Read the book: «Der abwegige Talisman», page 2

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Hunki Chrüter sass mit gekreuzten Beinen auf einem dieser modernen runden Strickkissen auf dem Boden des Vortragsraumes der Kirchgemeinde Kreis Fünf, der auch als Gruppenraum benutzt wurde, und betrachtete den neuen Pfarrer, der, wie noch weitere fünf Personen auch, auf so einem Kissen im Kreis thronte. Er hatte seinen lustigen karogemusterten Mantel abgelegt und zum Vorschein kam ein Paar dunkelbraune Manchesterhosen zu einem enormen, gleichfarbigen Rollkragenpullover aus dickster Wolle. Im Gebäude war die Heizung voll aufgedreht. Der Pfarrer schien sich noch nicht an die hier allgegenwärtige Zentralheizung angepasst zu haben. Hunki hatte es eigentlich nicht mehr nötig, in diese Drögeli-Gruppe zu gehen, denn er hatte sein Methadonprogramm erfolgreich beendet und das Kiffen und gelegentliche Saufen wollte er sich gar nicht abgewöhnen. Doch er mochte die Leute und fühlte sich hier zuhause. Darum blieb er. Pfarrer George konnte nur Englisch. Zum Glück konnten das alle anderen auch.

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«Und?», fing Pfarrer Jacques Hunki eine Stunde später im Gang ab.

«Wir haben uns alle vorgestellt: Vorname plus kurze Geschichte, warum wir hier sind. Dann war die Stunde um.»

«Und er?»

«Hat sich auch vorgestellt.»

«Und warum ist er hier?»

«Na, weil Selri jemanden für den Austausch gesucht hat.»

«Er hätte auch nein sagen können.»

«George mag fremde Kulturen.»

«Kann er auch fremde Sprachen?»

«Kein Wort.»

«Da ist doch was faul.»

«Nur weil er nicht Deutsch kann?», grinste Hunki.

«Ach. Ich werd’s schon noch rausfinden. Da ist ein Zacken in seiner Aura. Das spüre ich genau.»

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Auf dem Weg vom Sankt Galler Marktplatz bis zum kleinen Kloster im riesigen Gebäudekomplex, der heute teils der katholischen Diözese, teils dem Kanton gehörte und das sich eigentlich genau dort befand, wo ein Gebäudeteil der kantonalen Verwaltung vermutet werden könnte, kämpfte Prior Hans-Peter gegen einen Schneesturm an, der wieder mal typisch für diese Region war. Der Prior hatte natürlich keinen Schirm dabei. Wer braucht schon einen Schirm, um sich eine Tafel Nussschokolade im Läderach kaufen zu gehen? Doch nicht genug, dass er ewig anstehen musste, da die Tourismusbranche anscheinend weltweit für genau dieses Geschäft warb, nein, als er endlich wieder draussen war, hatte das Unwetter schon begonnen. Er würde sich noch einen Schnupfen holen bei dieser eisigen Bise. Gott sei Dank hatte er sich eine extragrosse Tafel gegönnt, die er nachher, falls er je ankam und nicht vorher weggeweht würde, genüsslich zu einem heissen Würzwein verspeisen durfte. So etwas Feines konnte den Bazillen nur den Garaus machen, da war sich Hans-Peter sicher.

«Wie siehst denn du aus?», staunte Abt Cornelius, der noch gar nicht gemerkt hatte, dass es draussen schneite.

«Wie seh ich denn aus?», zog der Prior die Nase hoch.

«Flockig. Von deinen Augenbrauen bis zu den schicken Wildlederstiefeletten», kicherte Cornelius, der keinen Wert auf sein Äusseres legte.

«Es stürmt draussen, Cornelius. Und nicht nur das. Es gibt eine ganze Welt da draussen. Ach übrigens. Nächste Woche geh ich meinen Freund Pfarrer Jacques in Zürich besuchen.»

«Mit dem Zug?»

«Cornelius, wirklich! Mit dem winterfesten Lancia. Vorderradantrieb.»

«Von mir aus, Hans-Peter. Aber spätestens am Donnerstag bist du wieder da. Dann haben wir Besprechung. Wegen des neuen Esszimmermobiliars, das hier alle unbedingt haben wollen. Mir hätte auch das alte gereicht.»

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Sie war supergut vorangekommen, die spanische Küste entlang, dann die französische, um schliesslich in der Schweiz anzukommen. Suhaila besass den Schweizer Pass aufgrund ihres Schweizer Vaters und wohnte in Zürich. Sie hatte es nicht so mit dem Beten und der Religion. Sie studierte Chemie an der Uni. Das Kopftuch, heute ein leuchtend hellblaues mit dunkelgrünen Punkten darauf, trug sie nur, um ihre marokkanischen Wurzeln mütterlicherseits nicht ganz zu vergessen. Sie parkte in der Einfahrt, schnappte sich ihre beiden Henkeltaschen und spazierte lächelnd in ihre WG.

