Prozessberatung für die Organisation der Zukunft

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Ich erhielt einen Anruf von einem Mitarbeiter des Stabs, der gerade mit anderen das jährlich stattfindende Treffen der 40 hochrangigsten Manager des Unternehmens plante. Der Vorschlag lautete, ich solle zwei Tage an diesem Treffen teilnehmen, die internen Diskussionen verfolgen und anschließend einen Vortrag über Unternehmenskultur halten, in den ich Beispiele aus ihrer eigenen Diskussion einflechten sollte, um ihnen Feedback zu ihrer eigenen Unternehmenskultur zu geben. Bei Veranstaltungsbeginn und -ende sollte ich nicht aktiv werden, das Ganze war also anfangs geplant als eine am zweiten Tag der Veranstaltung stattfindende weiterbildende Intervention. Obwohl es nach außen hin hieß, bei dieser weiterbildenden Intervention solle den Direktoren nur aufbereitetes Material präsentiert werden, ging es insgeheim auch darum, sie dazu zu bringen, sich realistischer mit ihrer eigenen Kultur und den damit verbundenen Konsequenzen auseinander zu setzen.







Mich interessierte dieses Unternehmen, außerdem wollte ich mehr über verschiedene Unternehmenskulturen lernen, die Abmachung erschien mir daher ideal. Ich erklärte mich mit den Vereinbarungen einverstanden und erfuhr dann, ich würde von Steven Sprague Näheres über das Meeting erfahren. Dieser war Vizepräsident geworden und unterstand direkt dem Chairman6 des Unternehmens. Wir vereinbarten für seine nächste Reise in die USA ein Treffen in New York. Sprague stimmte zu, ab diesem Zeitpunkt meine Spesen zu begleichen und mich nach meinen üblichen Stundensätzen zu bezahlen.







Bei dem Treffen sprach Sprague ausführlich über die strategische Situation, in der sich das Unternehmen befand, und meinte, es sei von entscheidender Bedeutung, bei diesem Jahrestreffen einen Blick darauf zu werfen, ob der Kurs, den das Unternehmen eingeschlagen habe, noch Sinn mache oder ob er schneller verfolgt oder Geschwindigkeit weggenommen werden sollte; und wie die Gruppe der Topmanager auf die Entscheidung, egal wie diese ausfalle, eingeschworen werden konnte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, dass die Planung des gesamten dreitägigen Treffens Sprague unterstellt war und dass er mich nicht nur kurz unterrichten, sondern das gesamte Design mit mir durchgehen wollte.







Bei dem ursprünglichen Anruf war es darum gegangen, dass ich einen Vortrag über Unternehmenskultur halten sollte, doch nun bat Sprague mich, als Experte bei der Planung des Jahrestreffens zu helfen, und erklärte sich zu meinem primären Klienten. Ich sah, wie ich die Rolle des Prozessberaters gegen die des Planungsexperten eintauschte, da wir die Planung des Meetings besprachen, ein Thema, über das ich offensichtlich mehr wusste als er. Diese Veränderung in meiner Rolle war uns beiden klar und wir machten sie explizit.







Wir klopften die einzelnen Elemente des Meetings hinsichtlich der von Sprague angesprochenen Ziele ab und die Idee tauchte auf, es könne weiterhelfen, wenn ich während des gesamten Meetings als Prozessberater anwesend wäre. Da mein Terminkalender dies zuließ, entschied Sprague mit meinem Einverständnis, ich solle während des gesamten Treffens verschiedene Rollen übernehmen. Ganz zu Beginn des Meetings sollte ich mich kurz zu Kultur und Strategie äußern und meine Rolle erläutern. Diese Rolle sah vor, dass ich zu beobachten versuchen sollte, wie sich diese Themen im Verlauf des Meetings zu einander verhalten. Am zweiten Tag sollte ich meinen Vortrag über Unternehmenskultur halten und, ein entscheidender Punkt, die Sitzungen am dritten Tag leiten, also an dem Tag, an dem die Gruppen ihren Konsens hinsichtlich zukünftiger Strategieoptionen umreißen wollten.







