Eine illegitime Kunst

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Bourdieu/Boltanski/Castel Chamboredon/Lagneau/Schnapper Eine illegitime Kunst Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie

Aus dem Französischen übersetzt von Udo Rennert

CEP Europäische Verlagsanstalt

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014

ISBN 978-3-86393-525-2

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Vorwort

Pierre Bourdieu Einleitung

Teil I

1. Kapitel Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede

2. Kapitel Pierre Bourdieu, Die gesellschaftliche Definition der Photographie

Teil II

1. Kapitel Robert Castel/Dominique Schnapper Ästhetische Ambition und gesellschaftliche Ansprüche

2. Kapitel Luc Boltanski, Die Rhetorik des Bildes

3. Kapitel Gérard Lagneau, Optische Tricks und Gaukelspiel

4. Kapitel Jean-Claude Chamboredon, Mechanische, unkultivierte Kunst

5. Kapitel Luc Boltanski/Jean-Claude Chamboredon, Fachwissen oder Begabung?

Teil III

Robert Castel, Bilder und Phantasiebilder

Anhang

Anmerkungen

Für Raymond Aron

Vorwort

Es wäre ein leichtes, in diesem Vorwort nicht mehr zu sehen als ein Zugeständnis an ein Ritual, obschon es, genaugenommen, mit einem Ritual bricht. Es legt einen Sachverhalt offen, von dem man wohl eher erwartet hätte, daß er unerwähnt bleiben würde: Das vorliegende Buch enthält die Ergebnisse einer Untersuchung, die im Auftrag von Kodak-Pathé durchgeführt worden ist. Wer sich darüber wundern sollte, dem vermag allein das Buch selbst Aufklärung zu geben.

Dieses Unternehmen ist mir zunächst wie eine Herausforderung erschienen, der es gelingen könnte, zwei Parteien dazu zu zwingen, das Bild in Frage zu stellen, das jede sich von der anderen gemacht hat. Zweifellos trug der Umstand, daß das Thema für den Soziologen so ungewöhnlich wie für den Fachmann abgedroschen war, paradoxerweise erheblich zum Gelingen des Projekts bei. In der Absicht, alles über den Gegenstand zu erfahren, über den er etwas mitteilen wollte, konnte der Fragesteller zwischen ironischem Zweifel und distanzierter Neugier in der Schwebe verharren. Das versetzte ihn in die Lage, sich dem ungewohnten Rhythmus der Untersuchung anzupassen, und er konnte deren mittelbare und interessenunabhängige Ziele besser verstehen. Aufgefordert, einen Gegenstand ernst zu nehmen, den er – verleitet durch seine Denkgewohnheiten – für belanglos gehalten hatte, frei von den Zwängen eines theoretischen Denkens, das sich den sanktionierten Disziplinen unterwirft, konnte der Forscher eine bislang ungekannte Freiheit wahrnehmen, weil er sich, befreit von den Normen intellektueller Produktivität, auch befreit sah von der Sorge um die Rentabilität seiner wissenschaftlichen Arbeit.

Es versteht sich von selbst, daß dies für sich allein genommen den Erfolg noch nicht garantierte. Und wenn der Erfolg sich nur einem außergewöhnlichen Zusammentreffen von Umständen verdankte, dann hätte er auch nicht diesen exemplarischen Wert. Es geht nicht darum, die Auftraggeber von empirischen Analysen mit frisierten Ergebnissen zufriedenzustellen, sondern darum, auf die Hindernisse aufmerksam zu machen, die sie zu überwinden haben, und auf die Verpflichtungen, die sie eingehen müssen. Sie müssen sich mit Antworten begnügen können, und zwar mit denen, die der Soziologe zu geben vermag. Nichts gleicht weniger einer Sammlung von Rezepten, die den Erwartungen des Praktikers entspräche, als das von der Wissenschaft begründete System allgemeiner Aussagen oder zumindest von Aussagen, die von dem Willen, Allgemeingültigkeit zu erlangen, geleitet sind. Die bloße Existenz eines solchen Werkes setzt bereits die Kritik an dem traditionellen Umgang mit Mitteilungen voraus. Solange wir in der Alternative von Öffentlichkeit und Heimlichkeit befangen sind, verbauen wir uns den Zugang zu einer Vorstellung von wissenschaftlicher Veröffentlichung, die die aufgedeckte Wahrheit vor der Gefahr einer Monopolisierung schützt, und zwar gerade durch die Universalität ihrer Verbreitung.

