Seewölfe - Piraten der Weltmeere 18

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 18
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Impressum

© 1976/2013 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-201-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

1.

„Land voraus!“ brüllte Donegal Daniel O’Flynn vom Vormars. „Eine Insel!“

Neben ihm keckerte Arwenack, der Schimpanse, und balancierte aufrecht über die Fockrah, sprang von dort in die Leewanten und sauste wie ein Blitz abwärts.

Sonst sahen ihm die Männer auf der „Golden Hind“ begeistert zu, wenn er über Wanten, Stage, Rahen und Masten turnte, aber jetzt starrten sie alle voraus.

Land!

Das war endlich wieder etwas Greifbares, etwas Festes, auf das man seinen Fuß setzen konnte. Das bedeutete süßes Frischwasser, Frischfleisch, Früchte, Erde, grüne Gewächse, Blumen, ja, auch Blumen, exotische in den seltsamsten Formen.

Die Hölle südlich von Feuerland hatte sie wieder ausgespuckt und in den Pazifischen Ozean entlassen. Stürme und Orkane hatten sich an ihnen die Zähne ausgebissen, sie hatten den Männern der „Golden Hind“ das Letzte abverlangt, sie durchgeschüttelt, die Segel zerfetzt, sie mit Eis und Schnee und Hagel überschüttet, aber die Männer hatten nicht aufgegeben.

Von den Besatzungen der fünf Schiffe, die vor einem Jahr – im Dezember 1577 – aus Plymouth, England, ausgelaufen waren, hatten sie bewiesen, daß sie die zähesten und härtesten waren.

Kapitän Francis Drakes ehemaliger Verband von fünf Schiffen bestand nur noch aus der „Golden Hind“. In den Stürmen unten am Westausgang der Magellanstraße waren die „Marygold“ und die „Elizabeth“ außer Sicht geraten. Sie hatten nach ihnen gesucht, sie aber nicht mehr gefunden. Die „Swan“, das Versorgungsschiff, war verrottet, und sie hatten es an der Ostküste Südamerikas zurückgelassen. Die kleine „Benedict“ hingegen mochte noch unter Segel sein, aber wenn, dann wurde sie von Portugiesen gesegelt, denen sie ihr Schiff querab von Marokko weggenommen hatten. Dieses Schiff der Portugiesen war unter dem neuen Namen „Isabella II.“ in Drakes Verband eingegliedert und von Philip Hasard Killigrew und seinen Männern übernommen worden.

Sie hatten die „Isabella II.“ wieder aufgeben müssen – sie leckte wie ein verrotteter Eimer.

So waren die Männer des Seewolfes, wie Philip Hasard Killigrew genannt wurde, wieder auf die „Golden Hind“ übergestiegen. Und Kapitän Drake war froh gewesen, diese Teufelsbraten an Bord zu haben. Das hatte sich unten am Kap gezeigt. Der Seewolf und seine Männer, die kapitulieren nicht, die mußte man erst totschlagen – und auch da war es denkbar, daß sie wieder aufstanden.

Sie drängten sich auf dem Vorschiff und versuchten, voraus etwas zu erkennen – vergeblich. Dan O’Flynn hatte eben doch die besten Augen an Bord.

Arwenack turnte über die Blinde weg hinaus auf den Bugspriet und zeigte fletschend seine Zähne. Er sah aus, als grinse er über die Männer.

„Ist das ein dämlicher Affe“, sagte Mac Pellew, der abwechselnd mit dem Kutscher aus Hasards Crew für das leibliche Wohl der Männer sorgte. Mac Pellew, schlaksig, dürr und ausgemergelt, war an Bord der „Golden Hind“ der Miesgram vom Dienst.

Smoky, der Decksälteste – auch aus Hasards Crew –, sah ihn schief an.

„Sei ja friedlich, Mac“, sagte er. „Wir meckern ja auch nicht über deine dämlichen Kakerlaken, die du heute statt des Salzfleisches in die Suppe getan hast.“

„Die hab ich nicht reingetan, sondern die sind reingefallen“, sagte Mac Pellew. Dann kriegte er plötzlich starre Augen. „Nun sieh dir das an!“

Arwenack hing schaukelnd an einem Arm unter der Verstagung des Bugspriets und planschte mit den Füßen in der schäumenden Bugsee. Dabei gab er Laute von sich, die sein Wohlbehagen ausdrückten. Es klang wie das Kichern und Glucksen einer Quelle.