Bei diesen Konsensbereichen sollte es um Unternehmensstrategien gehen, doch es wäre für mich einfacher als für einen Insider, diesen Konsens zu überprüfen. Außerdem konnte der Chairman so eine beratende Funktion einnehmen. Daher erschien es uns beiden zweckmäßig, dass ich die Rolle des Konsensüberprüfers übernahm. Zudem war ich der Meinung, Sprague kenne den Chairman gut genug, um beurteilen zu können, ob er es für akzeptabel hielt, dass ein Außenseiter eine solche Rolle annimmt. Nach Spragues Verhalten während des Gesprächs zu urteilen, war er mit den Themen vertraut und kannte das Unternehmensklima gut. Ohnehin bot sich nicht mehr die Gelegenheit, den Chairman zu sprechen, ich musste diese Rolle also annehmen.







Meine Teilnahme an diesen drei Tagen entwickelte sich wie geplant. Der Chairman fand es von Vorteil, auf jemand von außen Kommenden zurückgreifen zu können. Er hatte so das Gefühl, sich stärker auf den Inhalt konzentrieren zu können, auf die strategischen Probleme, mit denen sich die Gruppe herumschlug. Es erlaubte ihm ein Ausmaß an Freiheit, das er so nicht kannte, da er in den Meetings bisher immer sowohl den Berater als auch den Chairman gespielt hatte. Er erklärte den anderen leitenden Managern meine Rolle und übernahm die Verantwortung für die Entscheidung, mich in diesen verschiedenen Rollen dabeizuhaben.







Meine aktiven Interventionen konzentrierten sich vor allem auf den Aufgabenprozess. Zum Beispiel versuchte ich gelegentlich einen Punkt zu verdeutlichen, indem ich wiederholte, was ich gehört zu haben glaubte, klärende Fragen stellte, Ziele wiederholte, den Konsens überprüfte, wenn man sich auf Übereinkünfte geeinigt zu haben schien, und die Bereiche protokollierte, in denen bereits Konsens erreicht worden war, um mich darauf in meiner Input-Sitzung zu beziehen. Als der Zeitpunkt für mein Feedback zur Unternehmenskultur gekommen war, beschränkte ich mich einleitend auf einige Definitionen und Beschreibungen der Unternehmenskultur als einer Sammlung von Grundannahmen, bat dann jedoch die Gruppe um Erläuterungen. Einige der Anwesenden wollten genauer wissen, wie ich ihre Unternehmenskultur empfände und bewerte, aber nach meinen bisherigen Erfahrungen war es besser, hier vage zu bleiben, denn selbst wenn ich mit einer technisch unangreifbaren Antwort hätte aufwarten können, hätte dies zu Abwehr und Verleugnung führen können. Ich hörte nicht auf zu betonen, nur Insider könnten die entscheidenden Grundannahmen des Unternehmens wirklich verstehen, und forderte die Gruppe auf, mir dabei weiterzuhelfen.







Am letzten Tag überprüfte ich offiziell den Konsens. Dazu strukturierte ich die diskutierten Themen und lud die Gruppe ein, ihre Ergebnisse vorzutragen, die ich dann auf Flipcharts schrieb, damit sie für alle deutlich sichtbar wurden. Da ich dabei ganz direkt vorging, konnte der Chairman seine eigenen Schlussfolgerungen freier äußern, ohne auf sein Recht zurückgreifen zu müssen, gegensätzliche Meinungen zu überstimmen. Da ich die drei Tage zugehört hatte, konnte ich viele Themen auf den Punkt bringen. Und ich zwang die Gruppe, Farbe zu bekennen, wenn ich den Eindruck hatte, die Mitglieder flüchteten sich in vage Aussagen. In dieser Rolle handelte ich teils als Prozessberater und teils als Managementexperte, indem ich manchmal die erreichten Ergebnisse kommentierte.







Zum Beispiel war die Rede von einer Dezentralisierung in einzelne Geschäftseinheiten, was jedoch die Machtposition der bereits aufgebauten Geschäftseinheiten verringern würde. Die Hauptquartiere der Geschäftseinheiten befanden sich alle in der Heimatstadt, d.h. in Wirklichkeit wurde im selben Maße zentralisiert wie dezentralisiert. Ich stellte die Folgen heraus, die sich daraus für eine Reihe anderer Vorgehensweisen ergeben würden, wie den Transfer von Angestellten über Abteilungs- oder geographische Grenzen hinweg.







