Heinrich Töpfer und die Jubelkugel

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Heinrich Töpfer und die Jubelkugel
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Detlef Köhne

Heinrich Töpfer und die Jubelkugel

Die magische Harry-Potter-Parodie

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Epilog

Impressum neobooks

1

Als der kleine Ambos Schwurbelbart gerade sieben Jahre alt war, nahm sein Vater ihm den Rasierpinsel und den Nassrasierer weg und schenkte ihm stattdessen eine Bartbürste. Als Ambos daraufhin protestierte und anklagend auf sein Spiegelbild wies, sagte er: »Vergiss die Rasiererei, mein Sohn. Es ist ein hoffnungsloser Kampf. Du stehst erst am Beginn eines wachsenden Problems, du wirst sehen. Spätestens in drei Jahren reicht dir der Bart bis auf die Brust und in fünf bis an den ... äh, du weißt schon wo.«

 

Und als er ihm über die Schulter blickte und ihn zufrieden lächelnd im Spiegel betrachtete, sagte er zu ihm: »Junge, du siehst ganz genauso aus wie mein Schwager. Nur den Bart, den hast du von deiner Mutter.«

Sätze wie diese hört man nicht alle Tage, dachte der kleine Ambos und starrte missgelaunt in den Spiegel. Ein milchgesichtiger siebenjähriger Hosenscheißer mit wüstem Stoppelkinn und Oberlippenbart starrte zurück.

»Große, weise Magier tragen ellenlange Bärte. Das liegt in den Genen, weißt du? Alle in unserer Familie sind so. Seit Generationen.«

Ja, nur du nicht, dachte Ambos grinsend, vielleicht solltest du dir einmal Gedanken machen, warum ich meinem Onkel ähnlicher sehe als dir.

»Und dennoch gibt es Leute, die sagen, Zaubererbärte hätten gar nichts mit Genetik zu tun, sondern seien bloß ein abgedroschenes Klischee. Ha! Die haben doch keine Ahnung. Als würden in Fantasygeschichten jemals Klischees bedient! Und jetzt komm, lass uns essen. Die Kürbisse werden kalt.«

Ja, klar, dachte Ambos bitter, und die Scheißkürbisse haben auch überhaupt nichts mit Klischees zu tun, sondern wir essen sie andauernd, weil sie so lecker sind. Warum nur? Warum hatte die Magic Cuisine in den Jahrtausenden ihrer Entwicklung nie etwas Schmackhafteres hervorgebracht, als ausgerechnet Kürbisse? Kürbiskuchen, Kürbismarmelade, Kürbisbrot, Kürbisschokolade, Kürbissaft, Kürbiscola, Kürbisbier, Kürbisjoghurt, Kürbispizza, Kürbisdöner, Kürbispopcorn ... ›Es wird von den Leuten einfach erwartet, dass in einer Zaubererwelt von Jedermann pausenlos Kürbisse gegessen werden‹, hieß es immer. ›Das ist so Tradition.‹ Quatsch! Stünde es nur in seiner Macht, er, Ambos Schwurbelbart, hätte umgehend den Anbau und die Weiterverarbeitung dieses faden Gemüses unterbunden. Genauso wie dieses absurde, aus grauer Vorzeit überlieferte Bartträgerbrauchtum. Wer hatte das bloß eingerichtet, dass ein weiser Magier gefälligst einen meterlangen grauen Bart zu tragen hatte, uneingedenk der Tatsache, dass der beim Pinkeln ziemliche Scherereien bereiten konnte? Bestimmt war es eine Hexe gewesen, als Rache dafür, dass sie zwar mitunter ebenfalls zu ziemlich unattraktivem Bartwuchs neigten, weswegen sie in Märchen und Fantasygeschichten immer die Bösen und die Hässlichen spielen mussten, die Rollen großer, mächtiger und edler Zauberer hingegen seit Ewigkeiten traditionell mit Männern besetzt wurden.