Smoky grinste breit. „Der tut das, was ich dir auch empfehlen möchte, Mac.“

Mac Pellew starrte Smoky irritiert an. „Mir? Soll ich da etwa auch herumturnen?“

„Nein“, sagte Smoky, „aber mal deine stinkigen Füße waschen!“

Mac Pellew machte: „Pfff!“ und verschwand wie ein Geist vom Vorschiff.

Auf dem Deck des Achterkastells stand Philip Hasard Killigrew neben Kapitän Drake, den er über die Sichtmeldung Dan O’Flynns informiert hatte. Drake war unter Deck gewesen.

„Das muß die Mocha-Insel sein“, sagte Hasard. „Nach der Seekarte der Spanier liegt sie etwa zwanzig Seemeilen querab der Küste und nördlich von Valdivia.“ Er schaute fragend zu Nuno da Silva, dem portugiesischen Lotsen, hinüber, den sie von einer portugiesischen Prise auf die „Golden Hind“ übernommen hatten.

Nuno da Silva, ein hagerer, schwarzhaariger Mann mit Knebelbart, nickte. „Senor Killigrew hat recht, Capitan.“ Er lächelte dünn. „Manchmal habe ich den Eindruck, daß Sie eigentlich auf mich verzichten könnten. Senor Killigrew ist ein erstklassiger Pilot, von seinen seemännischen und“, er räusperte sich, „kämpferischen Qualitäten ganz zu schweigen.“

Hasard verbeugte sich leicht. „Danke für das Kompliment, Senor, da Silva.“ Er lächelte. „Es ehrt mich, daß Sie das in Gegenwart des Kapitäns sagen. Manchmal denke ich, er hält mich für ...“

„... ziemlich frech“, ergänzte Kapitän Drake und wippte auf den Fußballen. Er mußte zu Hasard hochschauen, der ihn um fast zwei Köpfe überragte. Drake selbst war untersetzt und stämmig.

Hasard verkniff sich ein Grinsen.

Drake legte die Hände auf den Rücken, marschierte zum Backbordschanzkleid, starrte über die See, drehte sich um und kehrte wieder zurück. Vor dem Portugiesen blieb er stehen.

„Valdivia wurde von Pedro de Valdivia gegründet, nicht wahr, Senor da Silva?“

Der Portugiese nickte. „Si, Capitan.“

Drake blickte ihn nachdenklich an. „Wissen Sie noch mehr über diesen Mann, Senor da Silva?“

„Nun“, der Portugiese schien sich unbehaglich zu fühlen, „viel weiß ich auch nicht über ihn. Er gehörte zu den spanischen Conquistadoren unter Pizarro. Nach der Eroberung Perus führte er eine spanische Expedition nach Chile. Er kämpfte sich entlang der Küste nach Süden vor ...“ Der Portugiese verstummte, als er das Aufblitzen in den grauen Augen Drakes sah.

„Er kämpfte sich nach Süden vor“, wiederholte Kapitän Drake fast etwas ironisch. „Das heißt, wie Pizarro und die anderen sorgte er zunächst einmal dafür, die einheimische Bevölkerung auszurotten, nicht wahr?“

„Ich bin weder Pizarro noch de Valdivia, Capitan“, sagte der Portugiese ärgerlich. „Für das, was sie taten, bin ich nicht verantwortlich.“

„Nein, natürlich nicht, Senor da Silva. Ich wollte Sie mit meiner Bemerkung auch keineswegs kränken.“ Er dachte einen Moment nach und fragte ganz überraschend: „Sie wissen, daß ich vor fünf Jahren oben in Panama mit den Spaniern aneinandergeriet?“

„El Draque“, sagte Nuno da Silva. „Ein Kriegsname, der schnell bekannt wurde.“

Drake lächelte. „Mag sein, aber das meine ich nicht. Ich wollte etwas anderes damit sagen. Sehen Sie, Senor da Silva, im Gegensatz zu den spanischen und portugiesischen Eroberern kämpfte ich nicht gegen die einheimische Bevölkerung, sondern stellte mich auf ihre Seite. Die Cimarronen zum Beispiel, jene von den spanischen Plantagen entlaufenen Negersklaven, die Indianerfrauen geheiratet hatten, wußten das zu schätzen und kämpften an meiner Seite gegen die Spanier. Das gleiche Rezept dürfte auch hier, an der Westküste Südamerikas, erfolgreich sein. Wir sprachen über Pedro de Valdivia. Hier an der chilenischen Küste leben die Araukaner. Sie wehren sich gegen das Vordringen der Spanier, die ihnen ihr Land wegnehmen wollen. Sie wissen, was mit de Valdivia passierte?“

