Der Bruch

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Doug Johnstone

Der Bruch

Roman

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Herausgegeben von Wolfgang Franßen


Originaltitel: Breakers Copyright: © Doug Johnstone, 2019

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2021

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger

Mit einem Nachwort von Hanspeter Eggenberger

© 2021 Polar Verlag e. K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Eva Weigl, Nadine Helms

Umschlaggestaltung: Robert Neht, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © Eléonore H /Adobe Stock

Autorenfoto: © Chris Scott

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

ISBN 978-3-948392-20-8

eISBN 978-3-948392-21-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Was würden wir an Tylers Stelle tun? Ein Nachwort von Hanspeter Eggenberger

1

Tyler starrte seine kleine Schwester an, während sie fernsah und das Licht vom Bildschirm über ihr Gesicht flackerte. Irgendein Zeichentrickfilm über einen Jungen, der einen Zauberring findet und sich in ein Superhelden-Mädel verwandelt, das Ganze also mit einer Portion coolem Gender-Kram. Bean kaute auf ihrer Unterlippe, lächelte dann, und er sah die Lücke vorne, wo der Milchzahn ausgefallen war. Er hatte der Zahnfee zwei Mäuse aus den Rippen geleiert, nachdem er von seiner Schwester erfahren hatte, was aktuell auf dem Schulhof als der übliche Preis galt. Er war überrascht, dass sie angesichts all dessen, was sonst so abging, immer noch daran glaubte.

»Okay, Kurze, Zeit fürs Bett«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf, die Augen weiter auf den Fernseher fixiert.

Er griff nach der Fernbedienung und der Bildschirm wurde schwarz, es blieb nur noch das gedämpfte Licht der Ecklampe.

»Ist schon längst Schlafenszeit«, sagte er. »Und ich muss bald los.«

Bean drehte sich um. »Wo ist Mum?«

»Im Bett.«

»Ist sie betrunken?«

Tyler seufzte. »Sie war müde.«

»Sie ist betrunken.«

Sollte sie denken, Angela wäre betrunken, denn die Wahrheit war viel schlimmer.

Bean spielte mit Pandas Ohr. Tyler hatte das Stofftier vor ein paar Jahren bei einem Bruch in Merchiston mitgehen lassen. Einen Moment lang hatte er sich blöd gefühlt, aber auf dem Bett dieses Mädchens waren Hunderte Kuscheltiere aufgereiht gewesen, und Bean hatte gar nichts. Er fragte sich, ob das andere Mädchen wohl geweint hatte, als es entdeckte, dass Panda weg war.

»Können wir noch aufs Dach?«, fragte Bean.

»Nein, komm jetzt.«

»Bitte.«

»Morgen ist Schule.«

Sie warf ihm einen Blick zu, wie so eine Manga-Figur, das Kinn gesenkt, die Augen nach oben. »Bitteeeee.«

Tyler sah auf die Uhr. Was für eine Rolle spielte es schon? Er blickte sich in dem winzigen Wohnzimmer um, zwei schäbige Sofas, abgewetzte Teppichfliesen, ein Radiator in der Ecke. Der einzige teure Gegenstand war der Sony LCD Breitbildfernseher, den er aus einer Villa an der Cluny Gardens mitgenommen hatte, die an den Blackford Pond angrenzte. Normalerweise ließen sie die Finger von Fernsehern, denn die waren echt scheiße zu transportieren, doch er wollte ihn für Bean.

»Aber nur ganz kurz«, sagte er.

Sie lächelte und umarmte ihn.

»Ich mein’s ernst«, sagte er. »Ich muss noch mal weg. Barry kommt gleich vorbei.«

Bean runzelte die Stirn und Tyler bedauerte, seinen Halbbruder erwähnt zu haben. Er streckte die Hand aus und sie ergriff sie, wobei sich ihre Hand feucht anfühlte, als er mit ihr den Flur hinunterging.