Aber so war das halt mit Traditionen. Irgendwann im Nebel der Vergangenheit begründet, über Generationen hinweg überliefert, als Klischee gepflegt und zäh verteidigt, weil es die Leute nun mal so erwarteten, und unmöglich wieder loszuwerden. Doch eines Tages, wenn er endlich in der richtigen Position dafür wäre, dann würde er, Ambos Schwurbelbart, mit diesen Zuständen schon aufräumen.

2

Einige Jahrzehnte waren seit diesen Begebenheiten vergangen, doch an dem Tag, an dem unsere Geschichte eigentlich erst beginnt, wurden sie Ambos Schwurbelbart wieder ins Gedächtnis gerufen.

Und zwar von dem schmuddeligen Typen, der geradewegs vor ihm in einem hohen Ohrensessel saß und versonnen, mit schwerer Zunge vor sich hin brabbelte. »Ich sehe, ich sehe ... Einen großen und mächtigen Zauberer. Einen Zauberer, der schon seit langem in der richtigen Position dafür ist, mit alten überkommenen Traditionen aufzuräumen, es aber nicht tut. Ja, Ambos Schwurbelbart, du siehst genauso aus wie jemand, der sich längst mit den Zuständen arrangiert hat und die Klischees unbeschadet durch eine weitere Generation hindurch tragen und an die Nachwelt überliefern wird.«

»Wie? Was faselst du?«, fragte Schwurbelbart verwirrt, transportierte den Kürbisdrops in seiner Backe von einer Seite auf die andere und warf sich den meterlangen Bart über die Schulter.

»Ich spreche von dem Bart und den Kürbissen, Ambos Schwurbelbart,« grummelte das Orakel mit geschlossenen Augen, während sein Zeigefinger auf Schwurbelbart deutete.

»Quark«, knurrte Schwurbelbart, der nicht gern angesprochen wurde auf dieses Thema. Die Zaubererakademie verdiente gut an den Kürbisrezepten ihrer Küche und an den bartlastigen Merchandising-Produkten zu Halloween. »Der Bart liegt bei großen, weisen Magiern in den Genen. Weiß doch jeder. Und die Kürbisse esse ich nur, weil die so lecker sind.

Außerdem bezahl ich dich nicht, um über meine Unzulänglichkeiten belehrt zu werden, sondern für eine Weissagung über unsere Zukunft. Was mir heute Abend nämlich erheblich größere Sorgen bereitet als Kürbisse und Bärte, ist ein ganz anderes alt hergebrachtes Klischee, und zwar das, dass in einer Zaubererwelt niemals alles Friede, Freude, Kürbiskuchen ist, sondern dass sie natürlich, weil die Leute das so erwarten, stets von irgendwoher mit dem Untergang bedroht wird, ausgehend von irgendwelchen Drachen, Dämonen, bösen Hexen oder Feen, Kobolden, Gnomen, seelenlosen Zombies, dunklen Magiern, der Addams Family, den Bundys oder dem Finanzamt. Oder auch von bloßen Gegenständen wie Ringen, verzauberten Schwertern, Bannen, die gebrochen werden müssen, oder Gegenständen – selbstverständlich meist goldenen – die verschwunden sind und dringlichst wiederbeschafft werden müssen.

Und wir bilden mit unserem kleinen Reich da keine Ausnahme, wie mir zu Ohren gekommen ist. Ich will wissen, was es diesmal ist, damit ich die geeigneten traditionellen Gegenmaßnahmen einleiten kann, nach der sich ein in Bedrängnis geratenes Zauberreich stets auf das Erscheinen eines strahlenden Retters berufen darf, der das Böse in die Schranken weist und so das traditionelle Gleichgewicht der Kräfte beim Kampf Gut gegen Böse wahrt und dafür sorgt, dass am Ende gesagt werden kann ›Und so lebten sie glücklich bis an das Ende ihrer Tage.‹ Schließlich erwarteten die Leute das so, hörst du?«

O ja, Ambos Schwurbelbart war wild entschlossen, gerade diese letzte Tradition zu wahren.