Der Ausklang des Meetings war sehr positiv, und man beschloss, in einigen Monaten die Ergebnisse zu überprüfen. Als ich mich dazu mit Sprague traf, erfuhr ich, dass sowohl seiner Meinung wie der des Chairmans nach alles wie erwartet gelaufen war. Sie fanden beide, es habe, was Inhalt wie Ablauf angeht, sehr geholfen, mich als Outsider hereinzuholen, auf den man nach Bedarf zurückgreifen konnte.







Merke: Der Berater muss bereit sein, in dem der Wirklichkeit des entsprechenden Augenblicks angemessenen Modus zu arbeiten. Der Beginn jeder Kontaktaufnahme zu einem Klienten hat im Prozessmodus stattzufinden. Nur so kann der Berater die Wirklichkeit des Klienten erkunden und herausfinden, womit genau er ihm am gezieltesten beim Umgang mit dieser Wirklichkeit helfen kann. Entsprechend der Entwicklung der Beziehung und der Veränderung des Klientensystems treten neue Rollen in den Vordergrund. Diagnose und Intervention sind nicht voneinander zu trennen.





Fallbeispiel 1.2

 Verschobener Aufbau eines Teams bei Ellison Manufacturing





Dieser Fall soll verschiedene Elemente der Prozessberatung verdeutlichen. Ich will mich nicht weiter darauf einlassen, wie ich in die folgende Situation geriet, sondern möchte hervorheben, was es bedeutet, gemeinsam Verantwortung für den Prozess zu übernehmen; dem Klienten die Verantwortung für sein Problem zu überlassen; dass selbst unsere unschuldigsten Nachfragen Interventionen sind, die unbekannte Konsequenzen nach sich ziehen können; und wie wichtig es ist, sein Nichtwissen einzusetzen und sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen.







Seit ein paar Monaten bereits hatten zwischen dem Manager einer am Ort ansässigen Fabrik und mir Beratungsgespräche stattgefunden. Er suchte nach einer Strategie, wie er mehr Vertrauen unter seinen Managern untereinander sowie den Arbeitern und der Führung aufbauen konnte. Nach mehreren dieser monatlichen Sitzungen kam er zu dem Schluss, der logische nächste Schritt sei, sein gehobenes Management (seine unmittelbaren Untergebenen) zu einer zweitägigen Klausur einzuladen, um aus ihnen ein Team zu schmieden. Er vereinbarte ein Arbeitsessen mit mir und seinem Mann für die Organisationsentwicklung, um das zweitägige Meeting zu planen und festzulegen, wie mein Part bei dem Meeting beschaffen sein sollte.



 





Als wir uns zu Tisch gesetzt hatten, erklärte ich, ich bräuchte noch mehr Informationen über die Vorgaben und Teilnehmer dieses Treffens. Ich fragte: »Wer sind denn die Teilnehmer an dem Treffen und was ist ihre Rolle?« (Diese Frage macht deutlich, was ich darunter verstehe, sein Nichtwissen zu benutzen. Ich konnte zu der Planung nichts beitragen, wenn ich nicht wusste, wer bei dem Treffen in welcher Rolle dabei sein sollte.) Der Fabrikdirektor ging seine Liste mit seinen Untergebenen durch, aber als er zu dem dritten Namen kam, zögerte er. »Joe ist für die Finanzen zuständig, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob er es drauf hat. Ich weiß noch nicht so recht, inwieweit er für seinen Job geeignet ist und ob ich ihn auf der Position lassen oder woanders hin setzen soll.« Darauf fragte ich nach, ob es noch andere Personen auf seiner Liste gebe, bei denen er Vorbehalte habe. Er meinte, da sei noch eine Person, die ihre Fähigkeiten noch nicht unter Beweis gestellt habe und vielleicht für das Team nicht in Frage komme. Ich wollte wissen, was seiner Ansicht nach wohl geschehen würde, wenn wir weitermachten und später einen oder beide feuerten. Er kam zu dem Schluss, das würde den Aufbau des Teams behindern und wäre auch gegenüber den beiden Leuten unfair, bei denen er sich nicht sicher war.







Nachdem wir Für und Wider dieser Klausur diskutiert hatten, entschloss er sich, sich zuerst über diese zwei fraglichen Personen klar zu werden und die Klausur bis dahin aufzuschieben. Wir alle atmeten auf, dass dieser Punkt bereits jetzt statt zu einem späteren Zeitpunkt aufgetaucht war.