«Hallo Leute», strahlte sie die Runde im Wohnzimmer an, die um einen grossen Holztisch herumsass, Bier trank und plauderte. «Und wer bist du?»

«David kann nur Englisch», erklärte die eine der beiden Sozialarbeiterinnen, die im Jugendzentrum tätig waren.

«Wie war die Reise?», fragte Ludovico, der Koch der Gassenküche, und gähnte ausgiebig, denn es war schon mitten in der Nacht.

«Toll. Alles gut gelaufen», zwinkerte Suhaila, trank noch eine Tasse Schwarztee mit viel Zucker und ging dann schlafen. Sie war todmüde.

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Der Mörder war dem Jungen bis vor ein Wohnhaus nachgeschlichen und dann in einem sehr billigen Hotel abgestiegen. Nun lag er wach in diesem quietschigen Bett, starrte an die Decke und fragte sich unablässig, was der Junge von dem Pfarrer wollte, dem er anscheinend hinterhergereist war. Klar, Pfarrer George war der Pfarrer der Kirche, in der er den falschen Seymour ins Jenseits befördert hatte. Doch sonst hatte der werte George nichts mit dem Mord zu tun. Wollte der Junge dem Pfarrer vielleicht erzählen, dass er ihn, den Mörder, gesehen hatte. Nicht auszudenken, was das für Konsequenzen hätte. Der Pfarrer würde die Polente alarmieren und dann würde er im Gefängnis landen. Und alles wegen dieses Jungen, der seine Zeit unbedingt in der Kirche verbringen musste. Hätte er nicht sonst wo sein können? Zuhause im Bett zum Beispiel, wie es bei einem Jungen in dem Alter um diese Uhrzeit normal gewesen wäre? Dann müsste er jetzt nicht hier hocken, in einem fremden Land, in dem sie eine Sprache sprachen, die kein Mensch verstand. Und Geld verdienen konnte er hier auch keins. Schliesslich konnte er nicht mit einem Werbeplakat herumlaufen: «Bin Auftragskiller. Haben Sie vielleicht einen Job für mich?» Nicht wahr. Die Zeit wurde also knapp. Er musste bald wieder nachhause. Hatte der Junge ihn überhaupt wirklich erkannt? In der ollen Kirche war es ziemlich finster gewesen. Darum hatte er den bei der Leiche knienden Jungen ja auch erst im letzten Moment erblickt. Wahrscheinlich aber schon. Schliesslich kannten sie sich vom Sehen. Der Junge ging im selben Pub ein und aus wie er selber. Der Wirt war der Bruder der Mutter. Und für ihn war es die Stammkneipe. Dort erzählte er allen, er sei Rentner und habe früher im Norden in der Fabrik gearbeitet. Sein Doppelleben war eigentlich ganz angenehm verlaufen. Bisher. Und nun dieser Junge, der ihm einen dicken Strich durch die Rechnung machen könnte. Vielleicht sollte er ihn bestechen? Mit dem goldenen Armband, das er einem seiner Opfer einmal abgenommen hatte. Anstatt den Jungen umzulegen. Wäre auch eine Möglichkeit. Mal sehen.

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Nachdem Pfarrer Jacques seine Seniorengruppe im Altersheim „Flussmatte“ ausgiebig bei Kaffee und Kuchen besucht hatte, erspähte er, kurz bevor er das Kirchgemeindehaus Kreis Fünf erreichte, drei Personen, die in derselben gebückten Haltung dastanden und auf etwas zu warten schienen. Direkt mit der Nase am Fenster des Vortrags- und Gruppenraumes stand ein blonder Junge in einem weissen Schlabberpullover unter einem gefütterten Jeansgilet im Vorgarten, links auf dem Trottoir draussen lungerte ein vierschrötiger untersetzter Mann in einem kleinkarierten Wollsakko und rechts vom Eingang am Strassenrand bemühte sich ein zottiger Typ Mitte fünfzig, der an einer stark stinkenden Zigarette zog, seinen Blick starr auf die Eingangstüre gerichtet zu halten, obwohl er erbärmlich zu frieren schien in seinem dünnen Jäckchen. Als Pfarrer Jacques auf dem Bürgersteig einherschritt und auf Höhe des Kleinkarierten angekommen war, sprang dieser eiligst davon, was den Zottigen aufmerken liess und ebenfalls in die Flucht schlug. Der Junge bemerkte Pfarrer Jacques erst, als dieser ihn ansprach. Er drehte sich erschrocken um und stiess dabei mit dem neugierigen Pfarrer zusammen, sodass dieser Halt suchend die Schulter des Jungen packte, was diesen dazu animierte, sich heftigst aus dem Griff zu befreien. Durch diese Bewegung verschob sich seine Halskette dergestalt, dass sie nicht mehr unter, sondern über dem Pulli zum Liegen kam.