Seit damals, seit dem Tag, an dem sein Vater seinen Rasierpinsel ins Klo geworfen und ihm die erste Bartbürste geschenkt hatte, war er in der Tat unaufhaltsam zu einem der mächtigsten Zauberer des Reiches aufgestiegen. Seit einiger Zeit leitete er gar die sagenhafte Zaubererakademie Hochwärts und arbeitete gegen üppige Beraterhonorare dem Ministerium für das Ignorieren logischer Zusammenhänge bei der Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen zu. Warum aber eine Schule mehr Bedeutung und Gewicht hatte als das Ministerium selbst, und warum er als deren Direktor sich um das Wohlergehen des Reiches zu kümmern hatte, wussten allein die Götter. Oder die Autoren dieser verrückten Geschichte.

Doch wie sollte er überhaupt eine Errettung des Landes vor dem Bösen arrangieren, wusste er doch weder, aus welcher Richtung die Gefahr drohte, noch welcher Retter strahlend genug wäre, ihr adäquat begegnen zu können? Darüber hinaus hatte der Fachkräftemangel den Arbeitsmarkt für professionelle Helden fest im Griff.

Ohnehin hoffte Schwurbelbart inständig, ohne zusätzliches Personal auskommen zu können, schließlich war die Haushaltslage angespannt wie eh und je. Seine schwer verdienten Ministeriumshonorare zu opfern, kam gar nicht in Frage. Und Kürbismarmelade und Halloween-Bärte zu verkaufen reichte nun mal nicht aus, um ein riesiges Schloss nach den gültigen Denkmalschutzstandards zu erhalten und nebenbei auch noch ein teures Lehrerkollegium zu finanzieren, das pro Mitglied nur ein einziges Fach für eine Handvoll Schüler ein paar Stunden pro Woche unterrichtete, und obendrein auch noch freie Kost und Logis im Schloss genoss.

Für einen funktionierenden Auslandsnachrichtendienst blieb da erst recht kein Geld übrig. Also bediente der Direktor sich nach alter Zauberertradition eines geheimnisvollen Orakels. Und er, Ambos Schwurbelbart, konnte sich brüsten, nicht nur über eines der geheimnisvollsten, sondern auch eines der besten Orakel überhaupt zu verfügen – wenn auch mit einem kleinen Haken ...

»Hexen, Geister, Elfen, Bärte und Kürbisse, alles ist im Fluss. Und der ganze Rest eventuell auch. Das Leben, so wie ihr es kennt, wird möglicherweise zu Ende gehen, vielleicht aber auch nicht. Womöglich verändert es sich auch nur in einer Weise, die sich unter Umständen als dramatisch nachteilig für manche der Betroffenen erweist«, leierte die Stimme des Orakels, das nicht nur eines der besten und geheimnisvollsten, sondern leider auch eines der vieldeutigsten war, nebulös durch die Räume der Orakelagentur. Schwerzüngig und verwaschen verkündete es die Umstände des kommenden Unheils: »Die Dämonen, die dem inneren Kreis entsteigen, werden ... ähm, ganz schön dämonisch und zudem ziemlich ungezogen sein, und die Gifte, die sie in eure Welt speien, werden ... äh ... giftig sein. Zusammenfassend würde ich mal sagen: Eure Welt geht astrein den Bach runter. Ihr alle seid ...«

»Ja ja ja, wir sind in Gefahr, dem Tod geweiht, bla bla bla. Das habe ich allmählich kapiert, Mann. Ich brauche mehr Details.« Ambos Schwurbelbart umkreiste ungeduldig den Ohrensessel, auf dem sein Orakel saß, allem weltlichen entrückt und, von jeder Kritik unbeeindruckt, ausdruckslos in die Luft stierend. Sein Kopf kullerte erneut zweimal von der rechten auf die linke Schulter und wieder zurück, bevor es sich zu weiteren Aussagen durchrang. »Es sind die Ringgeister, die sich gegen euch erheben werden. Die ›Naspuhl‹, die ...«

