DER ABGRUND JENSEITS DES TODES

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From the series: Anja Spangenberg #1
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»Wurde sie vergewaltigt oder sexuell missbraucht?«



»Nach der vorläufigen Einschätzung des Pathologen anscheinend nicht.«



»Und wie lange ist sie schon tot?«



»Laut Aussage des Rechtsmediziners weniger als zwölf Stunden«, antwortete Englmair.



Anja schüttelte den Kopf. Nicht weil sie die Zeitangabe anzweifelte, sondern weil die Frau auf dem Seziertisch aussah, als wäre sie schon viel länger tot.



»Und diese …« Sie verstummte und suchte nach einem zutreffenden Begriff.



»Beulen?«, half ihr Englmair aus.



»Ja. Was haben diese Beulen zu bedeuten. Es sieht aus wie die …«



»… Beulenpest«, nahm ihr Krieger das Wort aus dem Mund und nickte. »Das war auch unser erster Gedanke.«



Anja wusste nicht viel über die Pest. Früher, vor allem im Mittelalter, hatte es Pestepidemien und -pandemien gegeben, denen teilweise Millionen von Menschen zum Opfer gefallen waren. Doch obwohl die verheerende Krankheit schon vor einiger Zeit aus Europa verschwunden war, war sie längst nicht ausgerottet. In anderen Teilen der Welt gab es noch immer Krankheitsfälle. War der Schwarze Tod, wie die Seuche auch genannt wurde, etwa nach Europa zurückgekehrt? Und war diese bedauernswerte Frau an der Pest erkrankt? War sie deshalb so abgemagert und schließlich qualvoll daran zugrunde gegangen? Aber wieso war sie dann längere Zeit gefesselt gewesen?



»Keine Bange, es handelt sich nicht um einen neuen Ausbruch der Beulenpest«, sagte Englmair, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Das erklärte auch, warum er und sein Kollege keine Bedenken hatten, sich dem Leichnam zu nähern. Und wieso die Tote hier lag und nicht in einer Quarantänestation. »Der Gerichtsmediziner gab sofort Entwarnung, nachdem er eine der Beulen aufgeschnitten hatte. Bei der Flüssigkeit handelt es sich nur um schwarze Tinte, die unter die obersten Hautschichten injiziert wurde. Nach Ansicht des Pathologen geschah das vermutlich post mortem.«



Anja erschauderte. Obwohl sie alles andere als glücklich darüber war, musste sie unwillkürlich noch einmal die Leiche und die nachgemachten Pestbeulen ansehen. »Aber wieso sollte jemand so etwas Schreckliches tun?«



»Möglicherweise wollte der Täter den Eindruck erwecken, sie wäre an der Pest gestorben.« Englmair zuckte mit den Schultern. »Vielleicht will er damit Panik verbreiten.«



»Wenn ihr mich fragt, ist zu etwas nur ein komplett durchgeknallter Irrer fähig«, konstatierte Krieger ungefragt, aber voller Überzeugung, als hätte er einen Universitätsabschluss und einen Doktortitel in Psychologie. Zur Verdeutlichung seiner Worte ließ er den Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen.



Anja ignorierte ihn noch immer; sie sprach ausschließlich mit Englmair. »Dann geht ihr trotz fehlender Anzeichen für ein Gewaltverbrechen dennoch davon aus, dass sie ermordet wurde?«



»Selbst hat sie sich diese Dinger jedenfalls nicht zugefügt«, sagte Krieger und deutete auf die Beulen im Schambereich, die ihn besonders anzuekeln schienen. Ausnahmsweise war ihm wohl nicht danach, die üblichen Anzüglichkeiten von sich zu geben, obwohl eine nackte Frau vor ihm lag. Doch angesichts dessen, was ihr widerfahren war, hatte es ihm anscheinend die Lust auf seine üblichen Sprüche genommen. »Zumindest nicht, wenn sie ihr nach ihrem Tod beigebracht wurden.«



