GRABESDUNKEL STEHT DER WALD

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GRABESDUNKEL STEHT DER WALD
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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

Der Ort war für eine Grabstätte hervorragend geeignet. Er lag in einem der am dichtesten mit hohen Fichten bewachsenen Teile des Waldes, abseits aller Straßen, Wege und Pfade, sodass sich vermutlich nicht einmal dann jemand hierher verirrte, wenn er sich verlaufen hatte.

Die große breitschultrige Gestalt, die im Schein des hoch am Nachthimmel stehenden, nahezu kreisrunden Mondes die Schaufel schwang und das Grab aushob, hatte gleichwohl keinerlei Schwierigkeiten gehabt, bis hierher vorzudringen, obwohl sie neben dem Grabwerkzeug auch noch eine andere Last zu schleppen gehabt hatte, die in der Länge ein Meter achtzig maß und fünfundachtzig Kilo auf die Waage brachte. Doch wo ein Wille war, da war bekanntlich auch immer ein Weg. Und so hatte der Grabende weder Aufwand noch Mühe gescheut, um die Leiche an diesen Ort zu schaffen.

Er schnaufte mittlerweile schwer, während er in gleichmäßigem Tempo Schaufel um Schaufel des dunklen Waldbodens abtrug und neben der beständig tiefer werdenden Grube auf den rasch anwachsenden Erdhaufen kippte. Obwohl er wegen der anstrengenden Tätigkeit bereits ins Schwitzen gekommen war, hatte er weder den schwarzen Kapuzenpulli ausgezogen noch die Kapuze vom Kopf gestreift. Dabei war die Gefahr, dass ihn um diese Uhrzeit kurz nach Mitternacht und an diesem abgelegenen, menschenverlassenen Ort jemand sah, geradezu verschwindend gering. Dennoch wollte er nicht das geringste Risiko eingehen, denn der Preis, den er zu zahlen hätte, wenn er und das, was er getan hatte, entdeckt würden, war einfach zu hoch.

Während der überwiegende Teil dieses Waldstücks in mitternächtliche Dunkelheit gehüllt war, schien der Mond an mehreren Stellen durch Lücken im Geäst der Bäume und schuf dadurch eine geradezu märchenhafte, gespenstische Atmosphäre, die der selbsternannte Totengräber allerdings nicht zur Kenntnis nahm, da er sich vollständig auf seine Tätigkeit konzentrierte. Nur ab und zu hielt er kurz inne, hob den kapuzenbewehrten Kopf und lauschte auf verdächtige Geräusche, die in der Stille der Nacht weit zu hören waren. Doch außer seinen eigenen keuchenden Atemzügen und dem raschen Schlag seines Herzens, der ihm so laut vorkam, als müsste er im ganzen Wald zu hören sein, herrschte unwirkliche Stille. Nicht einmal die natürlichen Geräusche des nächtlichen Waldes waren zu hören, da es absolut windstill war und sämtliche Tiere in der näheren Umgebung vor Schreck erstarrt und verstummt zu sein schienen, als wären sie empört über den Frevel, den der zweibeinige Eindringling in ihrem Wald beging, und hielten unwillkürlich die Luft an.

Eine der größeren Lücken im Geäst befand sich genau über der Grabgrube, sodass der Mond den Grabenden und sein Vorankommen in kaltes, fahles Licht tauchte. Die Bäume hatten an dieser Stelle aus unerfindlichen Gründen eine kleine natürliche Lichtung geschaffen, die im Durchmesser zwar gerade einmal acht Meter maß, für die Person mit der Schaufel aber dennoch einen Glücksfall darstellte. Denn so hatte sie ausreichend Platz für ihr Vorhaben und musste nicht mit den Wurzeln der Bäume kämpfen, die sie wie ein Kreis stummer und missbilligender Wächter umstanden.

Der von einer zentimeterdicken Schicht aus Fichtennadeln bedeckte Waldboden war an dieser Stelle locker genug und bot dem kräftig geführten Schaufelblatt nur wenig Widerstand, sodass die Grube rasch tiefer wurde, während der Berg aus ausgehobener Erde daneben immer mehr anwuchs.