Merke: Die wesentliche Information trat auf eine unschuldige Frage hin zu Tage. Der Prozess des Informationseinholens erlaubte es dem Fabrikmanager zu der Entscheidung zu gelangen, die Sitzung abzusagen, weil er selbst die einzelnen Themen noch einmal durchdachte. Für ihn war dieses Arbeitsessen eine der hilfreichsten Interventionen, obwohl wir den Aufbau des Teams für den gegenwärtigen Zeitpunkt abgeblasen hatten.





Fallbeispiel 1.3

 Das unnötige Managementmeeting bei Global Electric





Die Auseinandersetzung mit der sich ständig verändernden aktuellen Wirklichkeit verlangt vom Berater häufig die Bereitschaft, eher weniger als mehr zu tun. Dieses Fallbeispiel illustriert, wie wenig sinnvoll es ist, sich als Anbieter von Dienstleistungen zu verstehen, unabhängig davon, was in dem Klientensystem abläuft.







Man trat an mich heran, an der jährlich stattfindenden Managementkonferenz eines großen Schweizer multinationalen Unternehmens teilzunehmen, um dem Präsidenten bei der Planung eines Managementführungsteams zu helfen. Die Abteilungen arbeiteten zu isoliert voneinander, und falls es uns gelänge, unter dem Vorwand der von mir angebotenen Weiterbildung regelmäßig eine kleine Gruppe zusammenzubringen, könnte diese Gruppe allmählich dazu bewegt werden, die Probleme des Unternehmens anzugehen.







Der Kontaktklient war der Direktor für Managemententwicklung und -training, der mich während einiger Meetings über die Situation des Unternehmens informierte. Man brauchte unbedingt einen Vorwand für die geplanten autonomen Meetings der Abteilungsleiter, hatte zugleich aber den Eindruck, diese Meetings würden ohne jemanden von außen, der sowohl als vorgeschobener Anlass für das Meeting – d.h. das geplante Seminar – diente als auch als Motor, nicht in Gang kommen. Eine Ausbildungsintervention war daher sinnvoll, auch wenn es in Wirklichkeit darum ging, ein stärker zur Zusammenarbeit bereites Managementteam aufzubauen.







Nachdem unsere Planung vorangeschritten und ein einige Monate entferntes Datum festgesetzt worden war, vereinbarten wir ein Treffen mit dem Präsidenten im Hauptquartier in Europa, um die Details des Projekts zu besprechen. Bei dem Meeting mit dem Präsidenten schälte sich ein etwas anders gelagertes Thema heraus. Er machte sich Sorgen darüber, dass zwei seiner Abteilungsmanager die ganze Zeit über miteinander im Clinch lagen und sich gegenseitig das Wasser abgruben. Der eine der beiden war zu dominant, der andere zu unterwürfig. Ihm ging es darum, die beiden in einer Gruppensituation zusammenzubringen, in der durch das Feedback der Gruppe ihre »Schwächen« korrigiert würden. Ich war etwas skeptisch hinsichtlich der Möglichkeiten einer Gruppe, dies zu erreichen. Doch er wollte die Sache langsam angehen. Wir kamen zu dem Schluss, dass ihnen ein Seminar über Karriereanker und unterschiedliche Managementstile, wie es in einem anderen schweizerisch-deutschen Unternehmen erfolgreich durchgeführt worden war, weiterhelfen würde (Schein 1985).







Zwei Monate vor dem Seminar rief mich der Kontaktklient an und erklärte, es tue ihm schrecklich leid, aber das Seminar sei abgesagt worden, die Gründe dafür werde er mir später erklären; ich solle ihnen die Zeit berechnen, die mir verloren gegangen sei; sie wüssten noch nicht, ob das Seminar später stattfinden werde. Was tatsächlich vorgefallen war, erfuhr ich später, als ich einen anderen Klienten besuchte, der die Leute dieses Schweizer Unternehmens gut kannte. Die Abenteuer dieses Unternehmens hatten in der Industrie für einigen Gesprächsstoff gesorgt.