«Was ist das?», staunte Pfarrer Jacques, schob seine offene Hand unter den Anhänger der Kette und liess ihn auf sich wirken.

«Die gehört mir!», sagte der Junge in sturstem Tonfall und auf Englisch.

«Kein Problem», sagte der Pfarrer vorerst, auch auf Englisch, und liess den Anhänger wieder los.

«Möchtest du reinkommen?»

«Gibt es da was zu essen?»

«Wahrscheinlich Kuchen.»

«O.K.» Und die beiden Blonden, der grosse und der kleine, gingen in den privaten Aufenthaltsraum der Kirchgemeinde und liessen es sich bei Früchtekuchen und Schwarztee schmecken.

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Derweil sass die Drögeli-Gruppe nicht weit entfernt im Kreis und hörte ihrem neuen Mitglied zu, einem Rockmusiker mit Lederjacke und langen Haaren, der Hardy hiess und seit langer Zeit «Zückerli», wie er scherzhaft meinte, in Alufolie rauchte. Das Methadonprogramm interessierte ihn nicht. Er wollte einfach etwas weniger oft rauchen. Während der kurzen Pause plauderte Hunki mit Christiane, die immer noch im Methadonprogramm war und beobachtete dabei Pfarrer George, der sich mit Pira und Tonio unterhielt, die beide von ihrer ausgeprägten Haschischsucht loskommen wollten. Tina und Claudia sassen in einer Ecke des Raumes, unterhielten sich über ihre Kinder und darüber, wie die sich freuen würden, wenn ihre Mütter endlich vom Trinken Abschied genommen haben würden.

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«Du siehst recht verfroren aus, Bruno, du solltest nicht so viel rauchen», begrüsste die Stellvertreterin des Hauptkommissars der Spezialabteilung Vier der Kantonspolizei Zürich ihren Kollegen, als er durch den schlecht beleuchteten Korridor in sein Büro schlich, nachdem er vor diesem Pfarrer mit dem frisch-federnden Gang geflohen war.

«Und du bist eine verbitterte alte Kuh!», dachte er missmutig. «Da nützen auch die orange-rot gefärbten Haare nichts. Unsympathisch bleibt unsympathisch.»

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Zuhause in seiner Dachwohnung, in Hörweite der katholischen Sankt Josef Kirche, konnte es Pfarrer Jacques kaum erwarten, dass sein Freund Hans-Peter aus Sankt Gallen auf Besuch kam. Diese kupferne Halskette des jungen David. Die war keltisch. Und nicht etwa nur nachgemacht. Nein. Die war wirklich keltisch. Uralt mit einem uralten Symbol auf der Scheibe, die der Anhänger darstellte: die Doppelspirale, Symbol für das Werden und Vergehen, für Leben und Tod. Normalerweise befasste sich der Pfarrer nicht mit Museumsstücken, sondern mit katholischen Reliquien, die er klaute, um sie dann an Hans-Peter zu verticken, der sie wiederum, unter anderen, an einen leidenschaftlich sammelnden Bischof aus Deutschland weiterverkaufte, mit Zuschlag. Vielleicht kannte Prior Hans-Peter ja auch noch heidnische Sammelwütige. Er musste unbedingt mit ihm reden. Da endlich klingelte es an der Türe.

«Ich hab den Lancia im Halteverbot, Jacques. Genau vor einem Garagentor. Wollen wir einen Ausflug machen? Dann könnte ich umparken.»

«Du hättest auch weiter weg parkieren können, Hans-Peter, ehrlich. Ein bisschen Bewegung täte dir ganz gut.»

«Ach, mir ist es egal, wenn ich nicht die ganzen Blicke der Frauen auf mich ziehe, so wie du, Herr gross und schlank.»

«Und das sagst ausgerechnet du, der die schicksten Stiefelchen der Welt trägt, die Soutane aus erlesenen Stoffen und vom Lancia wollen wir gar nicht erst reden.»

«Das tue ich nur für mich alleine. Das bisschen Eitelkeit werde ich mir wohl noch leisten dürfen bei dem kargen Leben, das wir armen Mönche führen.»

«Karg, dass ich nicht lache!», rief Jacques nach hinten, während er die Treppe runterlief und Hans-Peter ihm wohlgesättigt folgte.

