Revolution der Ernährung

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Revolution der Ernährung
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Revolution der Ernährung:

die neue vollwertige Ernährung

des Menschen

und

Frischgemüse im Haushalt

Die Bedeutung ihrer Verwendung und Zubereitung

von

Dr. med. M. Bircher-Benner.

Impressum

„Revolution der Ernährung“ und „Frischgemüse im Haushalt“ von Dr. med. M. Bircher-Benner

Erstveröffentlichung: Wendepunkt-Verlag 1931 und 1934

Cover: Severin Roesen – Still Life with a Basket of Fruit

Neuauflage: F. Schwab Verlag – www.fsverlag.de

Copyright © 2018 by F. Schwab Verlag

Inhalt

Impressum

Revolution der Ernährung

Vorwort des Verlages

I. Die Ergebnisse der Ernährungsforschung

II. Die vollwertige Ernährung

Frischgemüse im Haushalt

Anmerkungen

Revolution der Ernährung
Vorwort des Verlages

Wenn man im Interesse der Gesundung unseres Volkes auf die neuen Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft, auf die vielfachen Schäden einer falschen Ernährung und auf die dringende Notwendigkeit einer durchgreifenden Ernährungsumstellung hinweist, stößt man immer und immer wieder auf eine erstaunliche Unkenntnis. Immer noch glauben viele, es handle sich bei diesen Fragen um die Ansicht einiger weniger „übermoderner“ Ärzte und Forscher und wenige wissen, dass eine Revolution in den Ernährungsfragen eingetreten ist, vorbereitet durch die zähe, jahrzehntelange Forscherarbeit von Legionen von Ärzten und Wissenschaftlern der verschiedensten Länder.

Eine ganz knappe, übersichtliche Darstellung über diesen Entwicklungsgang der Wissenschaft hat bisher gefehlt. Es ist uns deshalb eine besondere Freude, diese Lücke durch den kurzen Vortrag des berühmten Züricher Ernährungsforschers und praktischen Arztes Dr. med. M. Bircher-Benner schließen zu können, der kürzlich als Einleitung einer Vortragsreihe auf der Züricher Internationalen Kochkunstausstellung gehalten worden ist. Die verschiedenen Probleme sind in diesem Vortrag absichtlich nur angetönt, da dessen Aufgabe darin bestand, lediglich die große Linie der Entwicklung aufzuzeigen. Um auch die praktische Nutzanwendung zu geben, wurde dem 1. Vortrage auch noch der Hauptinhalt des vierten auf der Kochkunstausstellung in Zürich gehaltenen Vortrages über die neue vollwertige Ernährung des Menschen beigefügt. Wer sich genauer mit diesem Problem beschäftigen will findet reichen Aufschluss in den populären Schriften des Autors „Eine neue Ernährungslehre“, „Ernährungskrankheiten“ und „Ungeahnte Wirkungen einer falschen und richtigen Ernährung“.

Möge dieses Büchlein eine Bresche schlagen in zähe, weitverbreitete Vorurteile und die Erkenntnis in weiteste Kreise tragen, dass unsere wissenschaftlichen Anschauungen in Ernährungsfragen — übrigens nicht zuletzt dank der unermüdlichen, segensreichen Arbeit des verehrten Autors in den letzten Jahrzehnten —einer neuen Morgenröte entgegengehen. Wenn dieses Wissen erst in breitere Kreise gedrungen ist, dann wird auch der Wille, die Nutzanwendungen der neuen Erkenntnisse für sich selbst zu ziehen, immer mehr wachsen, und damit eine Gesundung unseres Volkes eintreten, die mit allen Kräften vorzubereiten der Leitstern des Autors wie des Verlages ist.

Basel, Leipzig, Wien, im November 1930.

Wendepunkt-Verlag A.-G.

I. Die Ergebnisse der Ernährungsforschung

Meine verehrten Damen und Herren!

Bevor ich mit unserem Thema beginne, möchte ich Ihnen sagen, dass das rege Interesse, das Sie der Ernährungsfrage, dieser Lebensfrage, entgegenbringen, mich mit dem Wunsche erfüllt, meine Aufgabe so zu lösen, dass Sie einen nutzbaren Gewinn nach Hause tragen. Die Behandlung der Ernährungsfrage vor der Öffentlichkeit stößt indessen unvermeidlich auf einen schwierigen Punkt: auf die Grundverschiedenheit des Sehens beim Laien und beim Arzte. Gestatten Sie mir deshalb, darüber zuerst einige Worte zu sagen.

