Salamura - Eine abenteuerliche Pilzsuche im Balkan

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Salamura - Eine abenteuerliche Pilzsuche im Balkan
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Impressum

Salamura

Eine abenteuerliche Pilzsuche im Balkan

Donna Paula

Copyright: © 2013 Donna Paula

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-7147-8

Klein Sonnenschein und Göttergatte gewidmet

Anmerkung

Der nachfolgende Bericht beschreibt Vorgänge und Ereignisse, die sich ab 1998 zugetragen haben; zwei Jahre nach dem Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina. Diese Geschichte, sowie die darin vorkommenden Personen sind fast frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlich stattgefundenen Ereignissen sind reiner Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Klein Sonnenschein und Göttergatte gewidmet

Wie alles begann ...

Sarajevo zum Ersten ...

Hirnstürme

Sarajevo zum Zweiten

Puzzleteile

Holzkohle und Kräuterhexen

Unerwartetes

Der Beginn von unaufhaltsamen Katastrophen ...

Von Zahlen, zahlen und zählen

Salamura

Schmierige Vorgänge

Odyssee ins Millennium

Neustart

Frauenhelden und Durchbrüche

Sarajevo zum x-ten

Die 100‘000-Mark-Show

Alles neu macht der Mai ... oder der April ... oder?

Verzettelungen oder Visionen?

Zollfrei- und Bauchzonen

Geistesblitze

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt...

Wie alles begann ...

Es begann, als ich eines Morgens erwachte, aufstehen wollte, aber sogleich wieder zurück in die Kissen fiel. Schwindlig, schwer atmend, mit rasendem Puls! Als Erstes dachte ich, dass mir mein niedriger Blutdruck wieder zu schaffen machte, und bat Klein Sonnenschein, meinen damals 9-jährigen Sohn, mir doch den Kaffee ans Bett zu bringen. Klein Sonnenschein war sich dies gewohnt, denn die Mama hatte schon immer ein bisschen Mühe mit dem Aufstehen bekundet. Ich hörte unten die Kaffeemaschine rattern, und kurz darauf kam der Kleine strahlend lächelnd, wie ein Sonnenstrahl, und ganz vorsichtig, damit ja nichts überschwappte, mit der Tasse an mein Bett. Kaum setzte ich mich im Bett auf, kamen die Schwindel von Neuem, so stark, dass ich nicht einmal den Kaffee trinken konnte. Jetzt bekam ich aber Angst und bat Klein Sonnenschein, meine Nachbarin Christine zu holen.

Christine war die Quartierärztin schlechthin, wenn es um Vordiagnosen oder kleinere Blessuren ging. Auch war sie in der Lage, eingeklemmte Nerven und Muskeln innert Kürze wieder an ihren angestammten Platz zurückzubeordern. Ich solle was essen! Für mich die reinste Tortur, als Nichtfrühstückerin, ein halbes, trockenes Brötchen runterzuwürgen. Es wurde nicht besser. Bei jedem Versuch aufzustehen kamen die Schwindelattacken, als hätte ich drei Liter Rotwein getrunken. Obwohl ich keine Ahnung habe wie es war, wenn man zu viel Rotwein intus hat, denn ich habe noch nie einen Rausch gehabt, höchstens einen Schwips. Aber wenn das Erwachen nach einer durchzechten Nacht sich so anfühlte, dann würde ich auch in den nächsten Jahren sicher keine Besäufnisse veranstalten.