Schließlich hielt die Person, die neben dem Kapuzenpulli eine schwarze Jeans und schwarze Lederstiefel trug, schwer atmend inne, begutachtete das ausgehobene Erdloch, in dem sie stand, und nickte zufrieden. Sie stützte sich auf den Schaufelgriff und atmete mehrmals tief durch. Während sie darauf wartete, dass sich ihre Atmung und ihr Herzschlag wieder beruhigten, sah sie sich in alle Richtungen um, konnte jedoch nichts entdecken, was ihr Misstrauen erregt hätte. So wie es aussah, war sie noch immer mutterseelenallein an diesem Ort, der zum exklusiven Privatfriedhof für einen einzigen Menschen werden sollte, sodass seine Leiche nach Möglichkeit nie gefunden wurde.

Nachdem er schließlich wieder zu Atem gekommen war, wischte sich der Totengräber mit dem linken Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn, bevor er leise ächzend aus dem Grab stieg, das etwa einen Meter tief war, was er unter den gegebenen Umständen aber durchaus für ausreichend erachtete. Er ließ die Schaufel einfach auf den Boden fallen, da der weiche Belag aus Kiefernnadeln den Aufprall dämpfte, sodass der Laut nur wenige Meter weit zu hören sein würde. Dann trat er zu der reglosen Gestalt, die unweit der Grube auf dem Waldboden lag.

Es handelte sich dabei um einen Mann mit einem schmalen Gesicht und einem komplett kahl geschorenen Kopf. Er war glatt rasiert und besaß ein markantes breites Kinn, das ihm einen energischen, durchsetzungsstarken Eindruck verlieh und von einer auffälligen Kinnspalte geteilt wurde. Er war schlank und machte einen durchtrainierten Eindruck, ohne dabei allerdings übermäßig muskulös zu sein. Auf seinen Handrücken wuchsen rotbraune Haare, die im Mondlicht wie das Fell eines exotischen Tieres aussahen.

Die Augen des Mannes waren geschlossen, sodass er den Eindruck erweckte, als schliefe er nur. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass keine äußerlich sichtbare Verletzung zu erkennen war. Seine Kleidung – eine hellblaue Jeans, ein schwarzer Rollkragenpullover und braune Bootsschuhe mit abgelaufenen Hacken – war zwar leicht verdreckt, was vor allem auf den beschwerlichen Transport an diesen Ort, zunächst im Kofferraum eines Wagens und dann auf der Schulter des Totengräbers, zurückzuführen war, ansonsten aber unbeschädigt.

Dennoch wusste die Person, die den Mann zunächst unter großen Mühen hierher transportiert und dann auch noch das Loch gegraben hatte, dass sein Opfer mausetot war und keinen Atemzug mehr tat, denn schließlich hatte sie es mit ihren eigenen Händen erwürgt. Und wenn sie sich auf eine Sache in dieser Welt hundertprozentig verlassen konnte, dann auf ihre großen Hände und die enorme Kraft, die in ihnen steckte. Die Würgemale am Hals ihres Opfers wurden allerdings gnädigerweise vom Kragen des Rollis verdeckt.

Der Totengräber riss sich aufseufzend vom Anblick des Mannes los, den er ermordet hatte. Dann ging er in die Knie, schob seine muskulösen Arme unter den Körper und hob ihn mühelos hoch. Er wandte sich um, ging zurück zur Grabgrube und stieg mitsamt seiner Last hinein. Obwohl er kein Mitleid oder Mitgefühl für sein Opfer empfand – weder, als er es getötet hatte, noch jetzt, da es tot war – widerstrebte es ihm dennoch, allzu grob mit der Leiche umzugehen. Deshalb ließ er sie auch nicht einfach zu Boden fallen wie einen Sack Zement, was der tote Mann ohnehin weder gespürt, noch übelgenommen hätte, sondern bückte sich und legte ihn geradezu behutsam auf den Boden der ausgehobenen Grube. Anschließend wandte er sich rasch ab und stieg wieder hinaus. Er hob die Schaufel vom Boden auf und warf einen letzten Blick auf sein Opfer.