Ich hörte, der Präsident, habe sich über den »schwächeren« Manager so aufgeregt, dass er ihn ersetzte. Und dadurch schienen sich die meisten Schwierigkeiten, wegen derer man das Seminar anberaumen wollte, aufgelöst zu haben. Außerdem erfuhr ich von meinem Kontaktklienten, dass mein langes Gespräch mit dem Präsidenten zu dieser Entscheidung beigetragen hatte. Er hatte seine ursprüngliche Entscheidung und die Gründe dafür noch einmal gründlich durchdacht. Meine Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten der Gruppe war ihm nicht entgangen und daher hatte er einen anderen Weg zur Behebung der Probleme eingeschlagen.







Merke: Zwar war der Beratungsprozess kurz und anscheinend beendet, bevor er überhaupt begonnen hatte, doch scheinen die Interventionen dem Präsidenten während unseres Gesprächs über die Weiterbildungsintervention die Augen geöffnet zu haben, so dass er eine andere Strategie zur Problemlösung für angemessener hielt. Der Berater kann nicht von einem Moment auf den anderen wissen, welche Interventionen dem Klienten entscheidend weiterhelfen, aber in diesem Fall war mein Fachwissen über Gruppen und meine Frage, ob eine Gruppe ein zwischenmenschliches Problem zwischen zwei gewichtigen Spielern lösen könne, offensichtlich ausschlaggebend.







Schlussfolgerung: Probleme bei der Definition der Beraterrolle





Diese Beispiele machen deutlich, wie schwierig es ist, die sich ständig verändernde Wirklichkeit in einer dynamischen Klientensituation zu definieren, und wie notwendig, entsprechend neuer Informationen die Rollen zu verändern. Nicht nur die Richtung, in die der Klient sich bewegt, ist schwer vorhersehbar, dazu kommt, dass mit jeder Intervention neue Daten auftauchen, die das Hilfekonzept in einem neuen Licht erscheinen lassen. Häufig muss der Berater in den Expertenmodus wechseln, doch gewärtig sein, jederzeit ohne viel Aufhebens in den Prozessberatermodus zurückzuwechseln.



Viele Beschreibungen des Beratungsprozesses betonen, wie notwendig es sei, gleich zu Beginn einen schriftlichen Vertrag aufzusetzen. In meiner Wirklichkeit sieht es so aus, dass das Wesen dieses Vertrages und der Klient, mit dem ich diesen Vertrag schließen soll, ständig im Wandel begriffen sind. Der Abschluss dieses Vertrags hat daher mehr mit einem fortwährenden Prozess gemeinsam als mit einer Aktion, die es vor Beginn der Beratung zu erledigen gilt.



Der Berater solle sich auch, so heißt es bei vielen Modellen, klar darüber sein, wer genau der Klient ist. Ich bin mir immer vollkommen klar darüber, wer, wenn ich angerufen oder besucht werde, der Kontaktklient ist, aber sobald ich mit der Arbeit begonnen und wir den nächsten Schritt definiert haben, beginnt sich die Klientengemeinde auf unvorhersehbare Weise zu vermehren.



Übung 1.1



Reflexion über das Helfen



Diese Übung soll Ihnen klarmachen, dass Sie in der Helferrolle möglicherweise verschiedene Rollen übernehmen müssen. Sie können die Schritte 1, 2 und 6 alleine durchführen (20 Minuten) oder, wenn Sie sich in einem Workshop befinden, alle sechs Schritte mit einem Partner durcharbeiten (1 Stunde).



Erinnern Sie sich an die letzten Tage. Benennen Sie zwei oder drei Vorfälle, bei denen Sie jemand um Hilfe oder um Rat bat.



Versuchen Sie sich das Gespräch ins Gedächtnis zu rufen und identifizieren Sie die Rolle, die Sie in Reaktion auf diese Bitte um Hilfe übernahmen. Was wollte der andere von Ihnen? Wie reagierten Sie darauf? Hätten Sie auch anders reagieren können? Lässt sich Ihre Reaktion eindeutig in eine der oben beschriebenen Beratungsmodi – Experte, Arzt, Prozessberatung – einordnen?



Wenn Sie sich in einem Workshop befinden, suchen Sie sich nun einen Partner und beschreiben Sie Ihre Fälle, um sich dann von Ihrem Partner berichten zu lassen, wie er Ihr Verhalten sieht.