Klein Sonnenschein musste zur Schule und Christine erwartete Besuch. Ich hatte plötzlich Angst, alleine zu sein. Bekam Panik, glaubte wirklich, ich müsse sterben. Die wildesten Gedanken und Vorstellungen gingen mir durch den Kopf. Hirntumor! Oder sonst was Schlimmes! Klein Sonnenscheins Tagesmutter (ich war eine dieser Rabenmütter, die berufstätig sein mussten ...) blieb dann bei mir. Am Mittag kam eine Kollegin vorbei, die Beste in Fussreflexzonenmassage, bewaffnet mit einem Blutdruckmessgerät. 60 – 88. Tief genug, es musste doch der Blutdruck sein, also Bewegung. Mit grösster Mühe schaffte ich es, mich anzuziehen und mit den Frauen spazieren zu gehen. Es war ein strahlend schöner Tag und das Gehen ging einigermassen gut. Ach, bis am Abend würde es bestimmt vorbeigehen. Der Blutdruck konnte doch gar nicht solange unten bleiben, dachte ich. 22 Uhr. Bettruhe. Wieder Schwindel, Panik, Todesangst. Göttergatte, mein Angetrauter, hielt es nicht mehr aus und fuhr mit mir ins Nachbarstädtchen in die Notaufnahme. Den ganzen Weg heulte ich, ich wolle noch nicht sterben, ich sei noch viel zu jung …

In der Spitalaufnahme waren alle äusserst freundlich. Der diensthabende Arzt beruhigte mich, nein, ich würde nicht sterben, die Symptome würden ihn mehr an Gleichgewichtsstörungen erinnern. Das war es dann auch. Jedes Mal, wenn ich den Kopf in die Horizontale verlegte, drehte sich alles um mich herum. Ich durfte kein Auto lenken, keine schnellen Bewegungen mehr ausführen und keinen Sport mehr betreiben. Zumindest die nächsten sechs Wochen nicht. Ich gewöhnte mich daran, dass bei jeder Lageänderung mindestens eine halbe Minute verging, bis sich die losgelösten Gleichgewichtshärchen wieder beruhigten. Nur, wer machte nun den Haushalt, wer putzte?

Christine erwähnte früher mal, dass eine jugoslawische Flüchtlingsfrau bei uns im Dorf jede erdenkliche Arbeit suchte, um zu Geld zu kommen. Dies benötigte sie, weil sie in ihr Heimatland Bosnien zurückmusste. Ich fragte Christine, ob dem immer noch so sei, denn mein Haushalt leide an allen Ecken und Enden. Das Arbeiten am Bildschirm ging einigermassen und ich konnte wenigstens die Administration der Firma tätigen. Wir, d.h. Göttergatte und ich, besassen ein Ingenieurunternehmen.

Christine versprach mir, das nächste Mal mit Emina zu reden.

Zwei Tage später klingelte es an der Bürotür und die zwei Frauen standen draussen. Emina hatte ein sympathisches Lachen. Ich fragte sie, ob sie Zeit hätte, bei mir zu putzen, wenn ich ihr einen anständigen Stundenlohn bezahlen würde? Sie könne sofort anfangen.

Es war der Beginn, der Startschuss sozusagen, von etwas, das mein ganzes Leben verändern sollte. Nur ahnte ich das damals noch nicht...

Emina putzte mit einem Eifer, den ich bei meinen fünf vorangegangen Putzfrauen nie bemerkt hatte. Die erste war zwar sehr fleissig gewesen, fand aber bald eine Büroarbeit, die zweite war immer krank, bei der dritten musste ich nachputzen, die vierte benötigte für das Putzen des Backofens vier Stunden und die letzte war nicht in der Lage, selbständig von ihrem Domizil zu uns zu kommen, so dass mir das Chauffeur-Spielen schon die halbe Putz-Zeit raubte. Ich wollte nach diesen Missgriffen keine Raumpflegerin mehr, wie man das heute so vornehm ausdrückte, und versuchte den Haushalt selbst zu tätigen. Dies ging ganz gut, meiner Meinung nach jedenfalls.