Philippe de Vendeuvre

Pierre Bourdieu
Einleitung

Die Praxis der Photographie und die Bedeutung des photographischen Bildes – können und müssen sie zum Thema soziologischer Forschung werden? Es waren Gedanken Max Webers, die der Vorstellung Gewicht verliehen, daß der Wert eines Forschungsgegenstandes vom Interesse des Forschers abhängt. Dieser nüchterne Relativismus läßt zumindest den Schein einer selbstgewählten Interaktion zwischen dem Forscher und seinem Objekt bestehen. Freilich ließen noch die unzulänglichsten Methoden der Wissenssoziologie erkennen, daß in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten die legitimen Untersuchungsgegenstände einer hierarchischen Ordnung unterliegen. Muß die Soziologie, Erbin einer Tradition der politischen Philosophie und der Theorie sozialen Handelns, den Entwurf einer Anthropologie anderen Disziplinen überlassen, und darf sie unter Beschränkung auf die allgemeinsten und abstraktesten Bedingungen menschlicher Erfahrungen und Handlungen jene Verhaltensweisen als belanglos verwerfen, deren geschichtliche Bedeutung nicht unmittelbar einleuchtet?

Es genügt ja keineswegs, Soziologie der Soziologie zu betreiben, um deutlich zu machen, daß sich nur allzu oft hinter ihren ehrgeizigen Vorhaben ein immenser Verzicht verbirgt. Zweifellos ist es die nämliche grundsätzliche Intention, die dazu führt, daß aus der Wissenschaft einerseits bestimmte, für bedeutungslos erachtete Gegenstände verbannt und daß andererseits unter dem Vorwand der Objektivität die Erfahrungen jener, die sie betreiben, sowie derer, die ihren Gegenstand ausmachen, verdunkelt oder ausgeschlossen werden.

Man macht es sich zu leicht, wenn man jeden Versuch, die Erfahrungen der handelnden Subjekte in eine objektive Deskription wiedereinzuführen, dadurch in Mißkredit bringt, daß man diese methodologische Forderung mit jenen Versionen einer petitio principii in eins setzt, die gewisse Verteidiger geheiligter Rechte der Subjektivität den Sozialwissenschaften entgegenhalten, ohne gewahr zu werden, daß sie der methodologischen Entscheidung, »die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten«, ihre entscheidenden Fortschritte verdanken.

Im übrigen ist es durchaus verlockend, die Vorstellung einer allgemeinen Anthropologie zurückzuweisen, da diese ordnende Vorstellung ja durchaus als ein unerreichbares Ideal erscheinen muß: Tatsächlich weicht der Punkt immer weiter zurück, von dem aus der Soziologe in einem einheitlichen, umfassenden Zugriff die objektiven Verhältnisse, deren er allein um den Preis einer abstrakten Konstruktion habhaft werden kann, sowie die Erfahrung erschließen könnte, in der diese Verhältnisse wurzeln und ihre Bedeutung gewinnen.

Der subjektivistische Intuitionismus, der den Sinn in der Unmittelbarkeit des Erlebten zu finden hofft, verdiente nicht einen Augenblick Gehör, diente er nicht dem Objektivismus als Alibi, einem Konzept, das sich damit begnügt, regelhafte Beziehungen festzustellen und deren statistische Signifikanz zu überprüfen, ohne deren Bedeutung zu entziffern, und das ein abstrakter und formaler Nominalismus bleibt, solange ihm das unerläßliche Moment der Objektivierung als unüberschreitbare Schranke gilt. Sollten der Umweg über die Feststellung statistischer Regelmäßigkeiten und die Formalisierung wirklich der Preis sein, den man für den Bruch mit der naiven Vertrautheit und den Illusionen des unmittelbaren Erlebnisses zu entrichten hat, so hieße das, das anthropologische Projekt zu leugnen, d. h. den Versuch aufzugeben, die verdinglichten Bedeutungen zurückzuerobern anstatt die kaum wiedergewonnenen Bedeutungen in der Abstraktion zu verdinglichen.