Er nahm die Schlüssel aus einer Holzkiste, die neben der Haustür als Tisch diente. Er nahm die Hakenstange, die er aus einer Gardinenleiste improvisiert hatte, und eine Decke, die auf dem Boden lag. Bean trug ihren Pyjama und darüber den Onesie, und da oben würde es kalt sein, jeder Windhauch verwandelte sich in dieser Höhe in einen Sturm. Er fegte von der Liberton Brae herunter, übers Krankenhaus und die Ebene hinter Craigmillar Castle, und seitdem die meisten anderen Betonsilos abgerissen worden waren, bekam ihr Hochhaus das meiste ab.

Er verriegelte die Wohnungstür und ging den Korridor hinunter, fort vom Fahrstuhl und der anderen Wohnung, in der Barry und Kelly lebten. Barry hatte eine syrische Familie so lange unter Druck gesetzt, bis sie vor einigen Monaten ausgezogen waren, und jetzt hatten die Wallaces die ganze Etage für sich, als wär’s ein billiges Penthouse.

Tyler öffnete mit dem Haken die Falltür aufs Dach und zog die Aluminiumleiter herunter. Mit der Decke über der Schulter und den Schlüsseln in der Hand stieg er hinauf und öffnete das Vorhängeschloss an der Stahltür am oberen Ende. Es war eine Wartungstür, aber er hatte schon vor Jahren das ursprüngliche Schloss aufgebrochen und es durch sein eigenes ersetzt, die Typen von der Hausverwaltung kamen ohnehin nie hier herauf.

Er sah zu Bean hinunter. »Komm rauf, aber schön beide Hände benutzen.«

Sie legte Panda auf den Boden und kletterte die Leiter hinauf. Die letzten paar Stufen half er ihr, dann drückte er die schwere Tür auf und spürte sofort die kalte Luft auf dem Gesicht. Er aktivierte die Taschenlampe seines Smartphones und sie überquerten die schuppige Teerpappe auf dem Dach zur Westseite, wo zwei zusammengelegte Gartenstühle standen. Einen davon klappte er auf und setzte sich, und Bean stieg auf seinen Schoß, während er die Decke über ihnen ausbreitete. Er schaltete die Taschenlampe aus und die Dunkelheit verschluckte sie.

 

Sie befanden sich im fünfzehnten Stock oben auf dem Greendykes House. Ihnen gegenüber stand das identische Wauchope House – es waren die letzten beiden noch verbliebenen Hochhäuser der Gegend. Umgeben waren sie von Brachland und einer riesigen Baustelle, wo Barratt Developments das neue Viertel Greenacres aus dem Boden stampfte, Hunderte von Wohnungen und Einfamilienhäusern. Das stand zumindest auf dem großen Schild mit der glücklichen, lächelnden Familie darauf. Vorerst waren es nur Bagger und Abraum, eingefasst von Stacheldraht und überwacht von einem privaten Sicherheitsdienst. Vermutlich für den Fall, dass irgendwer Bock hatte, einen Bagger oder ein paar Kabel oder Rohre zu klauen. Tyler dachte über die logistischen Probleme nach, etwas so Großes zu stehlen, er selbst war ja kleinere Gegenstände gewohnt.

Er überlegte, wie es wohl sein würde, Hunderte neuer Nachbarn zu haben, wenn Greenacres erst mal fertig war. Schlimmer als das Dreckloch, das es vorher gewesen war, konnte es nicht werden, ausgebrannte Häuser und baufällige Läden, Drogenhöhlen und Gang-Treffs. Auf den Straßen wurden Rennen mit kurzgeschlossenen Autos und getunten Scramblern gefahren.

Hinter dem in Flutlicht getauchten und eingezäunten Areal lag mehr Brachland, Gestrüpp, dichtes Gras und rissiger Beton, bis man schließlich das futuristisch wirkende Gelände des Krankenhauses von Little France erreichte. Grasbüschel und Gruppen von Hecken und Sträuchern zogen sich bergan bis Craigmillar Castle, dessen schroffe Turmruinen am oberen Ende des Hangs über die Bäume hinausragten. Die Schulen von Tyler und Bean lagen verborgen hinter den Bäumen, eingezäunt und von Videokameras überwacht.