Der Portugiese nickte. „Er fiel in die Hände aufständischer Araukaner und wurde zu Tode gefoltert.“

„Richtig“, sagte Drake. „Genau das. Die Indianer zahlten mit gleicher Münze zurück. Die Spanier haben Wind gesät und Sturm geerntet. Ich bin sicher, daß die Araukaner meine Bundesgenossen werden.“

„Sie sind ein Fuchs, Capitan“, sagte der Portugiese.

Drake grinste. „Auch richtig. Der Fuchs im spanischen Hühnerstall. Wir werden sehen.“ Er wurde wieder ernst und starrte über das Schiff voraus. „Sind Sie informiert, ob es auf der Mocha-Insel eine spanische Siedlung gibt?“

Der Portugiese wiegte den Kopf. „Darüber ist mir nichts bekannt. Logisch erscheint mir, daß sich die Spanier zunächst auf dem Festland durchzusetzen versuchen, und da haben sie auch jetzt noch, nach über dreißig Jahren seit Pedro de Valdivia, Schwierigkeiten genug. Ich glaube nicht, daß die Insel von den Spaniern besetzt ist.“

„Der Meinung bin ich auch.“ Drake nickte zufrieden.

Hasard räusperte sich. Drake wandte sich um und blickte ihn von unten herauf an. „Sind Sie anderer Ansicht, Mister Killigrew?“

„Im Grunde genommen nicht, Sir. Nur sind unsere Ansichten nichts anderes als Spekulationen oder Wunschträume. Realistischer wäre es, davon auszugehen, daß eben doch Spanier auf der Insel sind.“

„Aha“, sagte Kapitän Drake. Er wechselte den Blick und zwinkerte Nuno da Silva zu. „Sie sehen, Senor da Silva, hier ist noch ein zweiter Fuchs an Bord.“

„Ein Seewolf – wie ich hörte.“ Der hagere Portugiese lächelte. Gut, die Engländer waren zwar so etwas wie Freibeuter, sie hatten ihm das eigene Schiff weggenommen und ihn an Bord der „Golden Hind“ übernommen, als „Gast“, wie sich Capitan Drake ausgedrückt hatte, aber sie waren auch Kavaliere, besonders dieser breitschultrige, schlanke Riese mit den eisblauen Augen und dem schwarzen Haar. Ein Teufelskerl! Nuno da Silva gestand sich ein, daß er sich wohl, sehr wohl an Bord der „Golden Hind“ fühlte. Und im stillen bewunderte er diese verwegenen Männer. Die würden den Spaniern noch ganz verdammte Nüsse zu knacken geben, das war mal sicher.

 

Drakes Stimme unterbrach seine Gedanken. „Schön, Mister Seewolf, die Männer sollen sich gefechtsklar halten.“

„Aye, aye, Sir“, sagte Hasard.

Innerhalb von knapp sechs Minuten waren die achtzehn Demi-Culverinen auf der Backbord- und Steuerbordseite gefechtsklar. Die Männer, die nicht zu den Geschützbedienungen gehörten, hatten aus der Waffenkammer Pistolen und Musketen empfangen. Dort regierten der alte Barry Burnaby, Drakes früherer Stückmeister von der „Marygold“, und der junge Al Conroy, der unter Hasards Crew als Stückmeister gefahren war. Beide Männer waren nicht mit Gold aufzuwiegen.

Hasard war in den Vormars aufgeentert. Die „Golden Hind“ segelte über Steuerbordbug bei einem leichten West- bis Südwestwind. Die Mocha-Insel war jetzt klar zu erkennen. Hasard kniff die Augen zusammen. Neben ihm spähte Dan O’Flynn mit seinen scharfen Augen auf die Insel, die noch gut anderthalb Meilen entfernt war.

„Erkennst du irgend etwas, Dan?“ fragte Hasard.

