brachte. Sie füllte sich schnell mit all den Malochern, die wie ich Punkt sechs Uhr loslegen mussten.

Ich machte eine Entdeckung.

Zwischen fünf und sechs Uhr in der Früh wimmelte es in den Straßen von Menschen. Die Stadt brodelte auf und war auf eine Art quirlig und lebendig wie ich es zu anderen Tageszeiten nie erlebt habe. Es waren vorwiegend Männer, die da unterwegs waren. Flanellhemden, Overalls, kurze und lange Hosen. Grau und Blau herrschten vor im Gewimmel, viele hatten bereits ihre Arbeitsklamotten angezogen. Sie standen in dichten Trauben an den Straßenbahnhaltestellen und sprangen auf die überfüllten Bahnen, hasteten die Bürgersteige entlang, kurvten mit ihren Fahrrädern, Mopeds und Motorrollern durch die Straßen. Lebhafter Verkehr. Da rollten die Kleinwagen des Aufschwungs: Goggomobil, BMW-Isetta, Käfer, NSU-Prinz … da rollte die Vespa, später ein Kultfahrzeug, das Zeugnis ablegte von jener optimistischen Zeit, in der die Leute fühlten, dass die große Scheiße vorbei war und dass es aufwärts ging.

Es waren fast nur Männer, Männer jeden Alters, die da zur Arbeit hetzten. Punkt sechs Uhr mussten sie alle in voller Arbeitsmontur auf der Matte stehen und den ersten Handschlag tun, am Fließband, in der Montage, auf der Rampe, im Materiallager, auf der siebten Sohle, am Hochofen … wo auch immer: Malocher.

Für mich war das alles neu und die prickelnde Atmosphäre der frühen Stadt machte mich wach und brachte mich in Stimmung. Zeitungsverkäufer sprangen während der Fahrt auf die Tram und verkauften das damals noch neue 10-Pfennigs-Blatt, großformatig, reißerisch und blöd wie stets. Es gab kleine Buden mit Mettbrötchen, Wurstbrötchen, mit Käse belegten runden Kümmelbrötchen. Viele Malocher schleppten solche Leckereien in Tüten weg für ihre Frühstückspause um zehn. Einige Kioske hatten auch schon geöffnet, verkauften Kaffee, Kakao in Flaschen, Cola … und für die ewig Bedürftigen schon mal das erste Bier. Der Hauptbahnhof – hier musste ich umsteigen und auf die nächste Bahn warten – spuckte Hunderte aus. Sie strömten mit den Vorortzügen in die brodelnde Metropolis der Maloche, sie füllten die Straßenbahnen mit ihren lauten Witzen, ihrem Geflachse, Gebölke, Gelaber, mit ihrem Geruch aus Schweiß, Old Spice und Zahnpasta … Und ich war mitten drin und genoss es.