»Die Naspuhl? Die Naspuhl sagst du? Die neun Ringgeister? ›Neun Ringe, gegeben den Menschenherrschern‹ und so weiter? Aber die gehören doch gar nicht in diese Story! Die sind doch aus ›Der Ringe ihr Herr‹ oder ›Dem Herrn sein Ring‹ oder wie das heißt.«

»Na und?«, muckte das Orakel auf. »Wen schert das schon? Schließlich ist dies eine Parodie! Und immerhin stamme ich aus der gleichen Story wie die Ringgeister. Ich bin Labergrog, Laberthrons Sohn, genannt Streichler, der Waldläufer. Und bis ich eines Tages endlich König des Landes Gondel werden kann, verweile ich in der Rolle des geheimnisvollen Orakels als Gast in dieser Geschichte. Und wart nur ab, wer noch alles zu Besuch kommt!«

»Jaja, ist ja schon gut, die neun Ringgeister, die Naspuhl also«, murmelte Schwurbelbart und zerbiss nervös seinen Kürbisdrops, während er den Sessel Streichlers, des Orakels, umkreiste. »Okay, nach allem was ich über die Ringgeister weiß, ist es ihnen nicht möglich, selbst hierherzukommen. Abgesehen davon, dass sie viel zu faul sind, etwas eigenhändig zu tun, fehlt ihnen die Fähigkeit, ihre Zuflucht zu verlassen und sich in unserer Welt zu bewegen, egal, ob sie auf ihren schwarzen Zossen unterwegs sind oder auf ihren geflügelten rasierten Riesendackeln. Also, Streichler: Wessen Hand werden sie sich bedienen? Wer sind ihre irdischen Paladine

»Du wirst es nicht mehr verhindern können. Rette so viele du kannst.«

»Blödsinn! Natürlich werden wir es verhindern können. Wir können es immer verhindern. Das ist so Tradition«, rief Schwurbelbart erbost.

Streichlers Hände krallten sich in die staubigen Lehnen des gewaltigen Chintz-Sessels. Sein Kopf begann wieder haltlos hin und her zu pendeln. »Hüten Sie sich in Geldangelegenheiten vor Gebrauchtwagenhändlern«, murmelte er unbestimmt. »Die beste Zeit für die Liebe ist nächsten Donnerstagnachmittag zwischen der Tagesschau und dem Beginn des nachfolgenden Fußball-Länderspiels.«

»Scheiß Horoskop«, knurrte Schwurbelbart. »Das habe ich nicht bestellt.«

»Der Krieger Mars steht im Haus Jupiters. Doch keine Bange, liebe Astrologiefreunde, der Aszendent Rottweiler steht hinten im Garten und hält die Wacht. Er wird Mars den Pöter aufreißen.«

»Mumpitz!«, rief Schwurbelbart. »Erzähl mir gefälligst etwas über die Naspuhl! Wofür bezahl ich dich?«

»Und zum Schluss das Wetter: Nach Durchzug einer Gewitterfront in den Abendstunden ist das Hereinbrechen der Nacht nicht auszuschließen. Die weiteren Aussichten: leicht unbeständig.« Streichlers Augen verblassten allmählich. »Vielen Dank, dass Sie Dirk Streichlers Orakeldienst gewählt haben. Für die Nutzung des Dienstes nach 20 Uhr werden Spätzuschläge berechnet.« Streichlers Kopf sank zur Seite und kurz darauf verrieten gleichmäßige Atemzüge, dass er eingeschlafen war.

Schwurbelbart ließ resigniert die Schultern fallen und seufzte. Er wusste, wenn Streichler erst einmal dieses Stadium fortgeschrittener Entspannung erreicht hatte, brachte ihn so schnell nichts ins Bewusstsein zurück.

 

Was nun? Nervös zwirbelte der Direktor einzelne Strähnen seines lästigen Wallbartes zwischen den Fingern seiner Rechten. Mit einem letzten Blick auf das Orakel wandte er sich schließlich ab und eilte zur Tür. Es war Eile geboten. Das Beste wäre, für morgen früh sogleich den Schulrat einzuberufen und Gegenmaßnahmen zu beraten.