Manchmal half ich Emina, und wir kamen ins Gespräch. Während den 6 Jahren, die sie nun in unserem Dorf als Flüchtlingsfamilie lebten, wurden sie von der Gemeinde und Organisationen unterstützt, damit es gerade reichte, um zu leben. Viel war es nicht. Möbel wurden im Brockenhaus gekauft. Fahrräder für die Kinder gab es nicht. Ich suchte alle erdenklichen Arbeiten zusammen, um Emina zu beschäftigen. Vom Räumen des Kellers bis zum Einpacken der Prospekte für den Versand, Emina machte einfach alles. Wenn ich sie fragte, ob das nicht zu schwer oder zu anstrengend für sie sei, lachte sie nur, stand hin, stemmte ihre Arme in die Hüften und sagte: „Ich starke bosnische Frau!“

An einem Frühsommernachmittag tranken wir Kaffee auf der Terrasse. Ich konnte sie nur dazu bewegen, sich diese Pause zu gönnen, weil Christine sich auch dazu gesellte. Ich fragte Emina, wie sie in die Schweiz gekommen sei? Und dann erzählte Emina. Alles kam aus ihr heraus, ohne Hass, fast ohne Emotionen, in einer Tonart, als würde sie uns von einer ganz normalen Wanderung erzählen und doch lief mir ein Schauer nach dem andern über den Rücken.

Modrica, dort wohnte Emina mit ihrem Mann Mirsad. In einem schönen Haus, zwei Kinder. Adisa war damals, 1993, 8 Jahre alt und Jasmin noch keine 2. In der Schule hier nannte er sich Jasko, weil Jasmin in der Schweiz ein Mädchenname war. Emina erzählte, wie sie schon als 13-jähriges Mädchen für sich und ihre jüngere Schwester sorgen musste, weil ihr Vater in einem Anfall von Schizophrenie ihre Mutter mit einem Küchenmesser erstochen hatte. Er kam in eine „Klinik“. Sie war 16, Mirsad 18, als sie heirateten. Mirsad verlor seine Mutter ebenfalls früh und sein Vater heiratete eine andere Frau, die nur auf das Vermögen, sprich das Haus des Vaters aus war. Mirsads Anwesenheit störte die Stiefmutter. Er sollte so schnell wie möglich das Elternhaus verlassen. Dem jungverheirateten Paar gab niemand eine Chance, was ein grosser Irrtum war! Die beiden sind seit 16 Jahren glücklich verheiratet. Selbst Muslime (Sunnit, kein Kopftuch), wohnten sie in einem Quartier befreundet mit Serben zusammen, die wie wir Katholiken und Protestanten waren. Ihre Nachbarin, eine Serbin, war Eminas beste Freundin.

 

Eines Tages sei das jugoslawische Militär gekommen und hätte in jedes serbische Haus eine Kiste gebracht. Tags darauf sagte ihr der serbische Nachbar, dass es vielleicht besser sei, das Dorf für einige Tage zu verlassen, er würde nichts Gutes ahnen, es würden hier merkwürdige Dinge geschehen. Emina nahm eine Tasche mit Kleidern für zwei, drei Tage und ging mit den Kindern ins Nachbardorf zu einem Onkel. In der Nacht musste in ihrem Dorf dann etwas passiert sein, was genau, verstand ich nicht. Weder ich noch Christine trauten uns, Emina zu unterbrechen. Sie erzählte weiter, sagte, dass die Serben alle muslimischen Bewohner umgebracht hätten, dass ihr Nachbar sie anrief, sie könne nicht zurückkommen, sie solle noch ein paar Tage warten. Und dann, nach ein paar Tagen, bat er sie zu fliehen, sie könne nicht zurück.

Ihr Mann Mirsad arbeitete damals in einer Raffinerie als Hydrauliker ganz in der Nähe von Modrica. Auf dem Nachhauseweg erfuhr er von Freunden, dass seine Familie bei einem Onkel war. Kaum war er dort angekommen, flüchtete die ganze Familie in einem Lastwagen. Sie wollten nach Sarajevo, da der Fahrer, ein Cousin von Emina, Mehl in diese Stadt bringen musste. Aber ständig mussten sie umkehren und wieder einen neuen Weg suchen, da der gewählte Weg vom Militär versperrt war. Zwei Tage und zwei Nächte sassen sie im Lastwagen. Hatten Hunger, nicht viel zu essen. Adisa wollte nichts essen, da Jasmin an einer Lebensmittelallergie litt und Spezialnahrung brauchte. Sie wollte lieber hungern, als dass der kleine Bruder sterben würde.