Die Soziologie hat die Überwindung der fiktiven Opposition, wie Subjektivisten und Objektivisten sie willkürlich entstehen lassen, zu ihrer Voraussetzung. Soziologie als objektive Wissenschaft ist deshalb möglich, weil es äußere, notwendige und vom individuellen Willen unabhängige Beziehungen gibt, die, wenn man so will, unbewußt sind (in dem Sinne, daß sie sich nicht der einfachen Reflexion erschließen) und sich nur über objektive Beobachtung und Experiment dingfest machen lassen – anders ausgedrückt, weil die Subjekte nicht über die ganze Bedeutung ihres Verhaltens als unmittelbares Datum des Bewußtseins verfugen, und weil ihr Verhalten stets mehr an Sinn umfaßt, als sie wissen und wollen; weil die Soziologie keine rein reflexive Wissenschaft sein kann, die einzig durch Rückgriff auf die subjektive Erfahrung zur absoluten Gewißheit gelangt, und weil sie zugleich eine objektive Wissenschaft des Objektiven (und des Subjektiven), d.h. eine experimentelle Wissenschaft ist. Und die Erfahrung ist, in den Worten Claude Bernards, »die einzige Mittlerin zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven«.1 »Der Experimentator, der sich Naturerscheinungen gegenübersieht«, heißt es bei Bernard weiter,

 

»gleicht einem Zuschauer, der eine stumme Szene beobachtet. Er ist in gewisser Weise der Untersuchungsrichter der Natur; allerdings, statt sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die versuchen, ihn mit wahrheitswidrigen Geständnissen oder falschen Aussagen zu täuschen, hat er es mit natürlichen Phänomenen zu tun, die für ihn Personen sind, von denen er weder die Sprache noch die Sitten oder die Lebensverhältnisse kennt und deren Intentionen er dennoch erfahren möchte. Zu diesem Zweck bedient er sich aller Mittel, die ihm zu Gebote stehen. Er beobachtet ihre Wirkungen, ihren Ablauf und ihre Manifestationen und versucht, deren Ursache mit Hilfe unterschiedlicher Versuche herauszufinden, die als Erfahrungen bezeichnet werden. Er bedient sich sämtlicher vorstellbarer Kunstgriffe, behauptet sozusagen das Falsche, um die Wahrheit zu erfahren, und unterschiebt der Natur seine eigenen Anschauungen. Er stellt Vermutungen an über die Ursache der Vorgänge, die sich vor ihm abspielen, um herauszufinden, ob die seiner Deutung zugrunde liegende Hypothese richtig ist, und er richtet es so ein, daß Ereignisse eintreten, die nach der logischen Ordnung der Dinge als Bestätigung oder Widerlegung der Vorstellung dienen können, die er sich gemacht hat«.2

Diese Beschreibung der Verfahrensweise des Experimentators, der sich der natürlichen Welt nähert wie der Ethnologe einer Gesellschaft, deren Kultur er nicht kennt, gilt in groben Zügen auch für die soziologische Forschung. Ob er »Intentionen« ausfindig zu machen sucht (ganz im Sinne Bernards, d.h. objektive Intentionen), die hinter objektiven Indikatoren verborgen liegen, oder ob er das Falsche behauptet, um die Wahrheit zu ermitteln, und über indirekte Fragen die Antwort auf seine wirklichen Fragen erhalten möchte, auf die die einzelnen Subjekte, dazu gebracht, sich selbst statt andere zu täuschen, bloß indirekt antworten können und ohne sich ihrer Antwort bewußt zu sein, oder ob er die in den Regelmäßigkeiten, die ihm die Statistik als Rohdaten liefert, verschlüsselte Bedeutung entziffert – die Arbeit des Soziologen zielt auf die Wiedergewinnung eines objektivierten Sinns, das Produkt der Objektivierung der Subjektivität, das sich weder dem praktisch Tätigen noch dem Beobachter jemals unmittelbar erschließt.