Er hatte bereits die Hand auf die Türklinke gelegt, als Streichlers Stimme, diesmal ungewohnt kalt und präzise, ihn plötzlich erstarren ließ.

»Es ist der Gelbe«, brachen sich die Worte aus Streichlers Mund Bahn. Eisig, scharf, so als seien es gar nicht seine. Er hatte sich aufgerichtet, die weit aufgerissenen Augen nach vorne gerichtet, starr, aber blicklos. Der Direktor ging langsam auf Streichler zu. Er wagte nicht, ihn anzusprechen, ihn anzurühren, oder sonst irgendwie zum Weiterreden zu bewegen, obwohl ihn die Anspannung schier die Luft anhalten ließ.

»Ich sehe den Gelben«, wiederholte Streichler schneidend. »Er ist hierher unterwegs. Eile ist geboten! Du weißt, was du zu tun hast, Ambos Schwurbelbart. Das Land ist in Gefahr.«

»Aber ich ...«

»Hol den Jungen! Den Jungen ..., du weißt schon welchen. Den Jungen mit dem Blitz auf der Stirn. Und jetzt ...«, er fiel zurück in den Sessel, seine Stimme verschwamm, »jetzt, hlps, hätte ich gerne was zu trinken.«

3

Ambos Schwurbelbart, ausführender Direktor der Zaubererakademie Hochwärts, hob sein Frühschoppenbier vom Kneipentisch, hielt es ins diffuse Licht der staubverkrusteten Öllampen, und starrte sinnierend hindurch.

»Dann ist es also wahr, Ambos?« Conserva McGummiball, stellvertretende Direktorin der Akademie, rückte nervös ihre Brille zurecht.

»Ja, Conserva«, nickte Direktor Ambos Schwurbelbart, setzte sein Bierglas ab, sammelte einige verlorene Haare seines gewaltigen grauen Bartes heraus und schaute besorgt in die Runde. »Leider ist es wahr. Die guten Nachrichten, aber auch die schlechten. Es ist die Gemeinschaft der neun Übel, die sich gegen uns erhebt. Kein Leben wird vor ihnen sicher sein. Sie werden Finsternis und Verzweiflung über das Land bringen, Anwohnerparkzonen einrichten und, wenn es ganz dicke kommt, sogar die Öffnungszeiten für die Weihnachtsmärkte verkürzen und ›Gute Zeiten schlechte Zeiten‹ absetzen.«

»Die neun Übel?«, fragte Professor Margarina Kraut, ihres Zeichens Fachhexe für magische Flora und Fauna an der magischen Akademie Hochwärts, dessen Schulrat hier an diesem sonnigen Mittag konferierte.

»Huchnein«, machte Professor Zerberus Ziep, ein weiteres Mitglied des Schulrates, und hielt sich die Hände vors Gesicht.

»Was waren jetzt eigentlich die guten Nachrichten?«, fragte Professor McGummiball.

»Ähm, ich hatte gehofft, das ergäbe sich noch irgendwie.«

McGummiball schnaubte missvergnügt. »Nun gut, belassen wir es dabei. Diese neun Übel, Ambos … Wer sind sie?«

