Die kleinen Strolche

Text
From the series: Lickie #31
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Die kleinen Strolche
Font:Smaller АаLarger Aa

Didier Desmerveilles

Die kleinen Strolche

Eine Geschichte aus China Lickie Nr. 31

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Impressum neobooks

Erstes Kapitel

V or langer, langer Zeit, als es in unserem Land noch einen Kaiser gab und die mächtigen Feudalherren die Armen ausbeuteten und auf ihre Kosten reich und dick und fett wurden, da lebte in einem kleinen Dorf in der Provinz Henan der Waisenjunge Ma Liang. Ma Liangs Vater war von dem Grundbesitzer, für den er schuften musste, so lange gequält und mit schweren Lasten beladen worden, dass er eines Tages auf dem Acker tot zusammengebrochen war. Das hatte Ma Liangs Mutter, die ihren Mann liebte wie ihr eigenes Fleisch, nicht verwunden und wenige Tage nach der Beerdigung von Ma Liangs Vater war sie ihm ins Grab gefolgt. Sein Onkel Wu nahm sich des kleinen Jungen an. Doch Onkel Wu hatte ein Herz aus Stein und sah in Ma Liang nur eine billige Arbeitskraft. Jeden Tag musste er mit dem Ochsen das Feld pflügen. Und am Abend war er so erschöpft, dass er es kaum noch fertigbrachte, den Löffel für die dünne Suppe in der Hand zu halten, mit der der hartherzige Onkel ihn ernährte. Die Suppe, die er seine Frau jeden Tag für seinen Neffen kochen ließ, bestand außerdem fast nur aus Wasser, nur am Sonntag gab es ein paar verschrumpelte Mantou, die die Tante sonst hätte wegwerfen müssen. Ma Liang wurde immer dünner und kraftloser, woraufhin ihn der böse Onkel Wu noch schlechter versorgte. »Du arbeitest wie ein Schwächling«, schimpfte er ihn aus, »und willst essen wie ein starker Mann?« Die Tante lachte jedes Mal laut, wenn sein böser Onkel ihn das fragte.

Seit sie auf das Feuerzeug und die Knallkörper gestoßen waren, hatte sich Geges Stimmung gebessert. In dem halb abgerissenen Haus, in dem sie ein paar Nächte verbracht hatten, musste sie jemand nach den Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag vergessen haben. Mit den Böllern in der Hand wanderten sie über den Damm am Kanal, links die alten eingeschossigen Backsteinhäuser, die alle bald dem Neubaugebiet gewichen sein würden, rechts die trübe Brühe des Kanals und auf beiden Seiten des Damms Müll, Müll und noch mal Müll. Ab und zu ließ Gege auch ihn mal einen von den Böllern – natürlich nur von den kleinen – in den Müll hineinwerfen und manchmal, wenn Xiao Chong Glück hatte, flogen bei der Explosion ein paar Papiertüten oder Stoff-Fetzen und mitunter sogar eine leere Zigarettenschachtel mit in die Luft, wenn es bumm! machte. Das war ein Spaß! Ma hatte ihnen zwar verboten, mit Feuer zu spielen, aber Ma musste ja den weißen Panda suchen und konnte nicht mehr auf sie aufpassen. Was für Gege bedeutete: »Wir sind jetzt unsere eigenen Erwachsenen. Und auf die anderen Erwachsenen brauchen wir gar nicht mehr zu hören.«

Das hatte Xiao Chong eingeleuchtet. »Dann bin ich jetzt also auch mein eigener Erwachsener, Gege, oder? Sag, Gege, dann bin ich doch jetzt auch mein eigener Erwachsener?« Er hätte es gern gehört, denn obwohl eine entfernte Stimme in seinem Inneren Xiao Chong zuflüsterte, dass etwas an der Erklärung seines großen Bruders nicht stimmte, lag darin doch eine unbezweifelbare Logik: Jetzt, wo Mama und Baba und auch Shushu nicht mehr da waren, um sich um sie zu kümmern, da waren sie eben ihre eigenen Erwachsenen. Und sie – das schloss selbstverständlich ihn, den Kleinsten in der Gruppe, den kleinen Bruder, mit ein.