Was er sah, ließ ihn unwillkürlich erschaudern, denn das fahle Licht des Mondes, das nun ungehindert auf den reglosen Körper fiel, ließ diesen aussehen, als würde er in einem unirdischen Licht von innen heraus erstrahlen. Gleichzeitig erweckte der Mann in der Grabgrube den Eindruck, als wäre er noch immer quicklebendig und würde sich jeden Moment bewegen und aufsetzen, um sich beispielsweise über eine fehlende Grabrede zu beschweren.

Die linke Hand der Person im Kapuzenpulli zuckte automatisch zur Brust, als wollte sie sich bekreuzigen – zweifellos ein hartnäckiges Überbleibsel einer katholischen Erziehung –, verharrte jedoch wieder, noch bevor sie mit dem Kreuzzeichen beginnen konnte, als ihr jäh bewusst wurde, was sie da tat. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf und unterdrückte jeden Laut des Entsetzens, das sie bei diesem widernatürlichen Anblick empfand. Schnell stieß sie das Schaufelblatt in den Erdhaufen neben der Grube und begann dann mit energischen, schon beinahe verzweifelt wirkenden Bewegungen damit, Erde auf den Körper zu schaufeln, um nicht nur dieses merkwürdige Schauspiel zu beenden, das der Mond mit dem Leichnam veranstaltete, sondern vor allem auch, um hier fertig zu werden und diesen gottverlassenen Ort endlich hinter sich lassen zu können.

 

Die Erde fiel auf den reglosen Körper im Grab. Zahlreiche Erdbröckchen kullerten herunter und häuften sich zu beiden Seiten an. Doch der größte Teil blieb auf dem Brustkorb, dem Bauch, dem Unterleib und den Beinen liegen.

Der Totengräber begann schon bald wieder, laut zu keuchen, während er unermüdlich schaufelte und keinen weiteren Blick für den Mann in der Grube vergeudete. Er verzichtete nun sogar darauf, ab und zu innezuhalten, um einen Blick auf seine Umgebung zu werfen und konzentriert zu lauschen, so wie er es noch beim Ausheben des Grabes getan hatte.

Als daher völlig unvermittelt ganz in der Nähe mit einem lauten Knacken, das die Stille des nächtlichen Waldes wie ein Axthieb spaltete, ein Ast zerbrach und als Reaktion darauf ein Kauz schrie, erstarrte er und sah sich mit ruckartigen Bewegungen in alle Richtungen um. Sein Keuchen war abrupt verstummt, als er die Luft anhielt, um besser lauschen und auch noch das leiseste Geräusch wahrnehmen zu können. Doch keiner der vorherigen Laute wiederholte sich. Und auch sonst war nichts zu hören oder zu sehen, das ihn glauben ließ, er wäre nicht länger allein an diesem Ort und es gäbe einen unliebsamen Zeugen seines Tuns.

Er kam deshalb rasch zu der Überzeugung, dass es sich beim Verursacher des Knackens um ein nachtaktives Tier gehandelt haben musste, das in diesem Wald heimisch war. Ein großes Tier zwar, wenn er von der Lautstärke des brechenden Astes auf dessen Größe schloss, nichtsdestotrotz aber nur ein Tier und deshalb kein Grund zur Beunruhigung.

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, entspannte er sich, stieß die angehaltene Luft aus und atmete tief ein. Ein rascher Blick auf das flache Grab zeigte ihm, dass es schon fast vollständig gefüllt war. Von dem Mann, den er getötet hatte, war kaum noch etwas zu sehen. Vom Hals abwärts bis zu den Zehen war er bereits komplett von Erde bedeckt. Nicht einmal die Konturen seines Körpers waren darunter noch zu erahnen. Lediglich das Gesicht hatte er bislang noch ausgespart, als hätte er Hemmungen gehabt, Erde darauf zu schippen.

Er nahm daher rasch mehrere Schaufeln voller Erde und kippte sie auf das Gesicht des Opfers, bis es vollständig bedeckt war. Anschließend arbeitete er noch rascher, als es vor dem knackenden Ast der Fall gewesen war, als hätte dieser ihn zur Eile angetrieben, bis das Grab wenige Augenblicke später gefüllt und der Erdhaufen daneben vollständig abgetragen war.