»Nach der Obduktion und den chemisch-toxikologischen Untersuchungen wissen wir hoffentlich mehr«, sagte Englmair. Mithilfe dieser Tests konnten Gifte, Drogen, Medikamente oder Alkohol im Körper der Toten nachgewiesen werden. »Aber bis auf Weiteres gehen wir von einem Tötungsdelikt aus. Möglicherweise hat derjenige, der ihr die Tinte injizierte, sie aber auch nur verhungern lassen. Wichtiger ist es zunächst jedoch, dass wir sie zweifelsfrei identifizieren. Und wie du selbst sehen kannst, ist das aufgrund ihres Zustands trotz der Tätowierung, des Muttermals und der anderen Merkmale nicht so einfach. Deshalb möchte ich dich bitten, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen. Du hast ein Foto der Vermissten in deiner Akte und kannst sie daher eher identifizieren als wir.«



Anja nickte. Sie seufzte tief und richtete ihren Blick wieder auf die Leiche. Die leichte Übelkeit, die der ekelerregende Geruch an diesem Ort hervorrief, wurde stärker. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, als müsste sie sich übergeben.



Da sie bis auf die Knochen abgemagert war, sah die Frau um Jahrzehnte älter aus, als sie es vermutlich war. Wahrscheinlich hätte sie in diesem Zustand nicht einmal ihre eigene Mutter wiedererkannt.



Widerstrebend trat Anja näher heran, bis sie direkt neben dem Seziertisch stand und einen besseren Blick auf das Gesicht der Toten hatte. Es war zum Glück nicht verzerrt, wie es oftmals bei einem qualvollen Todeskampf der Fall war. Stattdessen war es glatt und vergleichsweise entspannt, als wäre sie sanft entschlafen. Die Augen waren geschlossen, sodass Anja ihre Augenfarbe nicht erkennen konnte. Doch die Haarfarbe stimmte mit der Vermisstenmeldung überein; es handelte sich um ein auffallendes natürliches Weißblond. Die Haare waren länger, als es Anja beschrieben worden war. Aber da seit dem Verschwinden der Frau drei Monate vergangen waren, waren sie in dieser Zeit natürlich gewachsen.



»Und?«, fragte Krieger ungeduldig. »Ist unser knochiges Dornröschen nun deine Vermisste oder nicht?«



Anja sah ihn wütend an, woraufhin er schuldbewusst die Augen abwandte. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als befürchtete er, sie würde ihn auch noch schlagen. Dazu hatte sie in diesem Augenblick sogar gute Lust. Doch dann richtete sie ihren Blick wieder auf das Gesicht der Leiche. Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf markante, unveränderliche Merkmale. Den Rest blendete sie einfach aus. Dann verglich sie das, was sie sah, gedanklich mit dem Bild, das ihr Nadine Weinharts Mutter gegeben hatte, als Anja sie wenige Tage nach dem Verschwinden ihrer Tochter aufgesucht hatte.



Das Foto, das ein paar Wochen vor ihrem Tod aufgenommen worden war, zeigte Nadine als lebenslustige 33-Jährige. Es war entstanden, bevor die quälenden Kopfschmerzen und die Übelkeit eingesetzt hatten. Sie hatte in die Kamera gelächelt und nichts davon geahnt, was die Zukunft ihr Schreckliches bringen würde. Vor allem nicht, dass sie schon bald an diesem furchtbaren Ort landen würde.



Nadine war nicht dick gewesen, aber auch nicht besonders schlank. Doch falls es sich bei der toten Frau auf dem Seziertisch tatsächlich um Nadine Weinhart handelte, hätte der Unterschied kaum größer sein können.



Die eingefallenen abgezehrten Gesichtszüge veränderten ihr Aussehen grundlegend. Dennoch konnte Anja nach und nach Übereinstimmungen mit dem Foto erkennen, das sie im Gedächtnis hatte. Vor allem die etwas zu breite Nase, die schmalen Lippen und das spitze Kinn. Auch die kleinen Ohren und die dichten Augenbrauen hatten sich nicht verändert. Zusammengenommen festigten sie in Anja die Überzeugung, dass sie tatsächlich Nadine Weinharts Leiche vor sich hatte.