Dan O’Flynn, stupsnasig, sommersprossig, blauäugig, ein sehniges, energiegeladenes Bürschchen von knapp sechzehn Jahren, schniefte und sagte kurz und präzise: „Westlich und östlich der Insel Klippen und Riffs, auf der Südseite ruhiges Wasser.“

Hasard lächelte still. „Wer sagt dir denn, daß wir Nordkurs steuern?“

„Die Sonne. Außerdem hab ich mir vor der Wache den Kompaß angeschaut.“

„In Ordnung. Bist du sicher, daß die Südseite der Insel wirklich frei von Klippen und Riffs ist?“

„Aye, Sir.“ Aber Dan O’Flynn schränkte ein. „Soweit ich das von hier aus beurteilen kann. Westlich und östlich der Insel sehe ich kabbeliges Wasser, vor allem an den dunklen Punkten, die sich ganz klar aus der See abzeichnen. Die Südseite dagegen erscheint flach wie ein Teller.“

„Da spielt sich nichts ab, wie?“

„Gar nichts, ein Ententeich wie hinter der Feste von Arwenack.“

„Arwenack, mein Junge“, sagte Philip Hasard Killigrew, „ist zur Zeit ein Traum und von uns so weit entfernt wie der Mond.“

Das Bürschchen blickte zu dem großen Mann hoch, dessen schwarzes Haar vom Wind zerzaust wurde. Andächtig sagte Dan O’Flynn: „Und da steht die dumme Kuh und wartet!“

Hasard blickte ihn irritiert an. „Kuh? Wie bitte? Auf was wartet die?“

„Auf dich.“

Hasards Augen wurden tellergroß, dann besorgt. „Bist du übergeschnappt, Junge?“

Dan O’Flynn seufzte und sagte leise: „Wer stand denn auf der Pier unten im Hafen von Falmouth und schrie drei Hurras für den Seewolf, nachdem du deinem Alten den Marsch geblasen hattest?“

Hasard zuckte fast zurück. Da war sie wieder, die Erinnerung. Und hier, vor dieser verdammten Insel, auf der der Teufel oder sonstwer hausen mochte, rief sie der Bengel wieder wach.

Gwendolyn Bernice O’Flynn, Schwester Dan O’Flynns, grünäugig, rotblond, schlank und groß, stolz und dennoch ein Weib, und was für eins!

„Sagtest du dumme Kuh, du Hundesohn?“ knurrte Hasard. „Und wieso wartet sie auf mich?“

Das Bürschchen grinste. „Frag doch mal den Abendwind, Sir.“

Hasard verschwand vom Vormars. Bevor er auf den Webeleinen nach unten enterte, schaute er noch einmal hoch. „Paß gefälligst auf, was sich da vorn tut, verstanden? Vielleicht sind Spanier auf der Insel.“

„Aye, aye, Sir. Warum hast du eigentlich so einen roten Kopf?“

Hasard fluchte und sauste nach unten. Das Bild der schönen Gwen stand vor seinen Augen, und er fluchte noch, als er auf die Kuhl sprang und dem bulligen Profos Edwin Carberry auf die Füße trat.

Der wollte schon zulangen, ließ aber die Pranke wieder sinken, als er Hasard erkannte.

„Was ist denn mit dir los?“ fragte er verblüfft.

„Mit mir? Nichts!“ sagte Hasard wütend. „Was soll denn mit mir los sein?“

„Das frag ich ja gerade.“

„Frag mal den Abendwind!“ knurrte ihn Hasard an. Er wurde so richtig biestig. „Und grins mich nicht so blöd an.“ Er fuhr herum. „Ben!“

Ben Brighton, der Bootsmann, enterte vom Vorschiff. „Ja?“

„Kümmere dich um das Ankerspill.“

„Ist bereits klar“, sagte Ben Brighton.

„So? Dann laß die Blinde wegnehmen.“

„Bin ich gerade dabei.“

Hasard murmelte etwas Unverständliches und stiefelte mit seinen langen Beinen zurück aufs Deck des Achterkastells.

Der Bootsmann und der Profos blickten sich an und grinsten.

„Der hat heut ’ne Kröte verschluckt“, sagte der Profos.

2.