Die Aufmerksamkeit des Menschen im Alltag ist auf seine Pflichten, seinen Beruf, seinen Erwerb, sein Emporkommen, seine Geltung in der Gemeinschaft, sein Glück und sein Unglück und auf die Erlangung von Lebensgenuss gerichtet. Gesundheitspflege und Ernährung bleiben Fragen eines wenig belichteten Hintergrundes. Sie regeln sich nach den vorhandenen Sitten und Gebräuchen eines Volkes. Und diese Sitten und Gebräuche, seien sie gesundheitlich gut oder schlecht, genießen ein kaum bewusstes, aber desto größeres Vertrauen.

Der Blick des Arztes dagegen richtet sich auf eine andere Seite des menschlichen Lebens, auf die leidenden, erkrankten, geschwächten, zerbrochenen, dahinsiechenden Menschen, auf die Tragödie der erschütterten und schwindenden Gesundheit, auf qualvolles und notbringendes Vergehen. Soll ich von meinem Erleben sprechen, so muss ich Ihnen sagen, dass seit vier Jahrzehnten Tag für Tag die Bilder des Leidens vor meinen Augen vorüberzogen und die Geschichten der Krankheiten, der geschwächten Konstitutionen und der Not wie Wellen des Meeres an mein Ohr brandeten. Wer darf sich wundern, wenn dabei im Innern des Arztes ein anderes Denken einsetzt als im Laien, wenn er nicht nur nach Linderungs- und Trostmitteln sucht, sondern auch nach den wahren Ursachen all dieser Krankheitsnot und nach ihren Zusammenhängen mit dem Alltagsleben, den Sitten und Gebräuchen der sogenannten gesunden Menschheit. Findet er bei diesem Suchen ursächliche Fehler und Mängel in den Sitten und Gebräuchen, so kommt er sogleich in einen Gegensatz zur Welt und in einen Widerspruch zu den herrschenden Meinungen und Wertungen. Dass er es wagt, auf Grund seiner eigenen neuen Erkenntnisse Kranke auf ungewöhnlichem Wege zu heilen, erregt schon Anstoß; an die Sitten und Gebräuche jedoch zu greifen, um den Ursachen auf den Leib zu rücken und die Verhütung der Krankheiten anzustreben, das überschreitet das Maß der Duldung.

Es war ein erschütterndes Ereignis in meinem jungen Arztleben, als ich eines schönen Tages erkennen musste, dass meine Ernährungswissenschaft nicht standhielt, dass meine Diätetik dem Kranken nichts half, dass dagegen eine diametral entgegengesetzte Diätetik, von der ich nur Schaden erwartet hätte, die kaum mehr erhoffte Hilfe brachte. Das war eine entscheidende Stunde in meinem Leben und zugleich eine schmerzliche und eine folgenschwere Entdeckung. Sie liegt jetzt 35 Jahre zurück.

Von jenem Tage an datiert mein Interesse für die Ernährungsfrage. Es wuchs von Jahr zu Jahr, denn die überraschenden günstigen Erfahrungen wiederholten sich bei anderen Kranken, summierten sich, meine Einsicht in die Ernährungsfrage und ihre Zusammenhänge mit dem Erkranken und dem Gesunden vertiefte sich. Ich sah, dass weder die Tiere noch die Menschen die Nahrung um der Eiweißstoffe willen zuführen, sondern um der Energie willen. Aber diese Energie war mit dem Kalorienmaß nicht zu werten. Sie war nicht Wärme, sondern auch für den Menschen, wie für die Pflanzen, die elektromagnetische Energie des Sonnenlichtes. Damit gelangte ich zu einer neuen Wertung der Nahrungsmittel. Ihren Nährwert entschied die Reinheit oder Unreinheit des in ihnen vorhandenen Sonnenlichtes. Unreine Sonnenlichtnahrung schuf die Krankheit, reine Sonnenlichtnahrung die Gesundung. Vor meinen Augen erhob sich die Ernährungsfrage zu einer neuen, unermesslichen Bedeutung für die kranke wie für die gesunde Menschheit.