Nach einer Weile seufzte sie schwer und nickte. »Ich fürchte, sie ist es wirklich.«



»Bingo!« Krieger hob die Faust, als hätte er einen wichtigen Sieg errungen.



»Ich checke nur noch schnell die Tätowierung« Anja ging zum Fußende des Seziertisches. »Nur um auf Nummer sicher zu gehen.«



Das Muttermal in der rechten Achselhöhle musste sie nicht überprüfen. Schließlich hatte Englmair ihr schon bestätigt, dass es vorhanden war. Sie kannte nämlich weder seine genaue Form noch seine Größe. Außerdem hätte sie den Leichnam dazu anfassen müssen, und das wollte sie um alles in der Welt vermeiden. Davon ganz abgesehen trug sie keine Handschuhe und hätte auf der Leiche Spuren hinterlassen.



Sie ging in die Knie, bis sie das Tattoo direkt oberhalb des linken äußeren Fußknöchels besser sehen konnte. Es handelte sich um einen roten Marienkäfer in der Größe eines Zwei-Euro-Stücks. Er war plastisch dargestellt und warf einen dunklen Schatten auf die Haut; deshalb wirkte er extrem lebensecht. Das Tattoo wurde aufgrund der Magerkeit der Leiche etwas verzerrt. Dennoch erkannte Anja es sofort wieder. Sie hatte ein Foto davon gesehen. Nadine hatte es nach dem Besuch beim Tätowierer mit dem Handy gemacht und ihrer besten Freundin geschickt.



Anja richtete sich auf. Sie sah Englmair an und nickte mit ernster Miene. »Ich habe keinen Zweifel, dass es sich bei der Toten um die vermisste Nadine Weinhart handelt.« Damit war es offiziell.



»Gut, das reicht uns für den Augenblick«, sagte er. »Hundertprozentige Gewissheit bekommen wir ohnehin erst nach dem Abgleich der Fingerabdrücke, des Zahnstadiums und der DNA. Aber jetzt können wir unsere Ermittlungen wenigstens auf eine konkrete Person konzentrieren.«



»Erzählt ihr mir jetzt endlich, wo sie gefunden wurde?«



»Wieso willst du das überhaupt wissen?«, fragte Krieger. »Sei froh, dass der Fall für dich erledigt ist und du die Akte vom Tisch hast. Apropos Akte! Wäre schön, wenn du uns die Vermisstenakte noch heute ins Büro bringen könntest.«



»Es interessiert mich einfach, was mit ihr geschehen ist«, sagte Anja. »Immerhin habe ich mich in den letzten drei Monaten intensiv mit ihrem Fall beschäftigt. Außerdem ging mir ihr Schicksal nahe. Aber das kann ein gefühlloser Klotz wie du natürlich nicht verstehen.«



»Ich bin nicht gefühllos«, widersprach er und machte ein empörtes Gesicht. »Komm schon, Peter! Sag ihr, dass ich nicht gefühllos bin!«



»Anton ist nicht gefühllos«, sagte Englmair gehorsam. Nach einer kurzen Pause fügte er einschränkend hinzu: »Zumindest nicht ganz. Er ist aber auch nicht besonders gefühlvoll oder mitfühlend.«



»Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.« Krieger verzog missmutig das Gesicht und verschränkte die Unterarme vor der Brust, als wäre er tödlich beleidigt. Man konnte jedoch sehen, dass er es nur vorgab und nicht böse auf seinen Kollegen war, denn seine Augen funkelten belustigt.

 



»Dann eben gefühlsarm«, korrigierte sich Anja.



Krieger bewegte den Kopf abwägend hin und her, als könnte er mit dieser Charakterisierung leben.