Die Fläche zwischen hier und da war eine einzige große illegale Mülldeponie, ein Wirrwarr von Gummirohren, feuchten Matratzen, ein paar Autotüren, einer zertrümmerten Windschutzscheibe, Bergen von Müllsäcken, prall gefüllt mit weiß Gott was, und zerbrochenen Zaunfragmenten, die irgendwann mal irgendwen von irgendwo hatten fernhalten sollen. Das alles sah er im Licht der Scheinwerfer des Baugeländes. Er sah kurz zum Wauchope House hinüber, dem Zwilling des Hochhauses, auf dem sie sich befanden. Er würde nie verstehen, warum diese beiden letzten Dinosaurier nicht mit dem Rest abgerissen worden waren. Warum sie nicht einfach ganz Niddrie, Craigmillar und Greendykes mit einer Flächenbombardierung überzogen hatten und fertig. Hinter Wauchope erstreckten sich neue Häuser, billig und bunt zusammengewürfelt, aber immer noch besser als das, was sie ersetzten. Hinter Greendykes House folgte Hunter Park und dann weitere Neubaugebiete, alles ursprünglich Erschließungsflächen für Gewerbe, die nun für Pendler benötigt wurden.

»Erzähl’s mir noch mal«, sagte Bean und kuschelte sich an ihn. Eine Strähne ihres dunklen Pferdeschwanzes hatte sich gelöst. Er hatte sie früher am Abend in die Wanne gesteckt, und nun duftete sie nach Erdbeer-Shampoo.

»Es war eine dunkle, stürmische Nacht«, sagte er mit dramatischer Stimme.

Bean kicherte, als er ihre Rippen kitzelte.

»Eine schicksalsschwere Nacht«, sagte er, »als die größte Superheldin der Welt, Bean Girl, geboren wurde, eine Macht des Guten, um die finsteren, bösen Mächte von Niddrieville zu bekämpfen.«

»Weiter«, sagte Bean.

»Angela war eine ganz normale Frau aus einer ganz normalen Familie, als sie von Außerirdischen besucht wurde, die ihr sagten, sie werde eine wunderschöne kleine Tochter mit ganz besonderen Kräften zur Welt bringen, ein Mädchen, das fliegen könne, das hohe Gebäude zertrümmern und über Berge springen könne, das aus seinen Augen Laserstrahlen verschießen könne.«

Bean starrte zu dem Krankenhaus in der Ferne, machte zuerst große Augen und dann süße kleine Laserfeuer-Geräusche, pfiupfiuu, pfiu-pfiuu.

Tyler redete weiter, dachte sich Sachen aus, wie es ihm in den Kopf kam, verlieh Bean Girl ungeheure Kräfte, ließ sie über das Böse triumphieren. Die Wahrheit über ihre Geburt war weniger beeindruckend. Angelas Fruchtblase war geplatzt, als sie mit Heroin und Wodka zugedröhnt flachlag. Barry und Kelly waren nicht da gewesen und gingen auch nicht an ihre Handys, also hatte der zehnjährige Tyler versuchen müssen, Angela wieder einigermaßen nüchtern zu bekommen, bevor er sich auf den Weg zum Krankenhaus machte, damit sie ihr das Baby nicht gleich wegnahmen, wenn es kam. Er rief einen Rettungswagen, aber es hatte in der Gegend eine Serie von Überfällen gegeben, weswegen man sich weigerte rauszukommen. Geld für ein Taxi war nicht da, also marschierten sie über die Felder, ziemlich langsam wegen der Dunkelheit, und meldeten sich ohne Papiere in der Entbindungsstation. Zwei Stunden später wurde Bethany geboren, viereinhalb Pfund schwer, sechs Wochen zu früh, zweifellos wegen Alk und Drogen. Tyler war der Erste, der sie auf dem Arm hielt, seine Mutter völlig weggetreten im Tiefschlaf. Sowohl er als auch Bean waren klein für ihr Alter, etwas, das sie gemeinsam hatten. Eine Verbundenheit, stärker als alles, was sie für Angela empfanden.

Er spürte, wie Bean auf seinem Schoß erschlaffte, ihre Arme schwer wurden, als die Müdigkeit sie überrollte. Er starrte zum Krankenhaus hinüber, in dem sie geboren worden war und das in der Nacht an ein leuchtendes Raumschiff erinnerte.

Er hörte Schritte auf der Leiter hinter sich, dann das Geklapper der sich öffnenden Stahltür.