Der Mond beschien die Grabstelle noch immer, doch nachdem sein Opfer nun unter der Erde lag und er es nicht mehr sehen musste, beunruhigte ihn das nicht länger. Im fahlen Licht war nur noch ein flacher Erdhügel zu erkennen, der sich über dem hier vergrabenen Körper erhob. Allerdings war noch immer deutlich zu sehen, dass hier gegraben worden war, da die Fichtennadelschicht fehlte. Deshalb bückte er sich und schob mit den Händen Fichtennadeln von den Seiten auf das frische Grab und verteilte sie dort, bis sie wieder eine durchgehende, makellose Schicht bildeten. Sie war zwar dort, wo sich das Grab befand, noch etwas feucht und daher dunkler als in der Umgebung, doch bis zum Sonnenaufgang war sie bestimmt getrocknet, sodass niemand vermuten würde, dass hier unlängst gegraben worden war, solange er nicht ausdrücklich danach suchte. Allerdings rechnete er ohnehin nicht damit, dass hier jemand zufällig vorbeikam.

Zufrieden mit seinem Werk richtete er sich schließlich auf und klopfte die Hände an seiner Hose ab. Dann nahm er die Schaufel, legte sie sich über die Schulter und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

Wozu auch? Sein Opfer war tot und begraben, und mehr hatte er nicht gewollt.

ERSTES KAPITEL

1

Als Cora Eichholz nach dem schnurlosen Telefon griff, um den Anruf entgegenzunehmen, hatte sie ein merkwürdiges Gefühl, so als ahnte sie bereits, dass dieser Anruf ihr Leben auf dramatische Weise verändern würde. Und das nicht unbedingt zum Besseren.

»Ja«, meldete sie sich deshalb in aller Knappheit und Vorsicht, ohne ihren Namen preiszugeben, und lauschte dann mit angehaltenem Atem, dass der Anrufer sprach und ihr mitteilte, wer er war und was er von ihr wollte.

»Spreche ich mit Frau Eichholz?« Es handelte sich um die Stimme einer Frau, die Cora zwar bekannt vorkam, der sie aber trotz intensiven Nachdenkens nicht sofort ein Gesicht zuordnen konnte.

»Ja. Und … und wer sind Sie?«

»Hier ist Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München.«

Schon beim dritten Wort, dem Dienstgrad der Anruferin, bekam die Stimme in Coras Bewusstsein endlich ein Gesicht, denn auch wenn sie die Stimme nicht gleich erkannt hatte, so blieb ihr die Frau, der sie gehörte, gleichwohl unvergesslich.

Anja Spangenberg war Ermittlerin im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle, und – wie der Name ihrer Abteilung sofort deutlich machte – für vermisste Personen zuständig. Cora schätzte sie altersmäßig auf Mitte bis Ende dreißig und größenmäßig auf ein Meter siebzig. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht mit hohen, markanten Wangenknochen und grünen Augen. Dazu eine schmale gerade Nase und einen um eine Winzigkeit zu breiten Mund mit schmalen Lippen. Ihr dunkelblondes Haar war kurz geschnitten und zerzaust. Als sie Cora vor drei Monaten besucht hatte, hatte sie eine enge, graue Jeans, ein langärmliges, weißes Shirt und schwarze Stiefeletten mit neun Zentimeter hohen, schmalen Absätzen getragen. Dazu eine Blousonjacke aus schwarzer Seide, um die Tatsache zu verbergen, dass sie darunter in einem Schulterholster eine Waffe trug.

Doch nicht deshalb war die Kriminalhauptkommissarin Cora so deutlich in Erinnerung geblieben, obwohl sie sich nur ein einziges Mal begegnet waren, sondern in erster Linie aus dem Grund, weil Anja Spangenberg nach Coras Ehemann Markus suchte, der beinahe auf den Tag genau vor drei Monaten von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht war.

»Frau Eichholz? Sind Sie noch dran?«

Cora stieß die Luft aus, die sie erneut angehalten hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. »Natürlich bin ich noch dran!«, versetzte sie dann in einem aggressiveren Tonfall, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.