Anja wusste nicht viel über das Privatleben der beiden. Allerdings hätten sie auch da nicht unterschiedlicher sein können. Krieger war ein eiserner Verfechter der Ehe und mittlerweile schon zum dritten Mal verheiratet. Englmair hingegen hielt nicht viel von einem Trauschein, lebte allerdings seit mehr als zwei Jahrzehnten mit ein und derselben Frau zusammen. Er war kinderlos, während Krieger mit seinen ersten beiden Ehefrauen drei Kinder gezeugt hatte. Also war er vermutlich tatsächlich nicht völlig gefühllos, sondern gebärdete sich im Dienst nur so. Vermutlich war das nichts anderes als ein Schutzmechanismus. Manche Polizisten benötigten einen solchen, den sie wie eine Panzerung trugen, um weiterhin ihre Arbeit erledigen zu können und nicht resigniert das Handtuch zu werfen.



»Also, wo wurde Nadine gefunden?«



»Am Wurmeck«, sagte Krieger und fügte zweifelnd hinzu: »Wenn du weißt, wo das ist?«



»Natürlich weiß ich das«, antwortete Anja gereizt. Sie war ein

Münchner Kindl

. So hieß nicht nur die offizielle Wappenfigur der bayerischen Landeshauptstadt, ein Mönch mit goldgeränderter schwarzer Kutte und roten Schuhen. So wurde auch jeder genannt, der in München geboren war.



»Als Wurmeck wird der südwestliche neugotische Eckturm des Neuen Rathauses bezeichnet, da sich dort die Kupferfigur eines Drachen oder Lindwurms emporwindet« sagte Anja, als rezitierte sie aus einem Reiseführer. »Darüber befinden sich drei Steinreliefs, die die Sage vom Münchener Lindwurm veranschaulichen. Demnach soll im Jahre 1517 in der Stadtmitte ein Lindwurm aus der Erde gekrochen sein und die Pest verbreitet haben. Er wurde von mutigen Männern mit einem Kanonenschuss besiegt. Dennoch trauten sich die Bürger nicht mehr aus ihren Häusern. Bis erstmals die Schäffler, wie die Fassküfer oder Fasshersteller in Bayern auch genannt wurden, durch die Straßen tanzten. Sie wollten die Bevölkerung damit beruhigen und dazu bringen, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Daran soll bis heute der traditionelle Schäfflertanz erinnern, der alle sieben Jahre aufgeführt wird.«



Anja kannte die Details aufgrund einiger Stadtführungen. Sie hatte zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der Münchner Kriminalpolizei daran teilgenommen, um ihren zukünftigen Einsatzort noch besser kennenzulernen.



Allerdings wusste sie auch, dass es sich dabei vermutlich um eine verfälschte Herkunftssage des Schäfflertanzes handelte. Denn obwohl München zur damaligen Zeit nachweislich mehrere Male von der Pest heimgesucht worden war, wurde dennoch bezweifelt, dass es 1517 ebenfalls eine Pestepidemie in der Stadt gegeben hatte. In den Sterberegistern für dieses Jahr waren jedenfalls keine auffälligen Sterberaten verzeichnet. Außerdem wurde der Schäfflertanz erstmals im 17. Jahrhundert als Zunftbrauch nachgewiesen. Von all dem sagte sie jedoch nichts, da es für die Ermittlungen keine Rolle spielte.



Englmair nickte anerkennend. Sogar Krieger schien von ihrem Wissen beeindruckt zu sein. Er starrte sie mit offenem Mund an und war ausnahmsweise sprachlos, wofür Anja dankbar war.



»Also ist der Fundort neben den Beulen ein weiterer Bezug auf die Pest«, sprach sie das Offensichtliche aus. Seitdem sie bestätigt hatte, dass es sich bei dem Leichnam aller Voraussicht nach um die vermisste Nadine Weinhart handelte, vermied sie es, die tote Frau noch einmal anzusehen. Außerdem hatte sie den Abstand zwischen ihnen automatisch wieder vergrößert, indem sie zwei Schritte zurückgewichen war.