Dicht unter Land auf der Südseite der Insel wurde der Buganker geworfen. Die Insel schien unbewohnt zu sein. Vor ihnen zog sich ein heller Sandstreifen entlang, auf dem träge ein paar Schildkröten lagen, zwischen denen Seevögel herumspazierten und mit ihren spitzen Schnäbeln nach Beute suchten. Der Strand schwang in einem Bogen nach Osten. Hinter dem Strand erhob sich ein dichter Waldgürtel und versperrte die weitere Sicht. Flach war die Mocha-Insel keinesfalls. Stellenweise vorkommende Erhebungen mochten bis zu zweihundert Yards über dem Meeresspiegel liegen.

Francis Fletcher, der Kaplan an Bord der „Golden Hind“, ein schlitzohriger Posaunenengel, breitete auf dem Achterdeck die Arme aus und rief: „Dies ist das gelobte Land, Männer der ‚Golden Hind‘! Lasset uns beten, daß Gott der Allmächtige in seiner unendlichen Güte uns den rechten Weg gewiesen hat.“

Kapitän Drake drehte sich verärgert zu ihm um. „Wir können später beten, Mister Fletcher. Jetzt müssen erst einmal die Segel geborgen und die Decks aufgeklart werden. Im übrigen darf ich Sie darauf hinweisen, daß Gottesdienste und Betzeiten von mir bestimmt werden.“ Er räusperte sich. „Ob diese Insel das gelobte Land ist, wird sich noch herausstellen.“

Er wollte noch etwas hinzufügen, da gellte Dan O’Flynns helle Stimme vom Vormars.

„Deck! Ein Kanu – nein, mehrere Kanus – Steuerbord achteraus!“

Die „Golden Hind“ lag vor Anker im Wind, den Bug seewärts, das Heck schräg zum Land gerichtet. Francis Drake, Hasard und die Männer auf dem Achterdeck fuhren herum und starrten achteraus.

Um die Ostseite des langen Strandes schossen mehrere Kanus über das Wasser und wurden mit kurzen, raschen Paddelschlägen auf die „Golden Hind“ zugetrieben.

„Araukaner!“ sagte Nuno da Silva. „Ihre Verbündeten, Senor Capitan.“ Seine Stimme hatte einen etwas ironischen Klang.

Es waren sechs Kanus, jeweils mit zwölf hellbraunen, schwarzhaarigen Männern besetzt. Sie trugen als einzige Kleidungsstücke Durchziehschurze und hatten kräftige, stämmige Körper.

Der Kaplan ächzte. Geradezu fassungslos sagte er: „Das sind ja nackte Wilde!“

„Halbnackt, Mister Fletcher“, sagte Hasard, der neben ihm stand. „Sie bemerken hoffentlich den feinen Unterschied.“

Der Kaplan warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und biß sich auf die Lippen.

Die Kanus teilten sich und umkreisten die „Golden Hind“. Die Mienen der Araukaner waren alles andere als freundlich. Finster betrachteten sie das fremde Schiff und die bärtigen Männer mit der hellen Haut.

Drake schwang sich auf das Backbordschanzkleid und winkte ihnen zu. Er lachte breit und lud durch Handbewegungen ein, doch ruhig näher zu kommen. Gestenreich und mit eindrucksvoller Mimik tat er kund, friedliche Absichten zu hegen, ließ ein leeres Wasserfaß zeigen, sagte „gluck-gluck“, um anzudeuten, daß sie Wasser brauchten, klopfte sich auf den Bauch und kaute zum Zeichen des Hungers, verbeugte sich mehrere Male und legte immer wieder seine Rechte aufs Herz.

Ein Kanu löste sich von den anderen und wurde langsam herangepaddelt. Achtern thronte hochaufgerichtet ein breitschultriger, muskulöser Mann. Um den kräftigen Hals trug er eine Silberkette. In den Fäusten hielt er eine Steinaxt – ein Ding, das geeignet erschien, Felsen zu zertrümmern.

Dieser beeindruckende Mann schien so etwas wie ein Häuptling zu sein. Er sagte etwas Unverständliches, und die Indianer stoppten das Kanu mit den Paddeln. Sie taten es sehr geschickt und drehten das leichte Fahrzeug, so daß es parallel zum Achterkastell lag.