Alle am Tisch sahen den Direktor mit fragenden Gesichtern an. Das heißt, bei zwei Personen, die sich so weit auf ihren Stühlen zurückgelehnt hatten, dass ihre Gesichter unkenntlich im Schatten des Kneipendunkels lagen, und die ihre Teilnahme am Schulrat nur durch gelegentliches Nippen an ihren Getränken bekundeten, konnte man höchstens raten, ob ihre Gesichter gerade fragend waren. Dirk Streichler jedoch, des Direktors vielsagendes Orakel, der bisher mit auf den Armen liegendem Kopf fest geschlafen hatte, fuhr bei McGummiballs Frage hoch wie vom wilden Dämonen gebissen und starrte McGummiball mit irrlichternden Augen an. »Die Neun?«, schrie er hysterisch. »Wer die Neun sind, fragt Ihr?« Er schaute sich gehetzt um und dämpfte die Stimme. »Fürchtet Ihr euch?«, flüsterte er. »Nun, das solltet Ihr auch. Es sind die Nassguh... Nass..., nein, Naspuhl, ja, so war 's. Die Naspuhl! Einst waren sie, hlps – M...menschen, doch jetzt sind sie Geister ... Ring... Ringgeister, ähm, G-Geisterringer! Ja, Ringer. Die ringen und ringen und ... ähm, hauen Euch den Kopf zwischen den Ohren raus. Jawohl.« Er sank zurück auf die Tischplatte.

»Huchnein«, japste Zerberus Ziep erneut. »Welch Auftritt! Wer ist dieser staubige Kerl eigentlich?« Der Professor rümpfte empfindsam die Nase.

In der Tat war Streichler heute noch um einiges derangierter als am Vorabend, als er dem Direktor seine Weissagung über die dem Land drohenden Gefahren gemacht hatte. Er sah aus, als sei er zwischendurch weit und lange gereist, viel, viel länger, als die geringe Anzahl an Stunden, die seitdem vergangen waren, vermuten ließ, und als habe er während dieser Zeit weder Wasser und Seife noch ein Bett zu Gesicht bekommen: das schwarze Haar um mehrere Zentimeter gewachsen, lang und strähnig wie die Ohren eines Cockerspaniels, der im Regen gestanden hatte, die Bartstoppeln struppig und verkrustet, der lederne Reiseumhang an vielen Stellen eingerissen und so speckig, dass er im schummrigen Licht der staubigen Petroleumlampen glänzte. Jedes Mal, wenn er schnarchend einatmete, sog er außer rauchgeschwängerter Kneipenluft eine seiner langen Haarsträhnen mit ein und hustete im Halbschlaf.

»Das ist Labergrog, Laberthrons Sohn«, erklärte Schwurbelbart mit gesenkter Stimme. »Er war in der vergangenen Nacht noch für mich unterwegs, um aktuelle Informationen zu sammeln.«

»Das ist Labergrog, der Nachkomme Isoliers und Thronerbe Gondels?«, fragte McGummiball skeptisch.

»Naja, davon ist er jedenfalls selbst felsenfest überzeugt«, sagte Schwurbelbart, »aber eigentlich ist er ein Nachkomme Klementines, der Wäscherin unten an der Ecke, und Thronerbe von Ostwestfalen. Und er ist staatlich geprüfter Waldläufer und der Betreiber des Orakelservices ›Mysteryscout24‹. Sein richtiger Name ist Dirk Streichler.«

»Waldläufer? Sieht mir eher aus wie ein Quartalssäufer. Ist er denn überhaupt vertrauenswürdig?«

»Unbedingt«, sagte Schwurbelbart im Brustton der Überzeugung. »Man sollte lediglich die Hand auf der Brieftasche lassen, wenn er wach ist.«

»Na schön«, murmelte McGummiball und klang wenig überzeugt, »berichtigen Sie mich, wenn ich was Blödes sage, aber haben streng genommen nicht weder er noch die Naspuhl irgendetwas in dieser Geschichte verloren?«

»Tja, genau das habe ich ihm gestern Abend auch gesagt. Wissen Sie, was er darauf geantwortet hat? – Dies sei doch schließlich eine Parodie, hat er gesagt, und ...«

»Und abwarten ihr solltet, wer zu Besuch noch alles kommt«, vollendete eine röchelnde Stimme aus dem Nichts Schwurbelbarts Satz.