Doch im Unterschied zur Naturwissenschaft kann sich eine allgemeine Anthropologie nicht mit der Rekonstruktion objektiver Beziehungen zufriedengeben, da die Erfahrung der Bedeutung dieser Beziehungen zum vollständigen Sinn dieser Erfahrung dazugehört: Selbst eine Soziologie, auf die nicht der geringste Verdacht des Subjektivismus fällt, bedient sich vermittelnder Begriffe zwischen Subjektivem und Objektivem wie Entfremdung, Einstellung oder Ethos. So ist es ihre Aufgabe, jenes System von Beziehungen zu konstruieren, das sowohl den objektiven Sinn der nach feststellbaren Regelmäßigkeiten organisierten Verhaltensformen als auch die einzelnen Beziehungen umschließt, welche die Subjekte zu ihren objektiven Existenzbedingungen und dem objektiven Sinn ihres Handels unterhalten, einem Sinn, dessen Objekt sie sind, nachdem man sie seiner beraubt hat.

Anders gesagt, die Deskription der objektivierten Subjetivität verweist auf die Deskription der Verinnerlichung der Objektivität. Die drei Momente des wissenschaftlichen Vorgehens sind daher unauflöslich miteinander verknüpft: Die unmittelbare Erfahrung, deren man über Äußerungsformen habhaft wird, die den objektiven Sinn ebensosehr verschleiern, wie sie ihn enthüllen, verweist auf die Analyse von objektiven Bedeutungen und gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit dieser Bedeutungen, eine Analyse, die wiederum die Konstruktion der Beziehung zwischen den Handlungssubjekten und dem objektiven Sinn ihrer Verhaltensformen erfordert.

Zum Beweis, daß es sich dabei nicht um eine petitio principii, sondern um eine theoretisch begründete methodische Forderung handelt, mag ein Beispiel genügen. Die Statistik erfaßt objektiv das System der Chancen, die objektiv mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe verbunden sind, gleichgültig, ob es dabei um die Chance einer festen Anstellung eines algerischen Subproletariers geht, der weder eine Qualifikation noch eine Schulbildung nachweisen kann, oder um die Chance der Tochter eines Arbeiters, in die juristische oder medizinische Fakultät aufgenommen zu werden. Eine solche Statistik bleibt indes so lange abstrakt und gleichsam unwirklich, als man nicht weiß, wie diese objektive Wahrheit (die niemals unmittelbar greifbar ist) sich in der Praxis der Subjekte umsetzt: Selbst wenn auf den ersten Blick deren Verhalten und sprachliche Äußerungen eine Zukunft, die in den objektiven Bedingungen objektiv beschlossen liegt, Lügen strafen, so erweist sich ihre ganze Bedeutung erst dann, wenn man sich klarmacht, daß sie den praktischen Hinweis auf diese Zukunft implizieren. Beispielsweise entwickeln Subproletarier gelegentlich magische und phantastische Hoffnungen, die aber der objektiven Wahrheit ihrer Lage nur scheinbar widersprechen, da sie jene Zukunftsperspektive charakterisieren, die Menschen eigentümlich ist, die keine objektive Zukunft haben; beispielsweise kann die Tochter eines Arbeiters oder Bauern, für die die Statistik ausweist, daß ihre Rückstufung in der philosophischen Fakultät sie das höhere Lehramt gekostet hat, ihr Studium durchaus als Erfüllung einer »Berufung« erleben, obgleich ihre praktischen Tätigkeiten, vor allem in ihrer Modalität, einen praktischen Konnex mit der objektiven Wahrheit ihrer Lage und ihrer Zukunft verraten.3 Der Klassenhabitus ist nichts anderes als diese Erfahrung (im allgemeinsten Sinne), die gerade diese Hoffnung oder jene Ambition unmittelbar als vernünftig oder unvernünftig erscheinen läßt, dieses Konsumgut als erschwinglich oder unerschwinglich oder ein bestimmtes Verhalten als passend oder unpassend. Kurz, eine allgemeine Anthropologie muß in eine Analyse des Prozesses münden, über den die Objektivität in der subjektiven Erfahrung und durch diese verankert wird: Sie muß das Moment des Objektivismus überwinden, indem sie es aufnimmt und in einer Theorie der Entäußerung der Innerlichkeit und der Verinnerlichung der äußeren Lage begründet.