Der Mann achtern starrte zu Francis Drake hinauf, wies mit dem Stiel seiner Steinaxt zu ihm hoch und sagte mit einer dunklen Stimme: „Du – Philipp?“

Drake blickte ihn verblüfft an, dann begriff er und lachte schallend. Auf spanisch sagte er: „Nein – kein Philipp! Ich bin Engländer, und dem verdammten Philipp wünsche ich die Pest an den Hals, mein Junge, verstehst du?“

Die Araukaner schnatterten durcheinander. Der Häuptling runzelte finster die Brauen und blieb weiterhin mißtrauisch. Mit einer schroffen Handbewegung brachte er seine Männer zum Schweigen.

„Wir sind keine Spanier!“ rief Drake hinunter. „Wir sind Engländer und eure Freunde!“ Er wandte sich zu seinem Trompeter, dem jungen Tim Brewer, um. „Lauf in meine Kammer, Tim, und hol den Zierdegen aus dem Schapp links neben der Koje. Ich will ihn dem Häuptling als Geschenk überreichen, los, ab mit dir!“

„Aye, aye, Sir.“ Der Junge flitzte los.

„Ogottogott“, murmelte der dicke Kaplan und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Sie wollen diesem Heiden eine Waffe schenken, Kapitän?“

„Allerdings“, sagte Drake spitz. „Ich würde ihm ja gern eine Bibel verehren, aber ich befürchte, daß er sie nicht zu lesen versteht.“

„Das sind doch Menschenfresser“, sagte der Kaplan.

„Sollten sie es sein“, erwiderte Drake mit makabrem Humor, „dann werde ich dem Häuptling empfehlen, Sie als ersten von uns zu schlachten, Mister Fletcher. Das wird bestimmt eine fettreiche Suppe.“

Der Kaplan wurde schneeweiß und sah sich hilfesuchend um. Er blickte nur in grinsende Gesichter.

Stotternd sagte er: „Sie – Sie versündigen sich, Kapitän.“

„Unfug“, sagte der Kapitän schroff und winkte Carberry zu: „Profos, lassen Sie bitte die Jakobsleiter ausbringen.“

„Aye, aye, Sir.“

Die Jakobsleiter wurde auf der Backbordseite ausgebracht. Welchen Zweck sie hatte, mußte auch den Indianern klar sein, aber sie verhielten sich eher erschreckt.

Francis Drake winkte einladend, kletterte selbst die Leiter hinunter, enterte wieder auf und winkte erneut dem Häuptling zu, es ihm gleichzutun.

Der zögerte immer noch und schien sich mit seinen Männern zu beraten. Hasard sah, daß die Indianer Speere sowie Pfeile und Bogen im Kanu liegen hatten. Sechs mal zwölf Indianer ergaben zweiundsiebzig Kämpfer – eine stolze Zahl, auch wenn sie keine Feuerwaffen hatten.

„Ben, paß auf, was die Brüder drüben auf der Steuerbordseite tun“, flüsterte er dem Bootsmann zu. „Behalte die Kanus dort im Auge.“

Ben Brighton nickte nur und schlenderte zum Steuerbordschanzkleid hinüber.

Hasard blickte zum Vormars hoch. Es war, wie er es gedacht hatte: Dan O’Flynn hing halb über der Segeltuchverkleidung und starrte fasziniert auf die Männer in den Kanus.

Hasard flankte über die Balustrade des Achterkastells, glitt über die Kuhl, blieb stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute schweigend zum Vormars hoch. Der Blick aus seinen eisblauen Augen sprach Bände.

Das Bürschchen zuckte zusammen und bezog sofort wieder seinen Ausguckposten, das heißt, unaufhörlich rundum Ausschau zu halten.

Als Hasard sich wieder umwandte, sah er, daß Kapitän Drake es geschafft hatte.

Das Kanu wurde an die Jakobsleiter herangepaddelt, und der Häuptling enterte wie eine Katze hoch. Mit einem geschmeidigen Satz landete er auf der Kuhl fast direkt vor Hasard.

Hasard lächelte ihn an und verbeugte sich leicht, die Rechte auf dem Herzen. Der Häuptling blickte ihn irritiert an. Offensichtlich hatte er so blaue Augen noch nie in seinem Leben gesehen. Er trat noch näher, hob die Rechte und zog vorsichtig mit dem Zeigefinger Hasards linkes Unterlid nach unten.

Hasard verzog keine Miene.