»Dachte mir schon, dass ich euch Mädels hier finde.«

Barry kam mit großen Schritten näher und zeichnete sich als Silhouette vor dem Hintergrund der beleuchteten Baustelle unten ab. Tyler konnte sein Gesicht nicht ausmachen, nur seine muskelbepackte Statur, die Positur des knallharten Kerls, die geballten Fäuste. Er war ein schwarzes Loch, das Gegenteil von Licht.

»Sie sollte im Bett sein«, sagte er.

»Als ob’s dich kümmert.«

Barry machte einen Schritt vorwärts, und Tyler spürte, wie Bean in seinen Armen zusammenzuckte.

Barry starrte sie einen Moment lang an, dann wandte er sich wieder an Tyler.

»Komm jetzt, Arschloch«, sagte er. »Auf uns wartet Arbeit.«

2

Es dauerte gerade mal zehn Minuten hinterm Steuer, um aus dem härtesten sozialen Brennpunkt Edinburghs zu den Wohnsitzen der Millionäre zu gelangen. Von Niddrie kurvten sie auf der Hauptstraße durch Craigmillar, vorbei an Peffermill und der Keksfabrik, der Geruch von geröstetem Hafer drang zu Tyler auf dem Rücksitz des Wagens. Um Cameron Toll herum, und schon waren sie in der wohlhabenden Southside. Er fragte sich, ob die Leute hier überhaupt wussten, dass es Niddrie und Greendykes gab. Edinburgh war so klein, dass alle dicht aufeinanderhingen, Investmentbanker direkt um die Ecke von Familien wie den Wallaces. Die meisten dieser Menschen waren völlig ahnungslos, dass sie ständig belauert und ins Visier genommen wurden. Das hier war ihr Revier, von Mayfield über Newington und Marchmont runter nach The Grange, Morningside und Merchiston. Von Zeit zu Zeit wagten sie sich ein wenig weiter vor, bis nach New Town und Stockbridge. Das verschaffte ihnen etwas Luft, wenn es mal sehr eng für sie geworden war. Manchmal war’s einfach vernünftig, die Southside eine Weile in Ruhe zu lassen, den Hausbesitzern Zeit zu geben, wieder locker zu werden und sich zu entspannen.

Sie bogen in die Mayfield Road ein, dann links auf die Relugas, weiter auf die kleineren Straßen. Sie hielten sich von den Hauptstraßen fern und blieben in den Wohngebieten, weniger Durchgangsverkehr und eine höhere Wahrscheinlichkeit, unbemerkt zu bleiben.

Barry fuhr, im Radio lief auf Forth One eine endlose Abfolge langweiliger Popsongs. Tylers Halbschwester Kelly hatte die Bedienungsanleitung des Wagens aus dem Handschuhfach genommen und sich auf die Knie gelegt, bereitete jetzt darauf Koks-Lines vor. Sie befanden sich in Barrys metallicgrauem Škoda Octavia, den sie vor einem Jahr vor einem Haus in Sciennes geklaut hatten, als sie die Schlüssel in einer Schale neben der Haustür fanden. Barrys Kumpel Wee Sam hatte der Karre in seiner Werkstatt neue Nummernschilder verpasst. Ein Octavia war perfekt, ein völlig neutrales Auto, weder protzig noch piefig, und heutzutage war jedes zweite Auto auf der Straße grau.

Tyler beobachtete Kelly. Sie war zwanzig, sah aber älter aus, war groß und üppig, hatte wasserstoffblonde Haare. Breite Nase, breite Hüften, breite Schultern – alles an ihr war breit. Ihre hellen Haare spielten bei dem Job keine Rolle, denn sie hatten wegen möglicher Videoüberwachung ohnehin immer Kapuzen auf. Wie Tyler und Barry trug auch sie einen Allerwelts-Hoodie und Jogginghose, das Beste, was Primark zu bieten hatte, ohne irgendwelche Logos oder Muster.

Jetzt waren sie auf der Lauder Road. Hier standen ein paar riesige Häuser, aber die Straße war breit und bot kaum Deckung. Barry bremste ab, aber auch nicht zu sehr, er wollte nicht auffallen. In der ganzen Stadt durfte man heute nicht mehr schneller als dreißig Stundenkilometer fahren, was ihnen entgegenkam, ihnen erlaubte, langsam zu fahren und die Gegend auszukundschaften, ohne verdächtig zu wirken.