»Sie sagen es, Professor Jota. So ungefähr waren seine Worte«, bestätigte der Direktor seufzend die körperlose Stimme, die ihren Quell eindeutig unter dem Kneipentisch hatte. Sodann schob sich eine zu der Stimme gehörende klauenartige grüne Hand auf den Tisch und tastete nach einem dickwandigen Glas, in dem dampfend eine glutrote, sämige Flüssigkeit schwappte. Die Klaue fand das Glas und zog es langsam über die Tischkante. Sie beförderte Schlucke der roten Flüssigkeit in einen viel zu großen grünen Kopf, von dem nur zwei fledermausartigen Ohren und ein Büschel Haare, dick wie die Fransen an einem Bucharateppich, über die Tischkante lugten. Nur wenn es sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte das koboldhafte Kerlchen mit Müh und Not über die Tischkante blicken. Ab und zu war das nötig, denn der Direktor machte sich ständig einen Spaß daraus, das Glas mit der roten Flüssigkeit außer Reichweite zu schieben, wenn der kleine Professor danach tastete.

McGummiball sah den Direktor dann jedes Mal missbilligend über die Brillengläser hinweg an. Schließlich winkte sie nach der Kellnerin. »Roswitha, können wir nicht einen Kinderstuhl für Professor Jota bekommen?«

»Tut mir leid, Conserva, aber die sind leider alle am Stammtisch der Hobbels in Gebrauch.«

»Es gut sein lass, Conserva«, ertönte Professor Jotas Stimme unter dem Tisch. »Schon geholfen mir wäre, wenn unter meiner Nase dieser stinkende Müllsack seine Füße nicht parken würde. Und interessieren mich würde, mehr zu erfahren über die besagten neun Übel.«

Mit dem stinkenden Müllsack war Streichler gemeint, der an dieser Stelle plötzlich ein Geräusch wie eine Tankersirene machte und sich schlafend eine Haarsträhne aus dem Gesicht blies.

Schwurbelbart rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her und räusperte sich. »Nun ja, seit der Sache mit dem Ring ist er ein wenig durch Wind. Aber er ist unser einziger Informant in diesem Fall, und was er über die neun Übel herausgefunden hat, ist für uns von existenzieller Bedeutung. Es sind die Naspuhl, die neun Ringgeister aus dem Lande Mordort, ehemals Könige der Menschen, die vom Dunklen Herrscher verraten wurden. ›Ein Strick, sie zu binden und nie mehr zu finden‹ und so weiter. Diese alte Geschichte mit dem Ring, ihr wisst schon, geschmiedet vom dunklen Herrscher Saujung in den Feuern des Trübsalberges, auf den Aufgusssteinen der Welt größten Dämonensauna. Ansonsten wissen wir nicht viel über sie. Es heißt, nach der Vertreibung aus Mordort hätten sie sich in eine andere Welt geflüchtet, eine Parallelwelt zu unserer, ähnlich der der Nupsis, nur heißer, und hätten dort eine neue Schreckensherrschaft etabliert.«

»Heißer?«

Schwurbelbart nickte. »Viel heißer. Man sagt, dort seien selbst die Bürostühle teflonbeschichtet, damit man seinen Hintern wieder davon losbekommt. Es ist eine Welt, die die Katholiken und wir am ehesten mit der Hölle vergleichen würden. Angeblich folgt selbst die Zeit dort anderen Gesetzmäßigkeiten und vergeht unendlich langsam. Aufgrund der immensen Zeitausdehnung sind die Naspuhl zu einer Art bürokratischen Sekte verkommen und verbringen die meiste Zeit damit, sich unsinnige Verwaltungsvorschriften auszudenken. Naja, man sagt ja immer, alles Übel ginge von den Behörden aus und die Zeit vergehe dort unglaublich langsam. An genauere Informationen zu kommen ist schwierig. Man kann nur in ihre Welt hinüberwechseln, wenn man einen Termin hat, und wer die Behörden kennt, weiß, dass das fast unmöglich ist. Unser Freund Streichler ist der Einzige, dem es gelingt, heimlich hinüberzugehen und für uns zu spionieren. Er ist einer der Dunnemals, einer Magiergilde, der die Fähigkeit verliehen ist, zwischen den Welten zu wandeln. Auch ihm ist dadurch ein unnatürlich langes Leben verliehen und er kennt Saujung und die Naspuhl noch aus früheren Tagen.«