Es deutet also alles darauf hin, daß der Schlagschatten der objektiven Bedingungen stets auch auf das Bewußtsein fällt: Der unbewußte Verweis auf objektive Determinismen gehört mit zu den Determinismen, die in die Praxis eingreifen und die einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung der Komplexität einer Subjektivität verdanken, die deren Stempel trägt und ihrem Einfluß unterliegt. So bleibt die Wissenschaft von den objektiven Regelmäßigkeiten so lange abstrakt, als sie die Wissenschaft von den Prozessen der Verinnerlichung der Objektivität, in deren Verlauf sich die Systeme unbewußter und dauerhafter Dispositionen wie Klassenhabitus und Klassenethos ausbilden, aus ihrem Gesichtsfeld verbannt; sie bleibt abstrakt, solange sie nicht untersucht, in welcher Weise die tausend »kleinen Wahrnehmungen« des Alltags und die gleichgerichteten und unausgesetzten Sanktionen des ökonomischen und gesellschaftlichen Universums unmerklich von Kindheit an und das ganze Leben lang durch unablässige Mahnungen dieses »Unbewußte« ausgestalten, dessen Charakteristikum – paradox genug – der praktische Rekurs auf objektive Bedingungen ist.

Es sollten die Wissenschaften vom Menschen der Philosophie den Streit um die Scheinalternative überlassen zwischen einem Subjektivismus, der darauf beharrt, den Entstehungsort einer schöpferischen, auf Strukturdeterminismen nicht weiter reduzierbaren Handlung aufzusuchen, einerseits und einem objektivistischen Panstrukturalismus andererseits, der durch eine Art von theoretischer Parthenogenese die Strukturen unmittelbar von den Strukturen selbst aus zu erzeugen beansprucht und dessen ›Wahrheit‹ sich am ehesten dort verrät, wo er in den Idealismus allgemeiner Gesetze der Ideologie umschlägt und unter dem Deckmantel einer materialistischen Terminologie die Weigerung verbirgt, die symbolischen Ausdrücke mit den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Hervorbringung in Zusammenhang zu bringen. Das notwendige, aber noch abstrakte Moment des methodischen Objektivismus gebietet dessen Überwindung: Wer der Konstruktion objektiver Beziehungen die Konstruktion von Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren und diesen objektiven Beziehungen opfert oder das Problem des Verhältnisses zwischen diesen beiden Beziehungstypen ignoriert, der verschreibt sich einem Realismus der Struktur, der den Realismus des Strukturelementes von seinem Platz verdrängt und objektive Beziehungssysteme zu verselbständigten Totalitäten verdichtet, die angeblich vor jeder Geschichte des Einzelnen oder einer Gesellschaft und unabhängig von dieser existieren. Es muß nicht zwangsläufig der Naivität des Subjektivismus verfallen, wer daran erinnert, daß die objektiven Beziehungen einzig in dem und durch das Produkt der Verinnerlichung objektiver Bedingungen, in dem System der Dispositionen vorkommen und sich tatsächlich verwirklichen. Zwischen die Systeme der objektiven Regelmäßigkeiten und der unmittelbar beobachtbaren Verhaltensweisen schiebt sich allemal eine Vermittlungsinstanz, eben der Habitus, geometrischer Ort äußerer Determinanten und individueller Entscheidung, berechenbarer Wahrscheinlichkeiten und gelebter Erwartungen, objektiver Zukunft und subjektiver Entwürfe. Es ist der Klassenhabitus, verstanden als System organischer oder psychischer Dispositionen, unbewußter Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und des Handelns, der dazu führt, daß die handelnden Subjekte in der wohlbegründeten Illusion der Schöpfung unvorhersehbarer Neuartigkeit und in freier Improvisation Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen hervorbringen können, die objektiven Regelmäßigkeiten entsprechen, weil der Klassenhabitus selbst im Rahmen und aufgrund von Bedingungen entstanden ist, die durch diese Regelmäßigkeiten objektiv bestimmt sind. Nur eine mechanistische Auffassung der Dialektik zwischen den objektiven Beziehungen und den diese determinierenden handelnden Subjekten kann in Vergessenheit geraten lassen, daß der Habitus, selbst das Produkt von Bedingtheiten, die Bedingung der Hervorbringung von Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen ist, die ihrerseits wiederum nicht das unvermittelte Ergebnis von Bedingtheiten sind, obgleich sie, einmal hervorgebracht, allein durch Kenntnis dieser Bedingtheiten oder, besser gesagt, des in diesen verankerten Produktionsprinzips verstanden werden können. Kurz, als Prinzip einer zwar strukturierten, aber nicht strukturalen Praxis umschließt der Habitus, die Verinnerlichung der äußeren Konstellation, den Grund aller Objektivierung der Subjektivität.