Nahe der kroatischen Grenze kamen sie in ein Sportstadion, das zum Flüchtlingslager umfunktioniert worden war. Emina hatte vom langen unbeweglichen Sitzen blaue Flecken am Rücken. Als Familie mit Kindern unter zwei Jahren hatten sie das „Privileg“ einen Raum für sich zu bekommen. Rauszugehen war verboten oder man durfte nicht mehr zurückkehren. Eines Tages sagte Mirsad zu Emina: „Komm, lass uns weggehen, ich habe ein komisches Gefühl, als ob etwas passieren würde.“ Einen Tag später schlug eine Granate im Stadion ein und tötete 64 Menschen, sagte Emina. Sie gingen in Richtung kroatische Grenze. Dort wurden sie von den Kroaten zurückgeschickt. Es muss eine grosse Menschenmenge gewesen sein, dort, wo sie sich befanden. Emina hörte aus einem Lautsprecher (es war die Caritas Schweiz), dass Mütter mit Kindern, die in die Schweiz wollten, sich dort und dort zu melden hätten. Emina ging mit Adisa und Jasmin hin. Mirsad war in diesem Moment nicht bei der Familie. Ich hatte Emina nicht verstanden, was er gerade tat.

Sie könne dort mit den Kindern in den Bus einsteigen. Aber sie hätte keine Papiere bei sich. (Zum ersten Mal wurde mir klar, weshalb es möglich war, dass Flüchtlinge keine Papiere auf sich trugen). Und ihr Mann sei nicht da. Ja, sie müsse einsteigen, wenn sie mitwolle, der Bus fahre nächstens ab. Sie bat die Caritas, ihrem Mann auszurichten, dass sie in die Schweiz gefahren sei. Eine Minute vor Abfahrt gelang es Mirsad, Emina über ein Telefon zu erreichen. Emina konnte ihm gerade noch sagen, dass sie mit den Kindern in die Schweiz ging. Sie kam in ein luzernisches Dorf, zusammen mit anderen Flüchtlingsfamilien.

Mirsad versuchte nun auf eigene Faust über Kroatien, Ungarn und Österreich in die Schweiz zu gelangen. Die ganze Flucht sollte drei Monate dauern ... An der kroatischen Grenze dasselbe wie zuvor. Man liess ihn nicht durch, schickte ihn zurück. Einige Männer taten sich zusammen und überredeten auch andere, dass sie allesamt geschlossen an die kroatische Grenze marschieren sollten. Sie waren überzeugt, dass die Kroaten nicht schiessen würden, wenn einige hundert oder tausend Männer auf den Grenzposten zugehen würden. Es war so. Die Männer durften nach Kroatien, aber man machte ihnen überall deutlich, dass sie unerwünscht waren. Einmal wollte man die Männergruppe überreden, in einen Zug zu steigen, der sie an ihr gewünschtes Ziel bringen würde. Diejenigen, die einstiegen, wurden nach Bosnien zurückgebracht. Die anderen wussten nicht, was aus ihnen geworden war. Mirsad ging zu Fuss weiter an die ungarische Grenze, überquerte diese in der Nacht. Der Gefahr war er sich bewusst, aber es war ihm egal, ob er nun von den Kroaten oder von den Ungaren erschossen wurde.

Ob nun aus Ungarn oder Kroatien, wusste Emina nicht mehr, aber auf jeden Fall fand Mirsad eine Gelegenheit, Emina anzurufen, er hatte durch Verwandte herausgefunden, wo sie war. Mirsad sagte ihr: „Wir haben doch abgemacht, dass wir an unserem 10. Hochzeitstag ins Ausland gehen. Heute ist dieser Tag und wir sind beide im Ausland, einfach nicht zusammen.“ Emina lachte, als sie uns das erzählte.