Nunmehr war für mich lichtstärkste, vollwertigste und heilkräftigste Nahrung die frische Frucht und das frische grüne Blatt, kurz Rohkost; die Fleischnahrung dagegen sank auf die niedrigste Stufe. Damit hatte sich der Widerspruch zu den Ernährungssitten und -gebräuchen in seiner ganzen unerbittlichen Schärfe aufgetan. Ich musste mich auf einen harten Kampf gefasst machen. Sollte ich nicht lieber schweigen? Noch heute, da ich diesen Vortrag beginne, empfinde ich die Kluft, die mein Schauen und die allgemeinen Ernährungsbegriffe trennt, — die Zika markiert sie ja mit aller Deutlichkeit, — wieder regte sich die bange Frage: „Soll ich nicht lieber schweigen?“ Doch da erheben sich vor meinem Blicke wieder die vielen Leidensgestalten der vergangenen Jahrzehnte, diese infernale Leidenstragödie infolge Missernährung der Zivilisation, zugleich mit den oft so mühsam erzielten und doch so überraschenden Heilerfolgen. Sie sagen: „Du musst sprechen!“ Und ich gehorche.

Die Zeit brachte mir eine mächtige Unterstützung. Während die Jahre dahinflossen, vollzog sich in der wissenschaftlichen Ernährungsforschung eine wahre Revolution, der sich unsere Aufmerksamkeit nunmehr zuwenden mag.

Wie alt ist denn eigentlich die Ernährungswissenschaft? In der Urzeit, als der Mensch noch im Garten Eden lebte, ernährte er sich nach dem Worte des Schöpfers: „Siehe, ich habe euch allerlei Kraut gegeben, das sich besamet auf dem ganzen Erdboden, und fruchtbare Bäume, die sich besamen, die sollen eure Speise sein.“ Und in der Tat: Das Gebiss des Menschen ist diesem Worte des Schöpfers entsprechend ein reines Fruchtessergebiss. Im Garten Eden kannte der Mensch die Zubereitung der Nahrung mit Feuer noch nicht. Doch das Menschengeschlecht breitete sich über die Erde aus. Die Eiszeit kam mit Not und Schrecken. Da lernte es auch die Tiere des Landes, des Meeres und der Luft als Nahrung zu gebrauchen und folgte dabei dem Vorbilde der karnivoren Tiere, der Raubtiere. Zuerst nahm es, wie jene Tiere, die animale Nahrung im lebenden, rohen Zustande. Erst später bediente es sich des Feuers zur Zubereitung des Mahles. Sie kennen wohl alle die Sage von Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und den Menschen auf die Erde brachte. Er wurde zur Strafe an einen Felsen geschmiedet, und der Adler fraß ihm die Leber weg. In diesem Symbol spricht die erstaunliche Einsicht der alten Weisen, die schon in altersgrauer Zeit erkannten, dass die Hitze des Feuers die Nahrung schädigt und dem Menschen schwere Ernährungskrankheiten bringt. Erst die allerneueste Ernährungsforschung hat dieses Wissen der Alten bestätigt. Jahrtausende sind nun vergangen. An den ausgegrabenen Knochenresten der Vorzeit und an ägyptischen Mumien wurde nachgewiesen, dass schon früh die Nährschäden sich einstellten. Viele Überlieferungen bezeugen das Vorhandensein von Wissen über die Wirkungen der Nahrung, doch eine Ernährungswissenschaft im heutigen Sinne existierte nicht vor dem neunzehnten Jahrhundert.

 

Der Aufschwung der Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie, ermöglichte mit Anbruch des 19. Jahrhunderts die Inangriffnahme des Ernährungsproblems mit den Hilfsmitteln der wissenschaftlichen Chemie. So datiert denn die eigentliche Ernährungswissenschaft erst seit dem Ende der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Sie knüpft sich an berühmte Namen, an Liebig, Voit, den jetzt noch in Berlin lebenden Rubner, an den Basler Physiologen v. Bunge und andere, denen allen wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse zu verdanken sind.