Was Hegel von der Philosophie gesagt hat: »Keiner andern Kunst und Wissenschaft wird diese letzte Verachtung bezeigt, zu meinen, daß man sie geradezu innehabe«4, könnte auch für die Photographie gelten. Im Unterschied zu anspruchsvolleren kulturellen Tätigkeiten wie dem Zeichnen, der Malerei oder dem Musizieren, ja, selbst im Unterschied zum Besuch von Museen oder Konzerten setzt das Photographieren weder Schulbildung noch eine Lehrzeit und die Beherrschung des »Handwerks« voraus, die ihren Wert dergestalt auf jene kulturellen Konsumhandlungen und Aktivitäten, die man gemeinhin für die erhabensten hält, übertragen, daß der Zugang zu ihnen nicht jedem beliebigen offensteht.5

Nichts steht in krasserem Gegensatz zu der gängigen Vorstellung von künstlerischer Schöpfung als die Tätigkeit des Amateurphotographen, der häufig von seinem Apparat verlangt, an seiner Statt die nötigen Operationen auszuführen, wobei er die Perfektibilität des von ihm benutzten Geräts mit dem Grad der Automatisierung der Funktionen des Gerätes gleichsetzt.6 Doch selbst wenn die Produktion des Bildes gänzlich dem Automatismus des Apparats anvertraut wird, so bleibt doch die Aufnahme selbst der Ausdruck einer Wahl, der ästhetische und ethische Kriterien zugrunde liegen: Während theoretisch das Prinzip und die Fortschritte der photographischen Technik dazu tendieren, alles objektiv »photographierbar« zu machen, wählt, jedenfalls innerhalb der theoretischen Unendlichkeit aller Photographien, die ihr technisch möglich sind, jede Gruppe praktisch ein endliches und bestimmtes Sortiment möglicher Gegenstände, Genres und Kompositionen aus. »Der Künstler«, sagt Nietzsche, »wählt seine Stoffe aus: das ist seine Art zu loben.«7 Weil sie eine Wahl ist, die lobt, weil sie der Absicht folgt, festzuhalten, d.h. zu feiern und zu verewigen, darf die Photographie nicht den Zufälligkeiten der individuellen Phantasie ausgeliefert werden. Durch die Vermittlung des Ethos, die Verinnerlichung objektiver und allgemeiner Regelmäßigkeiten, unterwirft die Gruppe diese Praxis der kollektiven Regel, so daß noch die unbedeutendste Photographie neben den expliziten Intentionen ihres Produzenten das System der Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und der Vorlieben zum Ausdruck bringt, die einer Gruppe gemeinsam sind.

 

Anders gesagt, es zeigt sich, daß das Feld dessen, was sich einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse als wirkliche Objekte der Photographie darstellt (d. h. die Teilmenge der »machbaren« Photographien, im Unterschied zur Universalmenge der Realitäten, die objektiv Photographien werden können, sofern der Apparat die technischen Möglichkeiten hierzu bietet), durch implizite Modelle definiert wird, die sich über die photographische Praxis und ihre Produkte dingfest machen lassen, da sie objektiv den Sinn bestimmen, den eine Gruppe dem photographischen Akt als der fundamentalen Aufwertung eines wahrgenommenen Objekts zu einem Objekt verleiht, das für würdig befunden wird, es zu photographieren, d.h. es festzuhalten, zu konservieren, zu kommunizieren, vorzuzeigen und zu bewundern. Die Normen, welche die photographische Aneignung der Welt entsprechend dem Gegensatz zwischen Photographierbarem und Nicht-Photographierbarem organisieren, sind untrennbar mit dem System impliziter Werte verknüpft, die einer Klasse, einer Berufsgruppe oder einer Künstlervereinigung eigentümlich sind, deren photographische Ästhetik niemals etwas anderes als lediglich einen Aspekt dieses Systems bildet, auch wenn sie für sich in Anspruch nimmt, autonom zu sein. Das adäquate Verständnis eines Photos, ob dieses nun von einem korsischen Bauern, einem Kleinbürger aus Boulogne oder einem Berufsphotographen aus Paris stamme, stellt sich nicht allein dadurch her, daß man die Bedeutungen übernimmt, die es verkündet, d.h. in gewissem Maße die expliziten Absichten ihres Urhebers; man muß auch jenen Bedeutungsüberschuß entschlüsseln, den es ungewollt verrät, soweit es an der Symbolik einer Epoche, einer Klasse oder einer Künstlergruppe partizipiert.