Kelly zog sich eine breite Line Koks rein, reichte den Stoff dann Barry, hielt ihm den zusammengerollten Schein, damit er die Hände nicht vom Steuer nehmen musste. Er behielt den Blick auf der Straße und sniffte, schüttelte den Kopf, bewegte den Unterkiefer hin und her.

Kelly streckte eine Hand aus und legte einen Finger unter seine Nase, wischte ein paar Kristalle weg, die dort klebten. Sie hielt Barry den Finger hin, der sich vorbeugte, ihn ablutschte und dann breit grinste.

Tyler sah aus dem Fenster, suchte nach Häusern ohne Alarmanlagen und Licht, wie man es ihm beigebracht hatte. Vorzugsweise frei stehende Einfamilienhäuser für den Fall, dass Nachbarn etwas hörten, aber es war schon erstaunlich, wie selten das passierte. Menschen wollen nichts mit den Angelegenheiten anderer Leute zu tun haben, ganz besonders nicht, wenn sie bei diesen Angelegenheiten verletzt werden könnten.

»Was für Scheißbuden sind das hier?«, schimpfte Barry, aufgedreht von dem Stoff. Sie boten Tyler nie etwas an, weil sie alles für sich allein wollten, aber auch, weil sie seine Einstellung dazu kannten. Er sah ja jeden Tag, was Drogen mit ihrer Mum machten.

Sie bogen rechts auf die schmalere Dalrymple Crescent ein. Hier gab es durchaus einige Kandidaten. Es waren keine Schulferien, in dieser Zeit hatten sie am meisten zu tun, wenn die Häuser wochenlang leer standen. Aber reiche Leute hatten gesellschaftliche Verpflichtungen, sie gingen abends zum Essen aus oder auf eine Party, ins Theater oder ins Kino. Es dauerte nicht lange, diese Sache, rein und raus in wenigen Minuten.

Tyler fand es scheiße, dass er das alles wusste. Er wollte nicht hier sein, aber er hatte keine Wahl. Barry und Kelly brauchten jemanden, der klein genug war, um sich durch Klappfenster und Oberlichter zu zwängen, falls die Türen mit Riegeln gesichert waren. Er konnte das machen, und er konnte nicht Nein sagen. Barry redete schon davon, in Zukunft an seiner Stelle Bean mitzunehmen, aber das konnte Tyler nicht zulassen.

Barry erreichte das Ende der Straße und bog rechts auf den Findhorn Place ein, dann runter bis an dessen Ende und wieder rechts. Sie fuhren einmal um den Block, während sich Kelly eine weitere Line reinzog, dann Barry ebenfalls. Zurück in die Dalrymple Crescent. Barry hatte ein Haus ausgemacht. Tyler ebenfalls, nur hatte er es nicht erwähnt. Als sie das zweite Mal vorbeifuhren, sah er es sich genauer an. Doppelhaushälfte, auf keiner Seite Licht, niedriger Zaun zur Straße. Keine Alarmanlage, keine Sicherheitsbeleuchtung oder Videokameras, eine Handvoll großer Bäume davor boten ausreichend Deckung und ließen einen anständigen Schuppen voller Gartengeräte vermuten.

Es war perfekt.

Sie fuhren ein weiteres Mal um den Block, wobei Tyler ein Vibrieren im Bauch, ein Flattern in der Brust verspürte. Er dachte an Bean, die jetzt zu Hause in ihrem Bett lag, an Panda gekuschelt, die Nachttischlampe an. Er dachte an seine Mum, die weggetreten in ihrem Schlafzimmer lag, und hoffte, dass Bean nicht aus einem schlechten Traum aufwachte, so wie es in letzter Zeit öfter vorgekommen war.

Sie rollten ein letztes Mal an 13 Dalrymple Crescent vorbei.

 

»Das da«, sagte Barry und hielt dann etwa dreißig Meter weiter an.