Die chemische Untersuchung der Nahrung führte zur Entdeckung der drei Nährstoffe: Eiweiß, Fett, Kohlehydrat (Zuckerstoff), die in allen Nahrungsmitteln vorhanden sind. Diese Nährstoffe lieferten die Bausteine zum Aufbau des menschlichen Organismus und die Betriebskraft für den Energieverbrauch. Ihre Verbrennungswärme wurde in Kalorien festgestellt und daraus die Verbrennungswärme der Nahrungsmittel berechnet. Rubner konnte nachweisen, dass für den Energieverbrauch des Menschen das Gesetz von der Erhaltung der Energie, der von Julius Robert Mayer entdeckte I. Hauptsatz der Wärmelehre, gültig ist. Voit gab aus statistischen Berechnungen den Standard des Bedarfes: Ein Mann von 70 Kilogramm Körpergewicht bedarf pro Tag bei mittlerer Arbeit 120 g Eiweiß, 50 g Fett, 500 g Kohlehydrate und zusammen 3000 Kalorien.

Mit solchen noch zu ergänzenden Kenntnissen glaubte man sagen zu können, was der Mensch zu seiner vollwertigen Ernährung braucht. Am wichtigsten unter den Nährstoffen erschien das Eiweiß, das man aus dem Stickstoffgehalt der Nahrungsmittel errechnete. Der Nährwert wurde auf den Eiweißgehalt eingestellt. Die Nährwerttabellen entstanden. Je mehr Eiweiß, umso nahrhafter. So entstand die Wertung des Muskelfleisches als eines besonders kräftigen Nahrungsmittels, während man eine Frucht, ein grünes Blatt wegen des relativ geringen Eiweißgehaltes als geringwertig einschätzte.

Man war geblendet von diesem wissenschaftlichen Wissen, das noch kein Zeitalter je besessen hatte. Auf Grund der chemischen und kalorischen Zusammensetzung wertete man fortab und urteilte, und die Forschung beruhigte sich und schlief allmählich ein.

Unterdessen drang das neue Wissen in die Welt hinaus. Die tierische Nahrung erhielt die Suprematie. Wollte man einen Menschen kräftigen, so gab man ihm die eiweißreichen Nahrungsmittel, namentlich Fleisch-, Eierspeisen und Milchprodukte. Von den pflanzlichen Nahrungsmitteln ließ man allenfalls die eiweißreichen Hülsenfrüchte, „das Fleisch der Armen“, gelten. Das errechnete Eiweiß der verschiedenen Nahrungsmittel hielt man für gleichwertig; man bildete sich höchstens ein, dass das tierische Eiweiß wertvoller sei als das pflanzliche. Im Bürgerhause, aber namentlich im Gastgewerbe, wurden die Fleischspeisen der Mittel- und Schwerpunkt des Speisezettels; die Gemüse wurden zur nebensächlichen Garnitur, das Obst ein Anhängsel für den schon gefüllten Magen. Aus dem Getreide wurde der Mehlkern aussortiert und zu Weißmehl, Weißbrot und Teigwaren verarbeitet. Der Zucker der Rüben und des Rohres wurde raffiniert und entmineralisiert. Vom Kochen und Braten lehrte man, dass es die Nahrung aufschlösse und verdaulicher mache. Viele Menschen aßen schließlich nur noch Gekochtes, oder anderswie durch Hitze verwandelte Nahrung. Das war nun die wissenschaftlich anerkannte Ernährung des zivilisierten Menschen!

In der Verblendung des Wissens bemerkte man gar nicht, dass diese chemische Wertung niemals hinreichte, um die so mysteriöse Ernährungsfrage zu lösen, dass man über die diätetischen Eigenschaften der Nahrungsmittel gar nichts wusste, und dass man über die Ernährungsbedürfnisse des Organismus nur sehr dürftig aufgeklärt war. Ganz dunkel blieben dabei die ursächlichen Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krankheit. Man beschränkte sich auf vage Meinungen über die Schädlichkeit von Über- und Unterernährung.

So war es am Ende des 19. Jahrhunderts mit der jungen Ernährungswissenschaft bestellt. Und heute, da sie zur alten, überholten geworden ist, herrschen ihre Lehren noch kaum bestritten in der Volksernährung.