Als Flüchtling bekam sie in der Schweiz pro Tag ein paar Franken Taschengeld. Sie hatte das alles gespart. Mirsad hatte kein Geld mehr. Emina schickte von ihr gespartes und von anderen Frauen geliehenes Geld an eine Tante in Wien. Diese sorgte dafür, dass Mirsad von Wien aus (wie er dorthin gekommen war, entzieht sich meiner Kenntnis) mit dem Zug in die Schweiz fahren konnte. Mirsad fuhr die ganze Nacht und kam in Buchs an. Dort war gerade ein kirchlicher Feiertag, die Büros der zuständigen Fremdenpolizei waren geschlossen. Die Polizei schickte ihn zurück. Mirsad konnte sich nicht verständigen, nicht sagen, dass seine Frau schon hier war. Er versuchte es am nächsten Tag erneut. Ein Albaner, der Bosnisch und Deutsch sprach, half ihm weiter. Mirsads Geld reichte gerade bis nach Zürich. Er hatte keine Ahnung, wo das luzernische Dorf war. Emina konnte ihm nur sagen, dass er nach Luzern fahren müsse. Einer Mazedonierin fiel Mirsad auf. Sie fragte ihn, was los sei. Mirsad sagte, dass er nach seiner Flucht aus Bosnien nach Luzern müsse, seine Frau warte dort auf ihn. Die Frau bezahlte Mirsad das Zugbillet nach Luzern. Die Caritas Luzern holte Mirsad vom Bahnhof ab und obwohl von Emina mehr schlecht als recht beschrieben, erkannten sie ihn schon von Weitem. Endlich das ersehnte Wiedersehen mit der ganzen Familie. Das hiess – Jasmin hatte Angst vor seinem Vater, er erkannte ihn nicht mehr ... Die dunkelbraune Lederjacke sei weiss gewesen, der vorher eher zu Übergewicht neigende Mirsad nun gertenschlank. Emina erzählte mir, wie sie um das Leben von Mirsad gebangt hatte, anderen Frauen sei es egal gewesen, was mit ihren Männern passiert war. In der Schweiz hatte Emina zum ersten Mal seit Monaten Gelegenheit, wieder in einen Spiegel zu gucken. Sie erschrak, denn sie hatte praktisch über Nacht graue Haare bekommen. Emina war erst 33 Jahre alt, sah aber 10 Jahre älter aus.

Diese Erzählungen dauerten vielleicht zwei oder drei Stunden. Christine und ich sagten nichts mehr. Emina klopfte auf ihre Oberschenkel, lachte, und meinte dann, dass sie nicht hier sei zum Kaffeetrinken, sondern zum Arbeiten.

Diese Nacht konnte ich nicht schlafen. Zu sehr beschäftigte mich die Geschichte Eminas. Nicht nur das. Es musste unzählige Flüchtlinge mit ähnlichen Schicksalen gegeben haben. Vom Bosnien-Krieg hatten wir natürlich im Fernsehen gehört und wir kannten nun ein einziges Schicksal. Und all die anderen, diejenigen, die nicht das Glück hatten, fliehen zu können, Teile der Familie verloren hatten? Die Schreckensnachrichten, die uns in dieser Form vom TV übermittelt wurden, gingen nur noch Wenigen unter die Haut. Man war froh, soweit weg zu sein. Und Bosnien. Wo war das nun genau...? Mir ging’s unter die Haut, nein, noch viel tiefer.

Am nächsten Morgen klingelte ich bei Christine. Wir schauten einander an. Ich fragte sie: „Hast du auch so schlecht geschlafen?“ „Ja, ich hab fast kein Auge zugetan. Es ging mir zu sehr an die Nieren“, antwortete sie.