»Das Thema scheint für den Mörder demnach eine wichtige Rolle zu spielen«, sagte Englmair. »Warum auch immer?«



Obwohl sie noch immer nicht wussten, wie Nadine Weinhart gestorben war, gingen sie alle insgeheim davon aus, dass es sich um Mord handelte. Andernfalls hätte der Täter ihre Leiche gewiss nicht mit den scheußlichen »Pestbeulen« verunstaltet und ihre Leiche an einem Ort wie dem Wurmeck abgelegt, als wollte er sie öffentlich zur Schau stellen.



Anja fielen spontan zwei weitere Stellen ein, die mit der Pest in Verbindung standen.



So gibt es an der Rathausfassade in Traufhöhe den Wasserspeier einer Megäre, eine Rachegöttin der griechischen Mythologie. Unter ihrem Mantel kriecht ein Geschöpf hervor, das die Pest symbolisieren soll. Neben ihr ein Arzt, ein Schäffler und ein Musikant als Bekämpfer der Seuche.



Außerdem befinden sich auf dem Sockel der Mariensäule vor dem Rathaus vier bronzene Putti. Das sind geflügelte Kinderengel. Sie kämpfen gegen vier in Tiergestalt dargestellte Menschheitsplagen. Dabei symbolisiert der Löwe den Krieg, der Drache den Hunger, die Schlange den Unglauben und der Basilisk, ein mythisches Tier, wiederum die Pest.



»Die Leiche wurde also nicht zufällig, sondern mit voller Absicht am Wurmeck abgelegt«, sagte Anja. »Der Täter will mit dem Fundort und diesen …« Sie deutete mit der Hand vage in Richtung Leiche, ohne sie anzusehen. »… Beulen vermutlich etwas mitteilen. Fragt sich nur, was?«



Sie bemerkte die Blicke, mit denen die beiden Kollegen sie ansahen und fragte: »Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«



Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur …« Er verstummte und seufzte. »Die Leiche wurde nicht einfach nur abgelegt.«



»Sondern?«



»Komm her! Ich zeig’s dir.« Englmair nahm eine Klarsichthülle, die Anja erst jetzt bemerkte, von einer Ablage aus leicht zu reinigendem Edelstahl. Sie schien mehrere großformatige Fotos zu enthalten.



Sie ging mit großem Abstand um den Seziertisch herum und trat neben ihn. »Vielleicht könntest du inzwischen die Leiche zudecken«, sagte sie zu Krieger, ohne ihn dabei anzusehen. »Muss ja nicht sein, dass sie die ganze Zeit so entblößt daliegt.«



Krieger zuckte mit den Schultern. Er tat jedoch, was sie gesagt hatte, ohne zu murren oder es mit einem anzüglichen Spruch zu kommentieren.



»Das sind die Tatortfotos, die wir vom kriminaltechnischen Fotografen bekommen haben.« Englmair reichte ihr den Stapel, den er aus der Klarsichthülle geholt hatte.



Anja nahm ihn entgegen und betrachtete die oberste Aufnahme. Sie sog Luft ein und hielt sie unwillkürlich an.



Die Leiche war tatsächlich nicht einfach nur abgelegt, sondern geradezu in Szene gesetzt worden. Sie war auch auf den Bildern nackt. Die dunklen Beulen auf dem bleichen ausgemergelten Körper waren im Blitzlicht des Fotografen deutlich zu erkennen. Allerdings lag sie nicht am Boden, wie Anja vermutet hatte, sondern saß auf einem weißen Holzpferd mit silberner Mähne und braunem Zaumzeug. Ihr Oberkörper war gegen den Hals des Tieres gelehnt. In der rechten Hand hielt sie etwas, das wie ein Bogen mit einem eingelegten Pfeil aussah. Und auf dem weißblonden Haar hatte sie einen Kranz aus Zweigen und grünen Blättern.