Nicht offiziell anerkannt und nach Möglichkeit totgeschwiegen waren wohl auch unter den Ärzten Gegner solcher Lehre und Diätetik aufgetreten, bevor die neue Ära der Ernährungsforschung einsetzte. Um Beispiele zu nennen, sei hier des deutschen Arztes. Dr. Heinrich Lahmann und des englischen Arztes, Dr. Alexander Haig, gedacht. Lahmann verfocht mit Nachdruck die Bedeutung der Mineralstoffe der Nahrung, der sogenannten Nährsalze. Er konnte sich dabei auf Physiologen vom Range des Basler Professors von Bunge stützen, der die Beachtung dieser wichtigen Nahrungsbestandteile neben den Eiweißstoffen mit guten Gründen befürwortete. Man muss heute anerkennen, dass Lahmann die Zusammenhänge zwischen fehlerhafter Ernährung und Krankheit besser erkannte als seine Zeit. Er gelangte sogar schon damals zu der Lehre von der diätetischen Blutentmischung, der Dysaemie.

Haig litt schwer an Migräne. Es gelang ihm in höchster Not, sein Leiden zu besiegen, indem er seine Nahrung gründlich veränderte und namentlich das Fleisch jeder Art aufgab. Dieses persönliche Erlebnis wurde für ihn zum Ansporn außerordentlich interessanter und eingehender Untersuchungen am eigenen Körper, die ihn überzeugten, dass die Harnsäure nicht nur bei der Migräne, sondern noch bei vielen anderen ernsten und verbreiteten Krankheiten die Rolle eines ursächlichen Faktors spielt. Indem er die Zufuhr dieser Substanz mit der Nahrung und die Ausscheidungsbedingungen prüfte, kam er zum Nachweis der Aufspeicherung der Harnsäure in den Geweben mit periodischer Überflutung des Blutes. Er zeigte, wie aus der Harnsäurevergiftung des Blutes die urikämische und aus der Harnsäureablagerung in den Geweben die uratohistächische Krankheitsgruppe hervorgeht. Damit wurden Zusammenhänge von vielen klinisch verschiedenen Krankheiten unter sich und zugleich mit der Ernährung sichtbar, die vorher keine Erklärung gefunden hatten.

Viele Kranke fanden bei Lahmann und bei Haig Hilfe, doch ihre Lehren stießen auf harte, ja selbst auf leidenschaftliche Widerstände.

Nun kamen aber gefährlichere Angriffe auf die „alte“ Diätetik. Der erste ging von einem Gefängnishofe im holländischen Batavia aus, wo der Gefängnis-Arzt Eijkman die Ursache der so verbreiteten Dahinsiech-Krankheit Beriberi im Mangel einer völlig unbekannten Nährkraft, die sich in dem missachteten Samenhäutchen des Reiskornes verbarg, entdeckte. Tausende gingen an dieser Krankheit elendiglich zugrunde. Kein Medikament, kein Heilverfahren, vermochte Hilfe zu bringen. Keine von 14 Theorien hatte die Entstehung der Beriberi bisher befriedigend zu erklären vermocht. Das überraschendste dabei war, dass jene unbekannte Nährkraft des Samenhäutchens und des Keimlings des Reiskornes die ausgebrochene Krankheit, die sonst allem trotzte, zu heilen verstand. Zu solchen Geschehnissen wusste die alte Ernährungslehre kein Wort zu sagen.

Eijkmans Entdeckung fand zunächst keine freundliche Aufnahme. Es erhob sich im Gegenteil ein Sturm der Entrüstung und des Hohnes. Eine Krankheit, die so ganz den Charakter einer durch Bakterien verursachten Seuche hatte, sollte nun ausgerechnet dem Polieren des Reiskornes zu verdanken sein. Was enthielt denn dieses unbedeutende Samenhäutchen, was der Keimling? Unsinn! Wahnsinn! Die Bedeutung der Entdeckung kam erst gute zehn Jahre später zur Anerkennung, als das B-Vitamin unwiderruflich festgestellt war.