Da die Beschäftigung mit der Photographie – im Gegensatz zu den künstlerischen Tätigkeiten, die, wie die Malerei oder die Musik, etwas ganz und gar Weihevolles an sich haben – technisch wie ökonomisch jedermann zugänglich erscheint, und da diejenigen, die sich ihr widmen, von sich selbst nicht das Gefühl haben, an einem System expliziter und kodifizierter Normen gemessen zu werden, das die legitime Praxis im Hinblick auf ihren Gegenstand, ihre Anlässe und ihre Modalität festlegte, ist die Analyse der subjektiven oder objektiven Bedeutung, die die Subjekte der Photographie als Praxis oder als kultureller Tätigkeit beimessen, besonders geeignet, an deren authentischer Ausdrucksform jene Ästhetiken (und Ethiken) zu ermitteln, die für unterschiedliche Gruppen oder Klassen kennzeichnend sind, vor allem die »Ästhetik« des »einfachen Volkes«, die sich hier in Ausnahmefällen offenbaren kann.

Obwohl diese Tätigkeit ohne Traditionen und ohne Ansprüche, gänzlich anarchisch, individuelle Improvisation zu sein scheint, sieht es zugleich so aus, als sei nichts stärker der Reglementierung und der Konvention unterworfen als die Amateurphotographie und deren Produkte: Die Anlässe ebenso wie die aufgenommenen Gegenstände, Orte und Personen, ja sogar die Komposition der Bilder scheinen impliziten gebieterischen Regeln zu gehorchen, die die versierten Amateure oder die Ästheten auch als solche wahrnehmen, allerdings nur, um sie als geschmacklos oder technisch unbeholfen zu denunzieren. Daß man es nicht verstanden hat, in diesen erstarrten, gestellten, »unnatürlichen« und gekünstelten Photographien und in den von den Photographen von Familienfesten und »Urlaubserinnerungen« produzierten Normen einer gesellschaftlichen Etikette diesen Kodex impliziter oder expliziter Regeln, die die Ästhetiken definieren, ausfindig zu machen, liegt fraglos daran, daß man mit einer viel zu engen (und gesellschaftlich konditionierten) Definition der kulturellen Legitimität operiert. Noch in den banalsten Beschäftigungen ist Raum für Handlungen, die nicht vor allem dem Effizienzstreben folgen. Auch die direkt auf praktische Zwecke gerichteten Tätigkeiten können ästhetische Urteile auf sich ziehen, und die Art und Weise, wie die verfolgten Zwecke erreicht werden, kann jederzeit zum Gegenstand einer spezifischen »Annäherung« werden: Es gibt schöne Weisen, zu pflügen oder eine Hecke zu beschneiden, so wie es auch schöne Lösungen in der Mathematik oder schöne Doppelpässe beim Fußball gibt. Kurz, es ist möglich, daß der größte Teil der Gesellschaft aus dem Universum der legitimen Kultur ausgeschlossen bleibt, ohne deshalb aus dem Universum des Ästhetischen verbannt zu sein.