Der Häuptling grunzte, als sein Blick auf Stenmark, den großen, blonden Schweden fiel. Der hatte auch blaue Augen – na, und das Haar!

Er mußte es sich gefallen lassen, daß der Häuptling ihm eins auszupfte und hastig unter dem Schurz verschwinden ließ.

Dann war der Riese Ferris Tucker, Hasards Schiffszimmermann, an der Reihe. Sein rotes Haar leuchtete in der Nachmittagssonne wie eine Fakkel. Er beugte den Kopf und bot dem Häuptling sein Haar zum Zupfen dar. Er verlor mehr als nur ein Haar. Das Büschel verschwand ebenfalls unter dem Schurz.

Von magischer Anziehungskraft erwies sich im weiteren die Hakenprothese von Matt Davies. Dem Häuptling fielen fast die Augen aus dem Kopf, und er sagte etwas zu Matt.

 

Matt Davies grinste so freundlich wie ein Haifisch und sagte: „Damit kann ich Holz hacken, in der Nase bohren, Schädel spalten, Spundlöcher verdübeln, Lasten heben und dir den Arsch aufreißen!“

Der Häuptling nickte bewundernd. Daß ein Mensch statt einer Hand einen scharfgeschliffenen, metallenen Haken hatte, war großer Zauber.

Kapitän Drake räusperte sich diskret, und der Häuptling drehte sich um. Drake hielt ihm auf den offenen Händen den Zierdegen entgegen.

„Für dich, mein Junge.“ Der Häuptling mochte sogar älter als Kapitän Francis Drake sein. Dennoch sagte Drake „mein Junge“. Das war so seine Art, dem Partner sein Vertrauen zu zeigen. Der Häuptling hätte das nie begriffen, auch wenn er die Sprache des Kapitäns verstanden hätte. „Mein Junge“ bedeutete einfach, du bist ein patenter Kerl, und deswegen sind wir ganz schlicht Freunde.

„Mein Junge“ reckte die mächtige Brust, schob den Kopf vor und starrte auf den Zierdegen. Das war so ein ziseliertes, geradezu höchst empfindsam wirkendes Mordinstrument, das dennoch von stählener Biegsamkeit war. Vielleicht war es sogar eine Toledaner Klinge.

Der Häuptling grunzte wieder und klemmte sich seine wüste Steinaxt zwischen die mächtigen Schenkel. Dabei mußte er etwas in die Knie gehen. Die Männer um ihn herum grinsten verstohlen. Zum Glück bemerkte er das nicht. Er starrte auf den Zierdegen und nahm ihn vorsichtig entgegen. Mit beiden Händen. Er spreizte dabei sogar die beiden kleinen Finger weit ab.

Er wog den Zierdegen. Nach dem Gewicht der Steinaxt mußte der Degen so leicht wie eine Feder sein. Das brachte ihn sichtlich durcheinander. Mißtrauisch starrte er den Kapitän an, der lächelnd vor ihm stand.

Drake nahm den Degen zurück, lächelte immer noch, zog blank und stieß die Spitze in die Holzplanken der Kuhl. Dann drückte er. Die Klinge bog sich halbkreisförmig. Er verminderte den Druck, riß die Klinge wieder aus dem Holz und ließ sie durch die Luft pfeifen. Er trat an die Nagelbank, packte die Klinge mit beiden Händen und zog die Schneidefläche über das Holz. Ein haardünner Span flatterte aufs Deck. Demonstrativ stieß Drake die Klinge in die Scheide zurück, die er unter den Arm geklemmt hatte. Es zischte metallen.

„Na, was sagst du jetzt, mein Junge?“ Lächelnd gab Drake dem Häuptling den Zierdegen zurück.

Der nahm ihn entgegen, roch daran, zog die Klinge, ließ sie pfeifen, grinste und merkte nicht, daß ihm inzwischen die Steinaxt aus den Schenkeln gerutscht und aufs Deck gefallen war. Er säbelte durch die Luft und freute sich, mit welcher sirrenden Musik die schmale Klinge die Luft durchschnitt.

Der Kaplan, der vom Achterdeck aus alles beobachtete, kriegte das Zittern in den Knien.