3

Der Trick war Selbstvertrauen. Man kommt mit allem durch, solange man sich so verhält, als wüsste man genau, was man tut. So machten es die Oberschicht, die Politiker, Armeeoffiziere, Oxbridge-Typen in den Vorständen von Banken und Unternehmen – benimm dich einfach, als würde dir die Welt gehören, und alle spielen mit. Tyler hatte von einer Masche gehört, die zwei Typen aus der Schule auf einem Stück Brachland zwischen Mietshäusern an der King Stables Road abzogen. Sie stahlen Warnwesten und kassierten einen Fünfer für einmal parken. Die machten das im Sommer über Wochen, mitten im Zentrum von Edinburgh, und sackten so Tausende ein. Wurden nie erwischt.

Barry und Kelly waren bereits auf dem Weg. Tyler ließ den Kopf kreisen und versuchte, hinter ihnen ganz locker zu bleiben. Barry ging schnurstracks zur Haustür und klingelte. Sie waren ziemlich sicher, dass niemand zu Hause war, aber nur für alle Fälle. Einmal hatten sie das so gemacht, niemand hatte reagiert, dann waren sie hinters Haus gegangen. Sahen ein Pärchen mittleren Alters voll bei der Sache, die vögelten sich auf dem Küchenboden das Hirn weg.

Barry sah durch keines der zur Straße hin liegenden Fenster ins Haus, viel zu verdächtig. Stattdessen ging er um die Seite des Hauses voran, den dunklen Durchgang hinunter, vorbei an Wertstofftonnen und weiter in den Garten. Versuchte es an der hinteren Tür, abgeschlossen. Genauso die Fenster. Ein kurzer Blick unter Blumentöpfe und Abfalleimer nach einem Ersatzschlüssel. Nichts.

Sie konzentrierten sich auf den Garten, gingen zu dem Schuppen am hinteren Ende. Barry zuckte beim Gehen, Kelly wischte sich die Nase am Ärmel ab. Tyler sah sich um. Gepflegter Rasen, Kirsch- und Wildapfelbäume vor der Wand links, die sie vor den Fenstern im Obergeschoss des Nachbarhauses abschirmten. Perfekt. Auf der anderen Seite Rosenbeete vor einer gut eins achtzig hohen Steinmauer, oben drauf einzementierte Glasscherben. Wozu sollte das gut sein, wenn man doch einfach von vorne herumkommen konnte? Die Leute dachten nie wirklich über Sicherheit nach.

Der Schuppen war mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert, aber das Holz war alt. Barry hob den Fuß und trat zu, und schon löste sich die Metallplatte vom darunterliegenden Brett. Ein weiterer Tritt und es zersplitterte, die Tür schwang nach außen auf.

Barry streifte Lederhandschuhe über und betrat den Schuppen, dann gab er Tyler ein Zeichen, die Tür hinter ihm zu schließen. Tyler zog ebenfalls Handschuhe an und sah Licht von Barrys Taschenlampe durch die Ritzen zwischen den Holzplatten fallen. Eine Minute später kam Barry wieder raus, eine Gartenschere mit langen Teleskopgriffen in der Hand. Jeder hatte sie, um Bäume zu beschneiden, geradezu perfekt, um eine Hintertür aufzubrechen.

Barry drängte sich an Kelly vorbei zur Rückseite des Hauses. Verkeilte die Klinge der Schere auf Höhe des Schlosses zwischen Tür und Rahmen. Er hebelte das Ding vor und zurück, verbog den Beschlag aus Hart-PVC um das Schloss, öffnete einen Spalt. Das machte er mehrere Male, die Tür knarrte jedes Mal laut.

Tyler hörte etwas und sah sich um. Legte eine Hand auf Barrys Arm. Barry zuckte zusammen und hätte ihn fast geschlagen. Tyler zog an seinem Ohrläppchen und alle drei lauschten. Geräusche eines Autos in der Ferne, das Rascheln des Windes in den Kirschblüten. Dann ein Fauchen.

Tyler drehte sich zu dem Geräusch um. Eine schwarze Katze oben auf der Mauer zwischen diesem Garten und dem Nachbargrundstück starrte zu ihnen herunter. Sie hatte vier weiße Pfoten, als wäre sie in Farbe getreten, und die leuchteten jetzt in der Dunkelheit. Bedeuteten schwarze Katzen nicht Glück? Tyler streckte eine Hand aus und gab lockende Laute von sich, aber Kelly machte einen Schritt auf das Tier zu und holte aus, sodass es in den anderen Garten hinuntersprang.