»Was ist das für ein Pferd?«



»Wir vermuten, dass es sich um ein altes Karussellpferd aus Holz handelt«, sagte Krieger, der das Leichentuch wieder über die Tote gebreitet hatte. Er stand mit verschränkten Armen da und lehnte sich gegen den Seziertisch. »Falls sich das bestätigen sollte, kommen wir dem Kerl vielleicht auf die Spur, indem wir herausfinden, woher es stammt.«



»Die Leiche war mit Seilen daran festgebunden. So konnte sie nicht herunterfallen«, erläuterte Englmair.



Anja nahm das nächste Foto in Augenschein. Es zeigte Pferd und Reiterin aus einer anderen Perspektive. Jetzt konnte sie auch die Stricke sehen, mit denen die Fußknöchel unter dem hölzernen Bauch des Pferdes und die Handgelenke vor dem Hals zusammengebunden worden waren. Danach kamen Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, gefolgt von Detailfotos des Bogens in ihrer Hand und des Kranzes auf ihrem Kopf.



»Ist das ein Bogen mit einem eingelegten Pfeil?«



Englmair nickte. »Vermutlich hat ihn der Täter eigenhändig hergestellt. Er besteht aus einer etwa ein Meter fünfzig langen und fünf bis sechs Zentimeter dicken Haselnussrute. Der Täter hat sie getrocknet, entrindet und anschließend gebogen. Das Sehnengarn besteht aus weißem Polyester. Als Pfeil dient ein getrockneter und entrindeter Haselnussschössling, durchschnittlich sieben Millimeter dick und 50 Zentimeter lang. Er wurde mit Sekundenkleber am Bogen befestigt, sodass er sich nicht davon lösen konnte. Dann wurde das Ganze mit Klebeband an der Hand der Toten fixiert.«



»Und der Kranz auf ihrem Kopf?«



»Lorbeer«, antwortete Krieger.



»Ein Siegerkranz«, verlieh Anja ihrer Vermutung Ausdruck. Nach ihrer Erfahrung war ein Lorbeerkranz vor allem ein Symbol für einen Sieg oder einen besonderen Erfolg.



Englmair zuckte mit den Schultern.



»Wie eine Siegerin sieht sie nicht gerade aus«, widersprach Krieger.



»Es geht auch nicht darum, wie wir sie sehen, sondern was der Täter in ihr sah«, entgegnete Anja. »Und er muss schon einen verdammt guten Grund gehabt haben, dass er sich die ganze Mühe mit dem Karussellpferd, dem Bogen und dem Kranz gemacht hat.«



Sie sah sich das nächste Foto an. Auf ihm war nur das Holzpferd zu sehen, nachdem man den Leichnam entfernt hatte. Der Sattel, der bislang verdeckt gewesen war, war ebenfalls braun. Anja blätterte die restlichen Bilder rasch durch, bevor sie sie Englmair zurückgab.



»Habt ihr schon eine Vermutung, warum der Täter die Leiche auf diese spezielle Art und Weise hinterlassen hat?« Der Mörder hatte sich gewiss nicht nur aus Spaß die Mühe gemacht, den Leichnam auf ein Karussellpferd zu setzen und darüber hinaus Pfeil und Bogen und einen Lorbeerkranz anzufertigen. In derartigen Fällen, die so eindeutig und auffallend von gewöhnlichen Mordfällen abwichen, geschah selten etwas ohne konkreten Grund. Jedes Detail hatte für den Täter eine manchmal offensichtliche, manchmal aber auch verborgene Bedeutung. Und erst, wenn es den ermittelnden Beamten gelang, diesen Geheimcode zu entschlüsseln, konnten sie darauf hoffen, dem Mörder einen Schritt näher und irgendwann auf die Schliche zu kommen.



Doch die beiden Männer schüttelten synchron die Köpfe. Damit wirkten sie trotz ihres Größenunterschieds wieder wie die Zwillinge, die sie entgegen ihrer Ähnlichkeit nicht waren. Allerdings standen sie noch am Anfang ihrer Ermittlungen. Sie hatten gerade erst damit begonnen, die Hintergründe der Tat zu enträtseln, und da konnte man in der Regel auch keine Wunder erwarten.