»Klar«, sagte Gege und zündete einen Böller an, »nur bist du eben bloß ein kleiner Erwachsener. Und die kleinen Erwachsenen müssen auf die großen Erwachsenen hören. Daran führt kein Weg vorbei.«

Lajihua hatte keine Kraft mehr. Immer wieder musste sie Pausen einlegen, während sie den voll beladenen Karren über die Dajie schob. Vor ein paar Jahren hatten sie den Stadtkern komplett erneuert und die Straße verbreitert. Sie sah jetzt aus wie eine Autobahn mitten in der Stadt und so lang kam sie der 83-jährigen Frau an manchen Tagen auch vor. Lajihua, Blume im Müll, so hatten diejenigen die alte Frau Zhu getauft, die sie seit Jahren Tag für Tag auf ihrem Streifzug von der Xiangcun aus durch ihr Viertel wandern sahen, jenen Karren hinter sich her ziehend, auf den sie alles packte, was sich irgendwie noch verwerten ließ. Später, bei den Ermittlungen, sollte sie die wichtigste Zeugin sein. Am Tag vor dem schrecklichen Unglück begegnete sie den Kindern gleich zwei Mal. Längst gehörten auch sie zu denen, die sie Lajihua riefen. Hua, Blume, das hörte Frau Zhu gern, es zeigte, dass in ihrem Gesicht noch Züge jener Schönheit zu erkennen sein mussten, die den jungen Kerls damals den Verstand geraubt hatte. Ach, das war lange her. Und Sun Haochen, dieser drollige Bursche, der mit geraubtem Verstand noch den lustigsten Eindruck gemacht hatte, war schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Was sollte sie sich beklagen? Viele hatten in der dunklen Zeit ihr Leben oder ihre Freiheit oder erst ihre Freiheit und dann ihr Leben verloren. Haochen hatte überlebt, aber als er 1979 an der Galle operiert werden musste, da fehlte es wirklich an allem: an guten Ärzten, guten Krankenhäusern, der richtigen Medizin, vor allem aber an dem Geld, das alles dann auch noch bezahlen zu können. Frau Zhu sagte es sich immer wieder: Damals ... das hatte unmöglich ein gutes Ende nehmen können.

Tumen war eine Stadt, die nicht in so hellem Glanz erstrahlte und nicht in so vielen bunten Farben wie die großen Metropolen, die sie bei Shushu im Fernsehen gesehen hatten, als er sich noch um sie kümmern konnte, Städte wie Peking, Shanghai oder Shenyang. Aber Xiao Chong hörte immer wieder, dass hier, im Grenzgebiet zu Russland und Korea, viele Geschäfte gemacht und viel Geld verdient werden konnte. Auch verkehrstechnisch lag die kleine Stadt günstig: Es gab einen täglichen Zug nach Peking und die neue Autobahn. Deswegen konnte man jetzt auch all die kleinen roten oder die großen, weißen hässlichen Häuser ersetzen durch neue und viel imposantere, echte Wolkenkratzer womöglich, so hoch wie die in Shanghai und Peking – oder doch wenigstens wie die in Jilin und Changchun. Durchs Zugfenster hatte er die gesehen, als sie letztes Jahr mit Baba zu Shushu gefahren waren.

Bumm! Gege durfte immer die dicken Bomben zünden. Das fand Xiao Chong ungerecht. Als Erwachsener, auch wenn er nur ein kleiner Erwachsener war, musste er doch die gleichen Rechte haben wie alle. Er hatte schon andere kleine Erwachsene gesehen, Xiao Li zum Beispiel, den Zwerg. Der durfte alles, was andere auch durften, es sei denn, er hatte nicht genug Geld zusammengebettelt. Dann durfte er natürlich gar nichts. Das war eine einfache Regel: Erwachsene durften alles, sofern sie das nötige Geld dafür hatten. Und sonst waren sie kleine Kinder.

Wachtmeisterin Yi hatte keinen sonderlich aufregenden Beruf. Meist saß sie in dem großen Empfangsbereich der Polizeiwache einschließlich Meldestelle am Computer, nahm Meldungen und Beschwerden auf, kümmerte sich um die Registrierung von Umgezogenen. Das Gebäude war neu, es verfügte über eine Glasfront, durch die man gut sehen konnte, wer sich näherte und was sich draußen auf der Straße noch so alles tat. Und das war einiges: Die Wache lag im Mündungsbereich einer belebten Kreuzung. Sooft sie die kleinen Strolche erblickte, die sie bereits seit über einer Woche immer wieder – und vor allem: auch vormittags – draußen herumstreunen sah, beschlich Wachtmeisterin Yi ein Unbehagen. Wo mochten nur die Eltern der kleinen Banditen sein? Sah das etwa nicht nach einem klassischen Fall von Vernachlässigung aus? Doch als sie Dienststellenleiter Wang auf die drei Tagediebe hingewiesen hatte, hatte der nur mit den Achseln gezuckt. »Wachtmeisterin Yi«, hatte er geantwortet, »wenn wir uns um alle vernachlässigten Kinder in Tumen kümmern wollten, dann hätten wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts anderes mehr zu tun. Sie wissen doch, was da alles illegal aus Nordkorea zu uns rüberkommt.«

You have finished the free preview. Would you like to read more?