Analysieren Sie die Reaktion Ihres Partners auf Ihre Geschichte unter dem Gesichtspunkt, welche Rolle er in der Reaktion auf Ihre Geschichte einnahm und wie Sie darauf reagierten.



Kehren Sie die Rollen um und reagieren Sie nun auf die Geschichte Ihres Partners und analysieren Sie dann Ihre Reaktion und welche Reaktionen diese bei Ihrem Partner auslöste.



Reflektieren Sie über die Rollen, die Sie spontan einzunehmen scheinen, wenn Sie um Hilfe gebeten werden, und hinterfragen Sie, ob diese Rollen im Rückblick auf die Situation angemessen erscheinen. Gibt es andere Rollen, die Sie erlernen sollten?











2. Kapitel:







Die Psychodynamik der helfenden Beziehung





Beratung wird im Lexikon als Ratsuche oder professionelle Beratung definiert. Diese Definition passt ausgezeichnet zu dem im ersten Kapitel beschriebenen Arzt-Patient-Modell. Prozessberatung als Philosophie erkennt, dass hinter der Suche nach Rat oder hinter Beratung ein grundlegenderes Ziel steckt: Es geht um Hilfe für ein empfundenes Problem. Wir wollen einen Rat oder beraten werden, um Probleme zu lösen, die wir allein nicht lösen können. Und wir hoffen, dass die Beratung oder der Rat uns dabei weiterhelfen. Aber wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, helfen uns häufig Ratschläge und Beratung nicht weiter, was bei dem Hilfesuchenden zu Widerstand und Abwehr führt. Um diesen Widerstand besser zu verstehen, müssen wir uns näher mit der Psychodynamik der helfenden Beziehung beschäftigen und untersuchen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Hilfe tatsächlich möglich wird.



Ebenso gilt es, die helfende Beziehung von einer Reihe anderer Beziehungen zu unterscheiden, die sich zwischen Menschen entwickeln können – wie die zwischen Gebendem und Nehmendem, zwischen Lehrer und Schüler, Freunden, Ehegatten sowie zwischen Vorgesetztem und Untergebenem. In jedem dieser Fälle kann Hilfe ein Thema der Beziehung sein, allerdings ein Thema unter vielen. Aber bei vielen Interaktionen zwischen Menschen geht es auch um den Austausch von etwas anderem als Hilfe.



Man kann dieses Feld unter anderem erkunden, indem man den expliziten und impliziten psychologischen Vertrag zwischen den Helfern und denen, denen sie helfen, genannt »Klienten«, untersucht. Wovon geht die jeweilige Partei aus, was glaubt sie zu geben und zu bekommen? Welche psychologischen Bedingungen müssen für einen erfolgreichen Austausch erfüllt sein? Zum Beispiel sind gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Akzeptanz und gegenseitiger Respekt unabdingbar für eine erfolgreiche helfende Beziehung. Wenn dies so ist, wie lassen sich diese Bedingungen herstellen? Der erste Schritt dazu ist ein klares Verständnis der psychologischen Kräfte, die am Werk sind, wenn ein Mensch einen anderen um »Hilfe« bittet.






Das anfängliche Statusungleichgewicht in helfenden Beziehungen





In vielen Kulturen wird Selbstvertrauen betont und großer Wert darauf gelegt, seine Probleme selbst zu lösen. Hilfe zu suchen und sich damit für eine gewisse Zeit abhängig von jemand anderem zu machen, gilt damit de facto als Eingeständnis der eigenen Schwäche oder des eigenen Versagens. Dies trifft vor allem auf westliche, wettbewerbsorientierte, individualisierte Gesellschaften zu. Die beiden an einer helfenden Beziehung beteiligten Parteien befinden sich zu Beginn in einer schiefen oder unbalancierten Beziehung. Dabei ist der Helfer »oben« und der Hilfesuchende »unten«. Aus diesem »Unten« des Klienten ergeben sich, das kann man sich ausrechnen, ein oder mehrere bewusste oder unbewusste Reaktionsmöglichkeiten, von denen jede darauf zielt, die Beziehung wieder ins Lot zu bringen.

7

 





Mögliche Reaktionen und Gefühle des Klienten





1. Ablehnung und Abwehr (gegenseitige Abhängigkeit) manifestiert sich beim Klienten in der Nutzung jeder Gelegenheit, den Berater in ein schlechtes Licht zu rücken, seine Ratschläge herabzusetzen, die vorgebrachten Fakten anzuzweifeln und ihn herunterzuziehen, um sich selbst wieder gleichwertig fühlen zu können.