»Vielleicht soll sie so eine Art Jagdgöttin darstellen«, vermutete Krieger.



»Diana?«, nannte Englmair daraufhin den Namen der römischen Göttin der Jagd.



»Oder Artemis«, fügte Anja hinzu. »Das ist die Göttin der Jagd aus der griechischen Mythologie. Andererseits haben wir mit den nachgemachten Pestbeulen und dem Fundort einen eindeutigen Bezug zur Pest.«



»Dann meinst du also, dass die Art, wie der Leichnam arrangiert wurde, ebenfalls etwas mit der Pest zu tun haben könnte?«, fragte Krieger. Der Gedanke war naheliegend. Die Seuche schien das beherrschende Thema des Täters zu sein. »Immerhin scheint der Täter davon geradezu besessen zu sein. Nennt man ein weißes Pferd nicht auch Schimmel? Dann steht der Schimmelpilz vielleicht für die Pest?« Er zuckte fragend mit den Schultern.



Anja schüttelte den Kopf. »Schimmelpilze haben nichts mit der Pest zu tun. Das eine bezeichnet eine Gruppe von Pilzen. Das andere ist eine hochgradig ansteckende Infektionskrankheit, die durch ein Bakterium übertragen wird.« Sie hatte zwar das unbestimmte Gefühl, dass es dennoch einen Zusammenhang zwischen einem weißen Pferd und der Pest geben könnte, wusste jedoch nicht, woher diese Ahnung kam. Daher behielt sie es vorerst für sich.



»Wir werden uns darüber informieren und all diesen Dingen nachgehen«, beendete Englmair das Thema. In diesem frühen Stadium brachte es nichts, unnütze Spekulationen anzustellen. »Falls es einen Zusammenhang gibt, finden wir das schon noch heraus. Erzähl uns lieber etwas über die Tote.«



»Das Wichtigste wisst ihr ohnehin schon aus der Vermisstenanzeige«, sagte Anja und gab ihm den Computerausdruck mit Nadines Daten zurück. Sie hatte ihn auf die Ablage gelegt, bevor sie sich die Tatortfotos angesehen hatte.



Englmair nahm die Blätter entgegen. Er faltete sie einmal und steckte sie zu den Fotos in die Klarsichthülle. »Dann erzähl uns das, was nicht drinsteht.«



Anja seufzte. Sie sah die verhüllte Leiche an und wandte rasch wieder den Blick ab. »Nadine Weinhart hatte einen Gehirntumor.«

 



»Was?«, fragte Englmair und riss überrascht die Augen auf.



Kriegers Kommentar lautete: »Ach du Scheiße!« Er stieß sich abrupt vom Seziertisch ab, als hätte die Leiche eine ansteckende Krankheit, drehte sich um und sah mit gerunzelter Stirn auf die Tote unter dem Leichentuch herab. »Das auch noch!«



Anja nickte. »Nadine klagte vor ihrem Verschwinden ein paar Wochen lang über starke Kopfschmerzen und Übelkeit, die sie vor allem in der Nacht und am Morgen quälten. Schließlich ging sie zu ihrem Hausarzt, der sie an einen Neurologen verwies. Allerdings verschwieg sie das ihrer Mutter und ihrer besten Freundin. Vermutlich, um sie nicht zu beunruhigen. Der Neurologe schickte sie in eine radiologische Praxis, die sie am Morgen ihres Verschwindens aufsuchte, um ein MRT machen zu lassen. Dabei wurde eine Geschwulst in einem schwer zugänglichen Teil ihres Gehirns entdeckt.«



»Hätte man den Tumor entfernen können?«, fragte Krieger.



Anja schüttelte den Kopf. »Nach Ansicht des Arztes, der Nadine die Diagnose mitteilte, nicht. Es blieb nur eine kombinierte Behandlung aus Bestrahlung und Chemo übrig. Aber die Heilungschancen wären auch in diesem Fall gering gewesen.«



»Und wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«, fragte Englmair.