Die Polizistin erwiderte nichts darauf und hüllte sich in Schweigen. Nicht einmal das Geräusch ihres Atmens war durch die Telefonverbindung zu hören. Zweifellos hatte sie von den Angehörigen der Vermissten, nach denen sie tagtäglich suchte, schon so manches zu hören bekommen und wusste daher auch damit umzugehen, ohne es den Leuten übelzunehmen, die oft unter enormem emotionalen Stress standen und nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen konnten.

»Entschuldigen Sie«, sagte Cora nach einem Moment des Schweigens und Nachdenkens. »Ich habe nur …« Sie verstummte, weil sie selbst nicht wusste, was sie eigentlich sagen wollte.

»… nicht mehr mit einem Anruf von der Vermisstenstelle gerechnet?«, vollendete Anja Spangenberg den Satz an ihrer Stelle.

Cora nickte. »Ja. Das wird es wohl sein.« Sie seufzte tief, bevor sie schließlich die alles entscheidenden Fragen stellte. »Weswegen rufen Sie an? Gibt es etwa … Neuigkeiten über meinen Mann?«

»Genau deswegen rufe ich Sie an. Es gibt tatsächlich Neuigkeiten.«

»Und um welche Neuigkeiten handelt es sich?«, fragte Cora zaghaft.

Entweder hatte die Polizistin die Angst in ihrer Stimme gehört, oder sie wusste aus Erfahrung, wie Angehörige in solchen Fällen reagierten, denn sie sagte: »Keine Angst, Frau Eichholz! Es handelt sich um gute Neuigkeiten.«

»G…g…gute Neuigkeiten?« Coras Stimme stotterte und zitterte, während sie die Worte ungläubig wiederholte.

»Ja. Eigentlich sind es sogar sehr gute Neuigkeiten, denn …« Die Ermittlerin machte eine kleine Pause, als wollte sie die Spannung steigern, bevor sie schließlich weitersprach: »… wir haben Ihren Mann gefunden.«

Cora glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, als hätte sich von einer Sekunde zur anderen eine Falltür unter ihr geöffnet. Das Gefühl, ins Leere zu stürzen, wurde geradezu übermächtig, noch dazu, weil ihre Knie gleichzeitig weich wurden, als bestünden sie aus Gummi. Sie musste sich an der Kommode festhalten, auf der das Ladegerät des schnurlosen Telefons stand, um nicht umzukippen und auf den Dielen aus gebürsteter Eiche zu landen, die den Boden des Hausflurs im Erdgeschoss bildeten.

»Gefunden?«, echote sie tonlos, um nach einer kurzen Pause, in der sie so vehement nach Luft schnappte, als wäre sie am Ersticken, hinzuzufügen: »Sie meinen, er ist … tot?«

Anja Spangenberg antwortete nicht sofort, als wäre sie von Coras Reaktion enttäuscht. »Ich sagte doch, dass es sehr gute Neuigkeiten sind«, erwiderte sie dann. »Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt!«

2

Cora hatte nicht länger das Gefühl, jemand zöge ihr den Boden unter den Füßen weg und sie würde in einen tiefen Abgrund stürzen. Stattdessen drehte sich plötzlich alles um sie herum im Kreis, als säße sie in einem Karussell. Außerdem klopfte das Herz in ihrer Brust so schnell und heftig, als mobilisierte es noch einmal seine letzten Kräfte, bevor es für immer seinen Dienst einstellte. Der Schweiß brach ihr aus und ihre Sicht verschwamm, während sie gegen heftigen Schwindel ankämpfen musste und hinter ihrer Stirn ein stechender Schmerz heranwuchs.

Das ist entweder ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall … oder beides zugleich, durchfuhr es sie panisch, während die letzten Worte der Polizistin noch immer wie das Läuten einer Totenglocke durch ihren Verstand hallten.

Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt! Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt! Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt! Er lebt! Er lebt! Er …

Hör sofort damit auf!, gellte ihre innere Stimme durch ihren Verstand und übertönte mühelos die Litanei. Doch sie meinte damit nicht nur die sinnlose Wiederholung dessen, was die Kriminalhauptkommissarin gesagt hatte, sondern auch ihre körperlichen Reaktionen darauf.

Und tatsächlich, ihr Körper gehorchte dem mentalen Befehl. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, ihre Sicht klärte sich, und das heftige Schwindelgefühl verschwand. Nur der Kopfschmerz widersetzte sich hartnäckig ihrer Anweisung und wurde sogar jeden Augenblick stärker.