In den kommenden Tagen versuchten wir Emina so viel wie möglich mit bezahlter Arbeit zu beschäftigen. Wir räumten im ganzen Quartier alle Kleiderschränke und transportierten Möbelstücke, die wir leicht entbehren konnten, in ihre Wohnung, hier in unserem Dorf. Schon bald war das ganze Wohnzimmer überstellt mit Kartons voller Küchenartikel, Bettwäsche, Decken und vielem mehr. Ich merkte an den Telefonaten, die mich erreichten, dass die Familie Serlan (so hiessen sie) sehr beliebt war in unserem Dorf.

Mirsad erzählte mir, dass er gearbeitet, aber nicht alles Geld bekommen hätte. Ein Baumkanter, so der Name des Arbeitgebers, der sei aus der Gegend hier. Er hatte im Akkord betoniert und nannte mir den Stundenlohn, den er vereinbart hatte. Es war gleich viel, wie Emina von uns fürs Putzen bekam. Aber es war Schwerstarbeit. Mirsad hatte gesehen, dass sein Arbeitgeber Geld „unter dem Tisch“ angenommen hatte. Es waren nicht immer Ausländer, die ausnützen, wie viele unserer ach so stolzen Nationalisten uns glauben machen wollten. Hier war es ein Schweizer, der ganz schamlos die Unkenntnis der Rechtslage dieser Leute ausnützte. Nach einigen Nachforschungen brachte ich heraus, dass Baumkanter eine GmbH in der nächsten grösseren Stadt besass. Seine Telefonnummer bekam ich von Mirsad. Ich versprach ihm, mich um die Sache zu kümmern und Baumkanter anzurufen. Mirsad hatte nicht mehr viel Zeit, denn in 14 Tagen reiste die Familie nach Bosnien zurück, ihre eigentliche Heimat. Aber sie mussten nach Sarajevo, denn in ihr Haus, obwohl im Krieg unbeschädigt geblieben, wie die serbische Nachbarin Emina versicherte, konnten sie nicht zurück. Erstens stand Modrica nun in der Republik Srbska, dem serbischen Teil Bosniens, und zweitens war ihr Haus von Flüchtlingen bewohnt, die das umgekehrte Drama erlebt hatten. Serben, die nicht zurück konnten.

Ich rief Baumkanter an. Er war überaus freundlich. Ja, natürlich würde er Mirsad bezahlen, ihm das Geld vorbeibringen, ganz klar, gleich morgen würde er ihn anrufen. Baumkanter rief nicht an. Nicht an jenem Tag und auch die folgenden Tage nicht. Wenn Mirsad anrief, nahm er nicht ab. Bei meinen Telefonaten auch nicht mehr. Wir versuchten es, indem wir mit anderen Telefonapparaten anriefen. Da meldete er sich, wieder die gleiche Freundlichkeit, ich erklärte ihm, dass die Familie auf dieses Geld angewiesen sei, um bei ihrer Rückkehr überhaupt leben zu können, und zudem sei ihm die rechtliche Lage ja sicher klar? Aber sicher würde er bezahlen. Er werde Mirsad anrufen. Das würde leider nicht gehen, denn Serlans hätten ihr Telefon heute bei der zuständigen Stelle abgemeldet. Ok, er werde um 18 Uhr abends bei Serlans vorbeigehen. Er ging nicht vorbei. Jetzt rief Göttergatte an: Baumkanter verlor nun das gute Benehmen und beschimpfte Göttergatte mit einem Ausdruck, den wir als Ausgang für unsere persönlichen „Kläranlage“ verwendeten ... Endlich willigte er ein, Göttergatte zu treffen, um ihm das Geld zu übergeben. Am frühen Morgen um 6 Uhr. Nein, er solle es den Serlans bringen, das Geld gehöre ihnen. Natürlich erschien er auch diesmal nicht. Mirsad reiste um 2 Uhr nachts mit dem Möbelwagen ab, in eine neue Ungewissheit. Um 6 Uhr klingelte Baumkanter bei Emina. Ob Mirsad da sei? Scheinheilige Frage, er wusste genau, dass Mirsad abgereist war. Emina versprach er, um 18 Uhr abends das Geld zu bringen. Nun schaltete sich Christines Mann ein. Er war Treuhänder und sich im „harschen“ Umgang mit Geld gewohnt. Er erklärte Baumkanter, dass Serlans die letzten zwei Nächte bei uns verbringen würden, da sie die Wohnung heute abgegeben hatten. Baumkanter versprach, das Geld zu uns zu bringen. Wir wussten schon im Voraus, dass er nicht kommen würde. Mirsad hatte mir vorsorglich eine Vollmacht hinterlassen, damit ich alle erdenklichen Schritte in die Wege leiten konnte.