Beim Wort ›Saujung‹ fuhr Streichler erneut aus dem Schlaf auf. »Saujung!«, rief er schrill. »Es sind die ... Nasssuhl! Nein, Schlammpfuhl, so war 's. Die Schlammpfuhl! Einst waren Sie, ähm ... Sie waren ... Oger! Ja, genau, Oger. Einst waren sie Oger und heute sind sie ... kleine grüne Schlammwesen, die in unseren Kanalisationen herumwuseln und aus den Toiletten schmutzige Lieder singen, hlps, die kleinen Teufel.« Wieder kippte er vornüber und driftete hinüber in die Schattenwelt.

»Die Wandelei zwischen den Welten scheint ganz schön aufs zentrale Nervensystem zu schlagen«, sagte McGummiball mit Blick auf den Waldläufer und rieb sich das Kinn.

»Ja, speziell wenn das Wetter umschlägt. Wir sollten diese alte Geschichte mit Saujung besser nicht mehr erwähnen.«

»Daran gelegen mir wäre«, rief Professor Jota unter dem Tisch hervor. »Beim letzten Anfall seinen versifften Stiefel in die Seite gerammt er mir hat.«

»Nun ja, das Tröstliche ist, dass die Hölle auch für die Naspuhl eine Welt ohne Wiederkehr ist. Sie können aus ihr nicht entkommen.«

»Aber wenn sie kaum etwas tun und nicht zu uns kommen können, wo liegt dann das Problem?«

Schwurbelbart seufzte tief. »Ach, Conserva, wenn Sie wüssten ... Unter dem Gesichtspunkt nahezu unendlicher Zeitausdehnung sind sie leider alles andere als untätig. Angefangen bei der Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum 5:1 der Engländer gegen Deutschland beim Länderspiel 2001 in München und dem Sieg von Lena Meyer-Landrut beim Eurovision Song Contest sind sie für nahezu alle Katastrophen verantwortlich, die wir aus der Geschichte kennen. Und genauso wie wir, können auch sie sich irdischer Helfer bedienen, um ihre Übel in die Welt hinauszusenden. Und gestern Abend, in einem seiner wacheren Momente«, er ruckte mit dem Kopf in Streichlers Richtung, »da hat er mir mitgeteilt ... hat mir mitgeteilt, dass ...«

Alle am Tisch sahen Schwurbelbart erwartungsvoll an.

»Und?«, fragte McGummiball, als er auch nach einer Minute nicht weitersprach und fortwährend aus dem blind gewordenen Kneipenfenster blickte. Jetzt zuckte er zusammen, als habe er die Anwesenheit der anderen zwischendurch völlig vergessen. Mit sorgenvoller Miene wandte er McGummiball das Gesicht zu. »Sie werden versuchen, den Unaussprechlichen zu rekrutieren.«

Einer der beiden Anwesenden, die bisher im Dunkeln gesessen hatten, beugte sich überrascht ein wenig vor, bevor er, als sei er sich der plötzlichen Bewegung bewusst geworden, innehielt und sich rasch wieder ins Dunkel zurücksinken ließ. Nur kurz war im Licht der Petroleumdeckenlampe das sanfte Schimmern eines silbrigen Kopfschmucks sichtbar gewesen. »Faszinierend«, murmelte er interessiert.

McGummiball hingegen war sichtlich erschrocken. »Ihn-dessen-Name-mir-gerade-nicht-einfällt? Ich dachte, er sei für immer aus unserer Welt getilgt.«

»Leider nicht«, erwiderte Schwurbelbart. »Das ist nur, was ich die Presse damals glauben ließ.«

»Das bedeutet ...«, begann McGummiball verstehend.

»Ja, Conserva, ich fürchte, um damit fertig zu werden, werden wir ihn brauchen.« Schwurbelbart seufzte tief und ein wehmütiger Blick trat in seine Augen. »Wir brauchen den Jungen mit dem Blitz auf der Stirn.«