Als ihr bewusst wurde, dass sie nicht an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben würde, zumindest nicht an Ort und Stelle, wich auch ihre Angst, und sie bemühte sich, mehrmals tief und gleichmäßig durchzuatmen und ihre Gedanken zu ordnen.

Ihr Mann ist nicht tot. Er lebt!

Sie konnte es noch immer nicht glauben, dass Anja Spangenberg diese Worte tatsächlich ausgesprochen hatte. Doch da sie sich gewissermaßen in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, musste es tatsächlich so gewesen sein. Dennoch konnte sie es nicht fassen.

Vielleicht ist das alles nur ein Irrtum.

Nachdem sie sich wieder einigermaßen von dem Schock erholt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer im Flur stand. Die Fingernägel ihrer linken Hand hatten sich in die Oberfläche der Kommode gebohrt und kleine Halbmonde im Holz hinterlassen, so fest hatte sie sich dort festgekrallt, um nicht umzufallen. Und ihre andere Hand hielt noch immer das Telefon umklammert – so fest, dass das Plastikgehäuse bereits unter der Belastung knirschte – und presste es gegen ihr Ohr, das sich so heiß anfühlte, als hätte sie eine Serie heftiger Ohrfeigen verpasst bekommen. Sie nahm ihre Hand von der Kommode und lockerte den Griff ums Telefon, bevor sie bemerkte, dass eine Stimme aus dem handlichen Gerät kam und zu ihr sprach.

»Warten Sie«, sagte sie und unterbrach die Stimme mitten in einem Satz, den sie weder bewusst gehört noch verstanden hatte. »Können Sie das bitte noch einmal wiederholen. Ich … Tut mir leid, aber ich habe nicht zugehört.«

Die Polizistin am anderen Ende der Leitung seufzte, allerdings nicht aus Verärgerung, sondern aus Mitgefühl. »Kein Problem, Frau Eichholz. Ich verstehe ja, dass diese Nachricht ein Schock für Sie sein muss. Ein positiver Schock zwar, aber dennoch eine schockierende Nachricht, weil Sie sich vermutlich mittlerweile zwangsläufig auch mit dem Gedanken beschäftigt haben, dass Ihr Mann tot sein könnte. Immerhin war er drei Monate lang spurlos verschwunden, und wir alle mussten mit dem Schlimmsten rechnen.«

 

»Ja. Genauso ist es.« Cora wusste nicht, was sie sonst darauf erwidern sollte, spürte allerdings aufgrund der erwartungsvollen Stille in der Leitung, dass die Beamtin eine bestimmte Reaktion von ihr erwartete. Sie durchstöberte ihr Gehirn, das plötzlich wie leer gefegt war, nach den passenden Worten, und wurde endlich fündig. »Wo … wo haben Sie … ihn eigentlich gefunden?«

»In Regensburg.«

»In Regensburg?« Wenn die Kommissarin gesagt hätte, Markus wäre auf dem Mond wieder aufgetaucht, hätte Cora vermutlich weniger verblüfft reagiert, denn Regensburg war gerade einmal 125 Kilometer von München und damit nur anderthalb Stunden entfernt.

»Ja. Er wurde in einem Discounter beim Diebstahl erwischt. Da er keine Angaben zu seiner Person machen wollte, wurde er der dortigen Polizei übergeben. Die Kollegen bemühten sich, herauszufinden, wer er ist, und stießen im Zuge ihrer Ermittlungen auf die Vermisstenanzeige.«

»Und wie geht es ihm?«

»Er ist gesund und unverletzt. Allerdings etwas verwahrlost, als hätte er die letzten drei Monate auf der Straße gelebt.«

»Aber …« Cora stockte und schluckte, bevor sie weitersprach: »Aber wieso ist er nicht nach Hause gekommen?«

»Er sagt, dass er sich an nichts erinnern könne, was vor dem Zeitpunkt liege, als er drei Monate zuvor mitten im Wald zu sich kam.«

»Er kann sich an nichts erinnern?«

»Anscheinend hat er seine komplette Erinnerung verloren und kann sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.«