Barry zog die Gartenschere aus dem Türspalt und reichte sie Tyler, dann warf er sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie wackelte, gab aber nicht nach. Und noch mal, mit dem gleichen Ergebnis. Barry stieß einen leisen, missbilligenden Laut aus und versuchte es wieder. Die Tür bog sich in der Mitte durch, allerdings nur ein wenig. Ein solides Schließsystem, höchstwahrscheinlich mit fünf Riegeln oben und unten an der Tür. Wahrscheinlich zusätzlich ein Sicherheitsbügel. Da würde nichts nachgeben. Moderne Türen wie diese wurden immer öfter eingebaut, aber in dieser Gegend fand man gelegentlich noch die alten aus Plastik mit einem einzelnen Riegelbolzen oder sogar die Originalholztüren, die man fast schon mit kräftigem Pusten aufbekam.

Barry drehte sich zum Küchenfenster. Eine große Scheibe mit zwei klappbaren Oberlichtern. Er nahm Tyler die Gartenschere ab und stieß sie auf den Punkt unterhalb des Fensterschlosses. Drückte fest zu und knackte es gleich beim ersten Versuch. Kein Mensch machte sich die Mühe, Oberlichter zu verstärken, sie waren stets ein Schwachpunkt. Meistens waren sie nicht mal abgeschlossen.

Barry ließ die Gartenschere fallen, als Kelly eine schwarze Mülltonne herüberhob, dabei darauf achtete, sie nicht zu ziehen und so ein Geräusch zu machen. Barry half Tyler auf die Tonne hinauf, hielt sie dann mit beiden Händen fest. Tyler schob das kleine Fenster so weit wie möglich auf, dann umklammerte er den Rahmen und zog sich kopfüber durch die Öffnung. Er hatte es halb geschafft, balancierte mit einer Hälfte bereits in der Küche, war mit der anderen noch draußen. Kelly hob die Hände, gab den Sohlen seiner Turnschuhe einen Schubs, und er rutschte weiter durch, die Arme nach vorn ausgestreckt. Er war dünn, steckte jedoch mit der Hüfte im Fensterrahmen fest. Kelly gab ihm noch einen Schubs. Er befand sich über der Spüle, die Hände über der Abtropffläche, und er zappelte in seiner Jeans gegen den Rahmen des offenen Fensters, zwängte eine Hälfte der Hüfte zur einen, die andere zur anderen Seite. Er rutschte die letzten Zentimeter, stützte sich mit den Händen auf der Abtropffläche ab, schraubte die Beine seitlich durch die Öffnung und ließ sich auf Händen und Knien neben die Spüle fallen.

So verharrte er einen Moment, vergewisserte sich, dass er sich nicht verletzt hatte, lauschte auf Geräusche aus dem Inneren des Hauses. Er hatte so etwas schon zigmal gemacht, aber das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals, der Puls wie eine Botschaft in den Ohren. Er ließ sich auf den Hintern nieder, sprang dann auf den Fußboden. Er war schlank und geschmeidig, wünschte sich aber dennoch, den Körper einer Katze zu haben, sich so anmutig und elegant in der Welt bewegen zu können. Er sah sich um. Marmorarbeitsflächen, Kochfeld und Ofen aus gebürstetem Chrom, eine lange Frühstückstheke aus Eiche. Die hatten ihr Geld lieber für so etwas ausgegeben, nicht für Sicherheit.

Er ging zur Hintertür. Manchmal ließen sie den Schlüssel im Schloss stecken, diesmal jedoch nicht. Er sah sich kurz um, entdeckte einen Ersatzschlüssel auf einem Regal neben mehreren gebundenen Kochbüchern mit Gesichtern, die er aus dem Fernsehen wiedererkannte.

Er steckte den Schlüssel ins Schloss. Es war schwergängig wegen der Beschädigungen, die Barry durch seine Versuche auf der Außenseite hinterlassen hatte, ließ sich dann aber doch drehen.

Er öffnete die Tür.