Der Lancia war noch da, sodass die beiden Kabbelnden einstiegen und in Richtung See davonbrausten. An diesem sonnigen Januartag spazierten recht viele Leute die Seepromenade entlang, auf der Sonnenseite der Stadt, am Bellevue beginnend, wo sich eine grosse Schar laut schnatternder Enten versammelt hatte, um die Brotkrumen, die zu ihnen ins Wasser reingeworfen wurden, zu erhaschen. Auf den Grünflächen lag noch ziemlich viel Schnee, der zusammen mit dem Wasser eine weit glitzernde Landschaft von der warmen Sonne malen liess. Kurz nach dem Museum Bellerive blieben die beiden Klerikalen stehen, den Blick auf die vorbeigleitenden Schwäne gerichtet, die majestätisch ihre Bahnen zogen. Es roch nach Schnee und nasser Erde und von irgendwoher mischte sich der Geruch nach heissen Marroni darunter.

«Ich habe einen Jungen aus England getroffen, der ein keltisches Amulett um den Hals trägt, Hans-Peter. Kennst du da vielleicht jemanden?»

«Du wirst es nicht glauben, Jacqui, aber mein neuer Abnehmer, ein Bischof aus Österreich, sammelt alles Mögliche. Er besitzt sogar eine römische Münze, die eigentlich ins Museum gehören würde. So hatte es angefangen. Da war er noch gar nicht Bischof. Die Münze hat ihm auf einer Baustelle, an der er bei einem Spaziergang durch die heilige Stadt vorbeigekommen war, entgegengeleuchtet. Und da gerade alle in der Mittagspause ihre hausgemachte Pasta zu sich nahmen, die ich übrigens auch gerne mal wieder essen würde, klaubte er die Münze einfach vom Boden auf und steckte sie ein. Aber Jacques, ich bin ja sonst nicht zimperlich, doch du kannst doch kein Kind beklauen.»

«Na ja, David ist natürlich schon noch ein Kind, aber er wirkt auf mich wie ein Gauner. Ich wette mit dir um eine grosse Portion Tiramisu, dass ihm diese Halskette nicht in die Wiege gelegt wurde. Ausserdem hat er Angst, auch wenn er es nicht zeigen will. Irgendwie steckt der Kleine in der Klemme. Ich muss herausfinden, was ihn so übervorsichtig sein lässt.»

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Immer noch gähnend schleppte sich Hunki Chrüter am Limmatplatz ins Tram, stieg am Bahnhof ins Nummer Vierzehn um und schon bald wieder an der Haltestelle Schmiede Wiedikon aus. Es war acht Uhr morgens. Suhaila musste in die Uni und hatte heute nur in der Frühe Zeit, sich um den Verkauf von einem der versprochenen Haschischklötze an Hunki zu kümmern. Als Hunki in die Einfahrt von Suhailas WG-Haus einbog, drangen komische Geräusche an sein Ohr, die vom Hauseingang her zu kommen schienen, der um die Ecke, von der Strasse aus nicht einzusehen, lag.

«Was geht denn hier ab?!», rief Hunki, nachdem er um die Hausmauer gelaufen war und vor einem Mann mit einem Messer in der Faust zum Stehen kam, der einen Jungen bedrohte, der einen Stein wurfbereit in der Hand hielt. Beide drehten sich zu Hunki um, der untersetzte Kerl mit dem Messer rannte an ihm vorbei und verschwand, der Junge liess erleichtert den Stein fallen.

«Was ist hier los?», fragte der entgeisterte und nun völlig aufgewachte Hunki den Jungen, der ihn auf Englisch begrüsste, sich bedankte und Hunki die Türe aufhielt. Er erklärte ihm, dass er seit Kurzem hier wohne, im zweiten Stock, zusammen mit Ludovico und Suhaila.

«Da muss ich auch hin», sagte Hunki auf Englisch.

Als sie eintraten, sassen die Chemiestudentin und der Gassenküchenkoch am grossen Tisch beim Frühstück.

«Du bist ja schon wieder hier, David», wunderte sich Suhaila.

«Es ist etwas dazwischengekommen. Ich gehe meinen neuen Freund später besuchen.»

Suhaila trank ihren Tee aus, holte dann einen der Klötze aus dem Schubladenmöbel in ihrem Zimmer und brachte es Hunki ins Wohnzimmer. Den angefangenen Kloben behielt sie hier, für die WG und für fünf Kleinkunden, die nur ein paar Gramm kaufen wollten. Die restlichen vier Klötze würde sie in den nächsten zwei Wochen an drei verschiedene junge Abnehmer und eine ältere Dame in Hippiekluft weiterreichen, die sie dann portiönchenweise weitervertickten. Nur Hunki konnte sich den Schweizer Ankaufspreis für sich alleine leisten, denn er hatte Ende letzten Jahres ein Geschäftshaus von seinem von der Mutter seit Langem geschiedenen Vater geerbt, das er an diverse Parteien vermietete, was ein rechtes Sümmchen ergab.

«Hier, dein Kilo, Hunki.»

«Schön», strahlte Hunki, roch ausgiebig daran und zahlte bar.

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