Der zweite gefährliche Angriff kam von dem physiologischen Institut der Yale-Universität in Amerika, dessen Vorstand Prof. Russel H. Chittenden war. Der bekannte Horace Fletscher hatte sich dort zur Kontrolle gestellt. Sorgfältigstes Kauen seiner Nahrung und Unterstellung ihrer Zusammensetzung unter den beim Kauen deutlicher sprechenden Geschmacksinn hatten diesen Laien von einer schweren Krankheit geheilt und überzeugt, dass der Mensch weit weniger, aber besser gekauter und ausgewählter Nahrung bedürfe, um zu gesunden. Die wissenschaftliche Prüfung fiel so aus, dass Prof. Chittenden sich zu seinem bekannten Riesenexperiment, an dem sich 26 Professoren, Ärzte, Medizinstudenten und Sanitätssoldaten beteiligten, entschloss, ein Experiment, das man allerdings nur mit amerikanischen Dollars unternehmen konnte.

Bei diesem Experimente hatte jeder Teilnehmer unter Wahrung seines Wohlbefindens danach zu trachten, dass er sein Minimum an Eiweiß und Kalorien zuführte. Die Dauer betrug 6 Monate, bei Chittenden selbst neun Monate. Der Tisch war mit einer reichlichen Auswahl von Speisen gedeckt. Um dem genannten Prinzip des Experimentes gerecht zu werden, sahen sich die Teilnehmer bald genötigt, die Fleischzufuhr weitgehend einzuschränken. Schließlich nährten sich fast alle rein vegetarisch. Eine Athletengruppe wurde in ihren körperlichen Leistungen gemessen und während der ganzen Versuchszeit kontrolliert. Überraschenderweise besserten sich die Leistungen bei der knappen Ernährung, das Wohlbefinden mehrte sich so deutlich, dass manche mit der neuen Ernährung auch nachher weiterfuhren.

Chittenden leitete aus dem Gesamtergebnis seine neue Lehre von der Ökonomie der Ernährung ab, wonach bei einer um mehr als die Hälfte des Voit'schen Standards kleineren Eiweißzufuhr der Organismus sich günstiger stellt, die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit größer sind als bei der alten Norm. Er hatte dabei noch ein unerwartetes persönliches Erlebnis. Er litt an einer chronisch rheumatischen Kniegelenkerkrankung, die keiner Behandlung weichen wollte. Sie verschwand spurlos mit der Dauer des Experimentes. Diese Erfahrung überzeugte ihn, dass die Fleischnahrung mit ihrem Säureüberschuss, ihrer starken Harnsäurezufuhr und ihren Leukomainen eine ursächliche Bedeutung für den Rheumatismus hat.

Für das Eiweißdogma war dieses Experiment ein sehr empfindlicher Schlag. Ein hervorragender Kollege von Chittenden, Prof. Benedict, suchte ihn zu parieren, indem er die Allgemeingültigkeit der Chittenden'schen Folgerungen bestritt (1906). Während des Weltkrieges (1917) wiederholte er indessen die Ch.'schen Versuche mit jungen Männern mit dem Resultate, dass er nunmehr seine Einwände zurücknahm und Chittenden zustimmte.

So schwerwiegend beide Ereignisse, die Entdeckung Eijkmans und die Ergebnisse Chittendens, sind, sie vermochten nur zu erschüttern, nicht aber umzuwerfen. Der tödliche Schlag traf die „alte“ Lehre von anderer Seite.

Im Jahre 1906 wurde in Wisconsin ein Ernährungsversuch mit Rindern eingeleitet, der sich über Jahre erstreckte, und mit dessen Ergebnissen die neue Ära der Ernährungsforschung begann. Die Rinder wurden in vier Gruppen von gleichem Alter und Gesundheitszustand eingeteilt. Jede Gruppe erhielt eine andere Nahrung von einer so nahe verwandten Beschaffenheit, dass man irgendwelchen Wirkungsunterschied nicht voraussehen konnte. Die Nahrung der vierten Rindergruppe war eine Mischung der drei andern Nahrungen. Nun geschah Folgendes: Die Tiere der einen Gruppe erwiesen sich andauernd als gut ernährt, sahen gut aus, blieben gesund, hatten gesunde Junge, die normal aufwuchsen. Die Tiere aller drei andern Gruppen ließen verschieden starke Gesundheitsstörungen erkennen: allmähliche Verschlechterung des Aussehens, der Behaarung, Abnahme des Gewichtes, der Milchproduktion und vor allem schwere Schädigung der Fortpflanzung: lebensschwache, lebensunfähige Früchte, Totgeburten, Sterilität.

 
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