Die Männer auf der „Golden Hind“ grinsten breit. Hasard hatte etwas Angst, daß der Häuptling den Kapitän im Eifer der Spiegelfechterei aufspießen könnte. Aber Drake war vorsichtshalber ein paar Schritte zurückgetreten.

Der Häuptling schnaufte und grunzte und ließ die Klinge durch die Luft pfeifen. Er schien sehr glücklich zu sein.

„Mein Junge“, sagte Drake, „morgen laß ich an Land Wasser holen, ist das klar?“ Er deutete auf das leere Wasserfaß, das am Backbordschanzkleid stand.

Der Häuptling senkte die Waffe und sagte etwas, das wie „kwak-kwak“ klang.

„In Ordnung“, sagte Drake. „Proviant müssen wir auch fassen. Fleisch zum Beispiel.“ Er begann zu kauen und zeigte dabei auf den Sandstrand. Mit der anderen Hand deutete er auf seinen Magen.

Ob der Häuptling das begriff oder nicht, war nicht mehr festzustellen. Er wurde geschockt, und zwar durch den Schimpansen Arwenack.

Der stand rechts von ihm an der Hand von Batuti, dem riesigen Gambianeger, hüpfte auf und nieder, fletschte die Zähne und schwenkte wie wild die freie Hand. Die beiden sahen aus wie Vater und Sohn, vielleicht etwas grotesk, aber dennoch irgendwie lustig.

Der Häuptling schien das nicht zu finden. Er erschrak, starrte voller Entsetzen auf den hüpfenden Arwenack, und als der loskeckerte, raste er mit zwei langen Sätzen über die Kuhl, schwang sich über das Schanzkleid und sauste die Jakobsleiter hinunter.

Sekunden später peitschten die Paddel das Wasser, und die Kanus schossen davon. Die Indianer stießen schrille Schreie aus, die ziemlich bösartig klangen. Die Kanus umrundeten die Landzunge weiter östlich und verschwanden.

Die Männer an Bord der „Golden Hind“ sahen nicht, sehr schlau aus. Den Zierdegen hatte der Häuptling mitgenommen. Seine Steinaxt lag noch an Deck. Hasard bückte sich und hob sie auf. Prüfend wog er sie in der Hand. Ja, mit diesem Ding konnte man Schädel spalten. Die Waffe war griffig und gut ausbalanciert.

Drake war ziemlich wütend und funkelte Batuti an. „Das nächste Mal wird der Affe eingesperrt, verstanden?“

„Aye, Sir.“ Der schwarze Herkules hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Batuti konnte nicht wissen, daß Häuptling vor kleinem Arwenack wegrennt. Tut Batuti leid, Sir, sehr viel leid.“

„Die Indianer hier müßten doch eigentlich Affen kennen“, sagte Hasard.

„Ja, aber keine Schimpansen!“ fauchte Drake und schlug die rechte Faust in die linke Handfläche. „Euer Arwenack hat sich ja auch wie ein kleiner Irrer aufgeführt.“

Hasard verbiß sich eine Antwort. Er starrte den Kapitän nur schweigend an, aber die Härte in seinem Blick sagte alles.

Drake begriff, daß er ein kleines Stück zu weit gegangen war. Batuti war weiß Gott kein Vorwurf zu machen, dem Schimpansen noch viel weniger. Er war so etwas wie ein Maskottchen der „Golden Hind“ und ihrer Besatzung geworden, und das hatte sogar ein Kapitän zu respektieren.

Er räusperte sich und sagte fast entschuldigend: „Gut, gut, natürlich konnte niemand die Reaktion des Häuptlings voraussehen. Ich hoffe nur, daß er kapiert hat, was wir wollen. Schließlich hat er den Zierdegen vereinnahmt ...“

„Und ein paar Haare von Stenmark und Ferris Tucker“, sagte Thomas Moone, der frühere Kapitän der kleinen „Benedict“.

Die Männer grinsten, und der Bordfrieden war wieder hergestellt.

Die Sonne neigte sich dem westlichen Horizont zu, der bis in die Unendlichkeit zu reichen schien.

„Lassen Sie eine Ankerwache aufziehen, Mister Killigrew“, sagte Kapitän Drake, „einen Posten Achterdeck ebenfalls, damit wir vor Überraschungen sicher sind. Morgen früh statten wir der Insel einen Besuch ab. Mac Pellew soll die leeren Trinkwasserfässer bereitstellen.“

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