Wir alle im Quartier verbrachten noch einen herrlichen Sommertag im Garten mit Grilladen. Diesmal verwöhnten wir Emina und ihre Kinder, denn sie hatte vor ein paar Tagen fast den ganzen Morgen in der Küche zugebracht, um uns Pita, eine typisch bosnische Spezialität, eine Art Strudelteig, die mit Eier-Käsegemisch, Hackfleisch und Spinat gefüllt wurde, zu backen. Es schmeckte herrlich!

Als es darum ging, das Abreisedatum zu nennen, hatte ich Emina gefragt, wie sie zurückreisen würden. „Mit Bus. Caritas zahlen pro Person 150.- CHF.“ Das sei aber eine lange Reise. Ja, sie wisse es. Ich rief bei meinem Reisebüro an, das unsere Flüge und Reisen für die Firma buchte und bearbeitete. Ich erzählte der Geschäftsführerin kurz die Umstände, fragte sie, was die Flugkosten für eine erwachsene Person, ein Kind über 12 Jahre und eines darunter sei. Eine halbe Stunde später rief sie zurück, die Fluggesellschaft würde Spezialtarife machen, da es sich um Rückkehrende handle, die nichts dafür könnten, dass sie zurück mussten. Es war ein gutes Angebot. Nach Rücksprache mit Emina, die aus allen Wolken fiel, sich aber freute, nicht die mühsame Busreise antreten zu müssen, buchten wir die Flüge auf den 22. Juli 1998.

 

Alle kamen mit auf den Flughafen. Es herrschte bedrückte Stimmung. Auf beiden Seiten flossen Tränen. Sie mussten die Schweiz verlassen, in der sie sechs Jahre gelebt hatten, zurück in eine Zukunft, von der sie nicht wussten, ob es eine war. Bei mir dieselbe Beklemmung. Der Verstand sagte zwar, dass sie zurück mussten, aber mein Herz war schwer. Ich mochte Emina. Sie nannte mich ihre dritte Schwester ... Christine und ich versprachen, sie zu besuchen, sobald wir konnten. Emina versprach, mich anzurufen, sobald sie angekommen seien.

Auf der Rückfahrt begann Klein Sonnenschein zu weinen, denn zu oft hatte er mit Jasmin auf dem Schulhausplatz Rollhockey-Turniere gespielt. Um 17 Uhr klingelte mein Mobiltelefon. Emina war in Sarajevo. Alle waren zum ersten Mal geflogen. Wenigstens ein Positiverlebnis, das sie mitnehmen konnten, aber sonst war beklemmende Stille am Telefon. Der Flughafen in Sarajevo sehe schrecklich aus...

Ach ja, prozessfreudig und gerechtigkeitssüchtig wie ich war, hatte ich Baumkanter bis vor das Arbeitsgericht gezogen und sogar recht bekommen. Das Urteil konnte ich allerdings einrahmen und aufhängen. Ebenso den Schuldbrief. Baumkanters GmbH ging kurz nach Mirsads Abreise in Konkurs. Ebenso musste er wenig später Privatkonkurs anmelden. Mirsad hatte das Geld von mir bekommen, mir war dies die Gerechtigkeit wert. Prozess- und Anwaltskosten entstanden für mich keine, mein Hausanwalt hatte den Fall für mich aus Freundschaft behandelt.