»Gute Arbeit«, sagte Barry und kam herein, Kelly ihm dicht auf den Fersen.

Er sah Tyler fragend an und hob dann den Kopf, was bedeutete: du oben.

»Das Übliche«, sagte er.

Tyler sprintete nach oben. Es war gut, von den beiden anderen wegzukommen. Er machte eine schnelle Runde durch sämtliche Räume, drei Schlafzimmer, ein Bad und ein Arbeitszimmer. Keiner zu Hause. Immer am besten zuerst nachsehen, man konnte ja nie wissen, ob nicht vielleicht einer zeitig zu Bett gegangen war, irgendwas genommen hatte, vom Klingeln an der Haustür nicht aufgewacht war.

Alles wirkte irgendwie altmodisch, ein Rentnerehepaar vielleicht, die Kinder waren erwachsen und aus dem Haus. Ziemlich normal, nicht viele jüngere Leute konnten sich Häuser wie das hier leisten.

Tyler blieb einen Moment im Flur stehen, konzentrierte sich, nahm die Atmosphäre auf, stellte sich die Menschen vor, welches Leben sie hier führen mochten. Wie’s wohl war, sie zu sein? Hatten das ganze Leben in einer Bank oder einem Büro gearbeitet, die Kids jetzt auf der Uni, viel Zeit, den Garten zu genießen.

Im Elternschlafzimmer öffnete er den Wäscheschrank, zog ein paar Kopfkissenbezüge heraus. Es gab eine Frisierkommode mit Spiegel, mehreren Schmuckkästen und einzelnen Schmuckstücken. Er wischte alles in einen Kissenbezug. Öffnete die Schubladen, fand mehr Schmuck, größtenteils Modeschmuck, aber auch ein paar nette Stücke aus Silber und Gold. Im Laufe eines Lebens konnte man ganz schön viel Kram ansammeln.

Er warf einen kurzen Blick in eine weitere Kommode, nur falls irgendwelche Wertsachen zwischen Unterwäsche und Socken versteckt waren, fand jedoch nichts. Er sah in den Nachttischen nach. Schottische Kriminalromane auf ihrer Seite, Bücher über Militärgeschichte auf seiner. Ein halb leeres Päckchen Viagra in seiner Schublade.

Als Nächstes das Arbeitszimmer. Regale mit gebundenen Büchern, hauptsächlich Klassiker. Ein Laptop und ein iPad auf dem massiven Schreibtisch. Beides wanderte in den Kopfkissenbezug. Sah in den Schreibtischschubladen nach, nahm Netzteile und Ladekabel heraus, wickelte sie zusammen. Er sah sich um. Eine Flasche mit teurem Whisky, zwei Kristallgläser, ein Wasserkrug. Ein alter Plattenspieler und mehrere Borde mit Vinyl, Klassik und Jazz. Nichts Tragbares.

Im Bad nahm er zwei Flaschen aus dem Schrank, Temazepam und Morphin. Barry würde das haben wollen. Er betrachtete die Toilettenartikel und überlegte, ob sie zu Hause irgendwas brauchten. Warf Zahncreme und Duschgel in den Kissenbezug.

Die beiden anderen Schlafzimmer waren praktisch leer. Tyler hatte recht gehabt, die erwachsenen Kinder waren ausgezogen. Im hinteren Zimmer fand er eine alte Nintendo DS und Spiele, sackte alles ein. Er erspähte das Ladegerät und nahm es ebenfalls mit. Manchmal gab es PlayStations oder Xboxes, aber nichts davon hier. In dem anderen Zimmer fand er eine alte Polaroidkamera mit zwei Päckchen unbenutzter Filme. Das konnte er nicht verkaufen, aber er nahm trotzdem alles mit. Vielleicht würde Bean Spaß daran haben.

Er war fertig und wenige Minuten später wieder unten.

Als er ins Wohnzimmer kam, hatte Barry seinen Schwanz draußen und pisste aufs Sofa. Kelly sah zu und lächelte.

»Scheiße, Mann«, sagte Tyler.

Es war nicht das erste Mal. In letzter Zeit legte Barry immer noch eins drauf.

»Was Gutes gefunden?«, fragte Barry und zog den Reißverschluss hoch.