»Ihr Vorschlag kann nicht funktionieren, weil …«







»Daran habe ich auch schon gedacht und das geht nicht.«







»Sie verstehen das nicht wirklich. Die Situation ist viel komplexer.«





2. Erleichterung darüber, das Problem und die damit verbundene Frustration endlich jemanden anvertraut zu haben, der einem vielleicht dabei weiterhelfen kann.





»Ich bin so froh, mit jemandem darüber reden zu können.«







»Dass Sie mir vielleicht bei meinem Problem helfen können, ist wunderbar.«







»Ich bin froh, dass Sie verstehen, was ich durchgemacht habe.«





3. Abhängigkeit und Unterwerfung manifestieren sich in der vorrangigen Suche nach Bestätigung, Rat und Unterstützung.





»Was soll ich jetzt tun?«







»Ich habe Folgendes vor … Sind Sie nicht auch der Meinung, dass das die richtige Vorgehensweise ist?«







»Ich bin so froh, dass mir jetzt jemand anderer einen Rat gibt, was ich tun soll.«





4. Übertragung von Wahrnehmungen und Gefühlen auf den momentanen Berater, die auf früheren Erfahrungen mit Helfern basiert. Diese Übertragung erscheint zunächst als gleichrangig mit den oben beschriebenen Reaktionen, beruht jedoch auf tieferen, unbewussten Projektionen, von denen vorerst weder Berater noch Klient etwas ahnen. Zum Beispiel kann der Berater als ein freundlicher oder unfreundlicher Elternteil oder als geliebter oder gehasster Lehrer aus der Vergangenheit wahrgenommen werden.



Dieses Gefühl, »unten« zu sein, wirkt sich nicht nur auf das Selbstwertgefühl aus, es macht sich noch weitaus stärker in der Beziehung zu anderen in der Organisation bemerkbar. In vielen Unternehmen wird das Hinzuziehen eines Beraters mit dem Eingeständnis gleichgesetzt, man sei nicht in der Lage, seine Arbeit zu machen. Während meiner vierteljährlichen Besuche bei einem europäischen Unternehmen, in dem ich fünf Jahre lang als Berater tätig war, wurde ich gelegentlich in die Kantine für Führungskräfte zum Essen eingeladen. Dort traf ich einige Manager, mit denen ich an verschiedenen Projekten gearbeitet hatte, und musste feststellen, dass sie mir auswichen und es vermieden, mir in die Augen zu sehen, als würden sie mich nicht kennen. Mein Gastgeber erklärte mir, sie wollten nicht, dass ihre Kollegen erführen, dass sie mit mir gearbeitet hatten, um nicht an Ansehen zu verlieren. Das Gegenstück zu diesem Gefühl sind die peinlichen Blicke, die bisweilen zwischen den Patienten ausgetauscht werden, die das Behandlungszimmer eines Psychiaters verlassen und denen, die im Wartezimmer sitzen. Manche Psychiater sind deshalb dazu übergegangen, einen Seiteneingang einzurichten, um ihren Patienten ein solches Spießrutenlaufen zu ersparen.





Reaktionen und Gefühle der Helfer





Die Gefühle des Klienten, seine Abwehr, Erleichterung, seine Entspannung und Abhängigkeit werden den Berater mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit dazu verführen, den höheren Status und die Machtposition anzunehmen, die der Klient ihm anbietet. Wenn der Berater dann »oben« ist, kann das bei ihm eine Reihe von Gefühlen und Verhaltensweisen auslösen.



1. Diese Macht und Autorität dazu zu nutzen, voreilig Weisheiten von sich zu geben und den Klienten so noch kleiner zu machen.





»Ganz einfach, gehen Sie nur wie folgt vor…«







»Das ist kein wirkliches Problem. Ich will ihnen einmal erzählen, was ich in einer ähnlichen Situation gemacht habe, und das war damals wirklich übel.«







»Ich weiß genau, was Sie da tun können. In dieser Situation war ich schon sehr häufig.«





2. Sich einlassen auf die Abhängigkeit und Überreaktion darauf, was sich gewöhnlich darin äußert, den Klienten unangemessenerweise zu unter