»Und Sie sind sich dennoch hundertprozentig sicher, dass es sich um meinen Mann handelt?«, fragte Cora voller Argwohn. »Vielleicht ist es ja nur ein Betrüger, der sich für meinen Mann ausgibt.«

»Wieso sollte jemand so etwas tun?«, fragte Anja Spangenberg. »Im Übrigen hat er sich gar nicht als Ihr Mann ausgegeben. Als man ihm mitteilte, dass sein Name Markus Eichholz sein könnte, hat er nur mit der Schulter gezuckt und gesagt, das könne durchaus sein, er erinnere sich aber nicht daran.«

»Und wie kamen die Polizisten in Regensburg dann auf den Gedanken, dass es sich um meinen Mann handeln könnte?«

»Weil er, abgesehen von seinem verwahrlosten Äußeren, exakt der Beschreibung aus der Vermisstenmeldung entspricht. Sogar der größte Teil seiner Kleidung besteht aus Sachen, die Sie mir bei unserem ersten Gespräch beschrieben haben. Nachdem die Regensburger Kollegen dies festgestellt hatten, setzten sie sich umgehend mit mir in Verbindung. Natürlich war auch ich anfangs skeptisch, denn ich erlebe es oft genug, dass vermeintlich plötzlich wieder aufgetauchte Personen nur eine vage Ähnlichkeit mit den Vermissten besitzen und es sich bei ihnen in Wahrheit um jemand anderen handelt. Deshalb warte ich immer, bevor ich den Angehörigen die freudige Botschaft übermittle, bis ich mich selbst davon überzeugt habe und mir auch wirklich hundertprozentig sicher bin. Und in diesem Fall bin ich mir hundertprozentig sicher, denn die Kollegen schickten mir per E-Mail ein Foto des Mannes, das wir mit der Aufnahme verglichen, die ich von Ihnen erhalten habe. Und dabei kamen wir zu dem Ergebnis, dass die beiden Fotos ein und denselben Mann zeigen. Ich kann Ihnen die Aufnahme aus Regensburg per Mail schicken, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«

Cora musste nicht lange darüber nachdenken. Schließlich kannte niemand Markus besser als sie. Und falls es sich um einen Betrüger handelte, dann würde sie das sofort erkennen und der Polizistin mitteilen, noch ehe der Mann auch nur einen Fuß in ihr Haus setzen konnte.

Sie erklärte sich einverstanden und diktierte ihrer Gesprächspartnerin ihre E-Mail-Adresse, während sie mit dem Telefon am Ohr in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock ging. Sie war noch immer etwas wacklig auf den Beinen, als hätte sie einen anstrengenden Marathonlauf hinter sich, fühlte sich ansonsten aber, abgesehen von den Kopfschmerzen, wieder gut. Den ersten Schock, der sie mit der Wucht eines Faustschlags getroffen hatte, hatte sie mittlerweile überwunden. Sie hatte nun wieder das Gefühl, sicher im Sattel zu sitzen und die Zügel in der Hand zu halten.

In ihrem Arbeitszimmer setzte sie sich hinter den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und schaltete ihn an.

»Die E-Mail mit dem Foto als Anhang ist jetzt an Sie unterwegs«, meldete sich die Polizistin. »Es müsste jeden Moment bei Ihnen ankommen. Sehen Sie es sich genau und in aller Ruhe an und sagen Sie mir dann, ob es sich bei der abgebildeten Person Ihrer Ansicht nach um Ihren vermissten Mann handelt. Lassen Sie sich jedoch nicht von seinem verwahrlosten Äußeren irritieren.«

»Okay«, sagte Cora und starrte ungeduldig auf den schwarzen Bildschirm, weil der blöde Computer immer eine Ewigkeit brauchte, bis er hochgefahren war. Wurde allmählich Zeit, dass sie sich ein neueres und schnelleres Gerät zulegte. »Ich sehe es mir an und rufe Sie dann zurück.«

Sie achtete nicht auf das, was Anja Spangenberg noch sagte, sondern unterbrach die Verbindung kurzerhand und legte das Telefon neben dem Laptop auf den Schreibtisch. Sie wollte ungestört sein, wenn sie sich das Foto ansah und herauszufinden versuchte, ob es tatsächlich Markus war. Und auch wenn die Polizistin nicht körperlich, sondern nur als körperlose Stimme anwesend gewesen wäre, hätte sie das irritiert und abgelenkt.