Wenngleich sie nicht der spezifischen Logik einer autonomen Ästhetik gehorchen, so organisieren sich die ästhetischen Urteile und Verhaltensweisen doch keineswegs weniger systematisch. Allerdings ist ihr Ausgangsprinzip ein ganz anderes, wobei in diesem Fall die Ästhetik lediglich eine Dimension innerhalb eines Systems impliziter Werte, d.h. innerhalb des klassenspezifischen Ethos, bildet. Die Besonderheit jeder Volkskunst besteht darin, daß sie die künstlerische Tätigkeit gesellschaftlich normierten Funktionen unterordnet, während für die Ausgestaltung »reiner« Formen, die allgemein als die sublimen gelten, die Abwesenheit funktionaler Merkmale und praktischer oder ethischer Zwecke vorausgesetzt ist. Ästheten, die sich darum bemühen, die photographische Praxis der gesellschaftlichen Funktionen zu entkleiden, in deren Dienst sie von der großen Mehrheit gestellt wird, nämlich das Erfassen und Sammeln von »Erinnerungen« an Gegenstände, Personen oder Ereignisse, die sozial als wichtig etikettiert sind, versuchen, die Photographie einer Transformation zu unterziehen, die derjenigen ähnelt, welche die Volkstänze Bourré, Sarabande, Allemande oder Courante erfahren haben, als man sie in die Kunstform der Suite einband.8 Sobald die Photographie einmal zum soziologischen Forschungsgegenstand geworden war, galt es zunächst zu untersuchen, in welcher Weise jede Gruppe oder Klasse die individuelle Praxis regelt und organisiert, indem sie dieser Funktionen überträgt, die auf ihre spezifischen Interessen zugeschnitten sind. Freilich war es nicht möglich, die einzelnen Individuen und ihr Verhältnis zur Photographie als Praxis oder als Konsumobjekt unmittelbar zum Forschungsgegenstand zu machen, ohne Gefahr zu laufen, der Abstraktion anheimzufallen. Erst die methodologische Entscheidung, reale Gruppen zu untersuchen9, rückte ins Blickfeld (oder erinnerte wieder daran), daß die der Photographie zugeschriebene Bedeutung und Funktion unmittelbar an die Struktur der Gruppe, an deren mehr oder weniger ausgeprägte Differenzierung und insbesondere an deren Stellung in der gesamtgesellschaftlichen Struktur gebunden sind. So ist in letzter Instanz das Verhältnis, das etwa der Bauer zur Photographie hat, lediglich ein Aspekt seiner Beziehung zum Leben in der Stadt, d. h. zum modernen Leben, die sich wiederum in der gelebten Beziehung zum Bewohner des nächstgelegenen Marktfleckens und zum »Feriengast« aktualisiert: Wenn er sich in und mit seiner Einstellung zur Photographie auf jene Werte beruft, die den Bauern schlechthin leiten, dann deshalb, weil diese »städtische Tätigkeit«, die Apanage des Bourgeois und Städters, mit einer Lebensweise verknüpft ist, welche die des Bauern in Frage stellt und ihn dadurch zwingt, sich explizit zu definieren.10

Neben den jeweils klassenspezifischen Interessen sind es die objektiven, undeutlich erfahrenen Beziehungen zwischen der »Klasse als solcher« und den anderen Klassen, die sich mittelbar in der Haltung der Individuen gegenüber der Photographie ausdrücken. So wie der Bauer in seiner Ablehnung der Amateurphotographie seine Beziehung zum Modus des Stadtlebens zum Ausdruck bringt, eine Beziehung, in der und durch die er die Besonderheit seiner Lage erfährt, so übersetzt oder verrät die Bedeutung, die die Kleinbürger mit der photographischen Praxis verbinden, sowohl das Verhältnis der Mittelklassen zur »Kultur«, d.h. zu den höheren Klassen, denen das Privileg jener kulturellen Handlungen zusteht, die ganz und gar erhaben erscheinen, als auch ihr Verhältnis zum einfachen Volk, von dem sie sich um jeden Preis abheben wollen, indem sie in den ihnen zugänglichen Praktiken ihren guten Willen zur Kultur zeigen. So wollen die Mitglieder der Photoklubs sich kulturell nobilitieren, indem sie die Photographie zu adeln suchen, ein Ersatz für die noblen Künste, der ihrem Vermögen und ihrem Maß gerecht wird, und zugleich in den Ordnungen der Sekte diesen Kodex technischer und ästhetischer Regeln wiederfinden, deren sie sich entschlagen haben, da sie jene Normen als vulgär, weil der Praxis der »einfachen Leute« unterworfen ablehnen. Das Verhältnis der Individuen zur photographischen Praxis ist seinem Wesen nach ein mittelbares; es schließt den Widerschein des Verhältnisses der Angehörigen der übrigen Klassen zur Photographie und daher zur gesamten Struktur der Beziehungen zwischen den Klassen mit ein.