»Nach Aussage des Arztes hat sie es so aufgenommen, wie der überwiegende Teil aller Krebspatienten es tut. Und wie es angesichts eines theoretischen Todesurteils auch nicht anders zu erwarten ist. Ich glaube, das waren in etwa seine Worte.«



»Was für ein Arschloch!« Krieger schüttelte den Kopf. Angesichts der tödlichen Krankheit des Opfers erwies er sich als erstaunlich einfühlsam. Damit widerlegte er Anjas vorherige Behauptung, er sei gefühlsarm.



»Der Typ war so kalt wie ein Eskimohintern und hätte von daher eher Klempner als Arzt werden sollen«, sagte sie.



Die beiden Polizisten lachten. Anja kam das an diesem Ort und in Gesellschaft einer Leiche unpassend vor. Dennoch musste auch sie schmunzeln, bevor sie mit ihrem Bericht fortfuhr: »Am Abend telefonierte Nadine sowohl mit ihrer Mutter als auch mit ihrer Freundin Anne. Sie erzählte allerdings keinem von dem Tumor, sondern spielte die Sache mit den Kopfschmerzen herunter. Danach hatte niemand mehr Kontakt zu ihr.«



»Außer dem Irren, der das mit ihr angestellt hat«, sagte Krieger und zeigte auf die verhüllte Leiche.



»Hatte sie keinen Ehemann oder Freund?«, fragte Englmair.



»Sie war nie verheiratet und trennte sich vor acht Monaten von ihrem letzten Freund. Danach war sie alleinstehend.«



»Und seitdem kein einziger Mann in ihrem Leben?« Krieger sah Anja an, als wollte sie ihn verarschen.



»Wenn, dann hätte sie ihrer besten Freundin etwas davon gesagt. Die beiden erzählten sich alles.«



»Von dem Tumor hat sie ihr auch nichts gesagt«, schränkte Englmair ein.



Anja nickte. »Allerdings sagte sie bei ihrem letzten Telefonat etwas von einem Mann, den sie kennengelernt habe. Sie nannte sogar einen Namen: Johannes.«



»Und?«, fragte Englmair. »Was hast du über den Typen herausgefunden?«



»Absolut nichts! Es kam mir schon so vor, als hätte Nadine ihrer Freundin nur etwas vorgeflunkert, um sie auf diese Weise davon abzuhalten, Fragen über ihre Kopfschmerzen zu stellen. Denn niemand, den ich befragte – weder ihre Bekannten noch ihre Arbeitskollegen oder die Wohnungsnachbarn –, hat diesen mysteriösen Johannes gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Und mehr als seinen Namen offenbarte sie nicht einmal ihrer besten Freundin.«



»Eine Sackgasse also«, konstatierte Englmair.



»Im wahrsten Sinne des Wortes. Allerdings ging ich, nachdem ich Nadines Krankengeschichte in Erfahrung gebracht hatte, ohnehin davon aus, dass sie dem Tumor zuvorkommen wollte und ihrem Leben selbst ein Ende bereitet hat. Insgeheim rechnete ich daher schon die ganze Zeit damit, dass man früher oder später ihre Leiche finden würde.«



»Was nun ja auch geschehen ist«, meinte Krieger trocken.



Anja nickte. Sie vermied weiterhin jeden unnötigen Blick auf die tote Frau. »Allerdings rechnete ich natürlich nicht damit, dass sie in einem derartigen Zustand wiederauftauchen würde. Abgemagert bis auf die Knochen, mit nachgemachten Pestbeulen übersät und an ein Karussellpferd gebunden.«



Krieger nickte. »Wie ich am Telefon schon sagte: Suizid sieht anders aus.«



Keiner der Anwesenden wusste das besser als Anja. Doch sie verzichtete auf einen entsprechenden Kommentar.



»Sie war Krankenschwes