Nachdem der Computer endlich hochgefahren war und die gewohnte Windows-7-Oberfläche zeigte, rief Cora ihr E-Mail-Programm auf, das nach Eingabe des korrekten Passwortes automatisch ihre Mails herunterlud. Sie sah, dass sie seit gestern mehrere Mails bekommen hatte; bei den meisten handelte es sich allerdings nur um unerwünschte Werbung. Dann entdeckte sie am Ende der Liste als Absendereintrag den Namen der Ermittlerin von der Vermisstenstelle.

Sie bewegte ihren Zeigefinger auf dem Touchpad und klicke die Mail an, die allerdings keinen Text, sondern nur eine Bilddatei als Anhang enthielt.

Coras Finger bewegte den Mauszeiger auf den Namen der angehängten Datei, verharrte dann jedoch regungslos.

Sollte sie sich das Bild tatsächlich ansehen? Vermutlich handelte es sich ohnehin nur um jemanden, der ihrem Ehemann halbwegs ähnlich sah und zufällig ähnliche Kleidung trug. Wieso ersparte sie es sich dann nicht gleich, einen Blick auf die Aufnahme zu werfen, rief die Polizistin an und teilte ihr mit, dass es sich nicht um ihren Mann, sondern um einen Betrüger handelte. Gleichzeitig verspürte sie jedoch auch den Zwang, sich vergewissern zu wollen, dass es tatsächlich nicht Markus war.

Also atmete sie noch einmal tief ein, bevor sie sich einen Ruck gab und die Datei anklickte.

Zuerst geschah ein paar Sekunden lang gar nichts, und Cora dachte schon, die Datei wäre fehlerhaft und könnte nicht geöffnet werden. Dann öffnete sich jedoch ein Bildbetrachtungsprogramm und begann damit, die Bilddatei zu laden und auf dem Bildschirm darzustellen.

Cora hielt unwillkürlich den Atem an, während sich die Aufnahme rasch Reihe für Reihe vor ihren Augen aufbaute, als würde sich ein Gespenst nach Beginn der Geisterstunde vor den Augen eines schreckhaften Schlossbesuchers materialisieren.

3

»Großer Gott, er ist es tatsächlich!«, flüsterte Cora, als hätte sie Angst, es laut und deutlich auszusprechen, noch ehe sie Gelegenheit gehabt hatte, das Foto genauer in Augenschein zu nehmen. Dennoch war sie sich absolut sicher, schließlich war sie mit diesem Mann seit über dreiundzwanzig Jahren – in guten wie in schlechten Zeiten – verheiratet.

Die Aufnahme zeigte einen Mann, der vor einer weißen Wand stand und mit ausdruckslosem Blick in die Kamera starrte. Er sah mindestens um fünf Jahre älter aus als die 51 Jahre, die er tatsächlich war, und um mehrere Zentimeter kleiner als die ein Meter achtzig, die er maß, als wäre er in den letzten drei Monaten nicht nur über alle Maßen gealtert, sondern auch geschrumpft. Außerdem schien er abgenommen zu haben und ein halbes Dutzend Kilo weniger zu wiegen als die 85 Kilo Körpergewicht, die er in den letzten Jahren permanent auf die Waage gebracht hatte. Aber das alles war im Grunde auch kein Wunder, wenn er die letzten neunzig Tage tatsächlich auf der Straße verbracht und von Almosen, Diebstählen und der Hand in den Mund gelebt hatte.

Denn trotz all dieser offensichtlichen Veränderungen war der Rest seiner äußeren Erscheinung unverkennbar, auch wenn der Schädel, den er sich schon seit vielen Jahren täglich rasierte, jetzt von einem Kranz kurzer rotblonder Haare umgeben war. Der kahl geschorene Schädel war immer sein Markenzeichen gewesen, neben dem breiten, jetzt unrasierten Kinn mit der ausgeprägten Kinnspalte und den grünen Augen, die einen in einem Moment so warm und liebevoll, im anderen aber auch so dominant und kalt ansehen konnten.