Read the book: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 368»

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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-765-5

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Davis J. Harbord

Der Mann in Havanna

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1.

4. Januar 1594, vormittags, nordwestlich der Turks-Inseln.

Die „Wappen von Kolberg“ unter dem Kommando Arne von Manteuffels segelte bei Wind aus Norden mit Südostkurs auf die Inseln zu. Vor zwei Tagen hatte sie die Schlangen-Insel, den Stützpunkt des Bundes der Korsaren, verlassen, um den Wachdienst zu versehen – eine Einrichtung, die vom Bund beschlossen worden war.

Der Wachdienst war eine Sicherheitsmaßnahme, um die Schlangen-Insel und Coral Island, wo die Timucuas ein neues Domizil gefunden hatten, gegen unliebsame Fremde abzuschirmen. Die letzten bösen Ereignisse im Zusammenhang mit der Black Queen und Caligula samt deren wilder Horde waren der Anlaß zu diesem gemeinsamen Beschluß gewesen.

Jeweils eins der Schiffe des Bundes hatte also die Aufgabe, für drei, vier Tage den Wachdienst zu übernehmen und die beiden Stützpunkte in einem weiten Bereich abzupatrouillieren. Abgesehen von der Schutzfunktion hatte dieser Wachdienst auch noch den nützlichen Nebeneffekt, die Mannschaften auf Trab zu halten, sie manövermäßig zu trainieren und aufeinander einzuschwören, denn von den wachfreien Schiffen sollten jeweils fünf bis zehn Mann auf das Wachdienst-Schiff übernommen werden, um es nicht unterbemannt auf Patrouillenfahrt gehen zu lassen.

Noch etwas würde sich bei diesen Fahrten günstig auswirken: jeder der Männer würde sich gründliche Revierkenntnisse aneignen. Denn wer sein Revier verteidigen wollte, der mußte es genau kennen. Vielleicht brauchte er eines Tages das Wissen, wo Sandbänke, Untiefen oder gefährliche Korallenriffs lagen, die einem möglichen Verfolger zum Verhängnis werden konnten. Tückisch waren die Gewässer um die Caicos- und Turks-Inseln sowieso.

Als ausgezeichneter Kenner des Reviers um die beiden Stützpunkte war Karl von Hutten mit an Bord der „Wappen von Kolberg“. Er konnte Arne von Manteuffel bei der schwierigen Navigation zwischen den vielen Inseln und Inselchen zur Seite stehen und ihn in die Besonderheiten des Reviers einweisen.

Karl von Hutten hatte die Lotsenaufgabe gern übernommen, gab sie ihm doch Gelegenheit, von Arne von Manteuffel etwas über das Land zu hören, das er nie gesehen hatte – Deutschland.

Er war der Sohn Philipp von Huttens und einer indianischen Häuptlingstochter. Sein Vater war der letzte Generalkapitän der deutschen Kolonie des Handelshauses der Welser in Venezuela gewesen. Seine Eltern waren von den Spaniern umgebracht worden – der Vater ein halbes Jahr vor der Geburt Karls, die Mutter ein Jahr danach. Das Kind war von einer indianischen Amme zum Stamm der Mutter gebracht worden. Später hatten die Spanier auch diesen Stamm ausgerottet, den kleinen blonden Bastard jedoch in ein Kloster bei Puerto Cabello gesteckt, wo spanische Mönche seine Erziehung übernahmen.

Als er siebzehn Jahre alt war, floh er aus dem Kloster und schlug sich zu den Araukanern durch. An deren Seite kämpfte er gegen die Spanier, bis er eines Tages bei einem Gefecht verwundet und von den Spaniern gefangengenommen wurde. Es waren Hasard und die Stammcrew, die Karl von Hutten befreiten und ihm damit das Leben retteten, denn von den Spaniern hatte er als Rebell und Guerilla-Kämpfer das Todesurteil zu erwarten.

Dieser Mann mit den blonden Haaren und den dunklen Augen in dem indianisch geschnittenen Gesicht war sich immer treu geblieben: seit er denken konnte, kämpfte er gegen die Spanier, gegen Unrecht und Unterdrückung. Bei den Seewölfen lernte er die Seemannschaft und den Kampf zur See. Später wurde er Partner Jean Ribaults auf der „Le Vengeur“, und jetzt zählte er mit zu den treusten Gefährten im Bund der Korsaren.

Es konnte nicht Wunder nehmen, daß Arne von diesem großen, breitschultrigen Mann, in dessen Adern das Blut der von Huttens floß, fasziniert war.

Ähnlich erging es Karl von Hutten, der bei Arne von Manteuffel die gleichen Eigenschaften und Charakterzüge erkannte, die er bei dessen Vetter Hasard so achtete und bewunderte. Daß Arne noch dazu aus dem fernen Deutschland stammte, der Heimat der von Huttens, empfand er wie eine freundliche Fügung des Schicksals.

Sie hatten sich viel zu sagen, diese beiden Männer an Bord der „Wappen von Kolberg“. Und sie waren beide wißbegierig.

Aber da war noch ein dritter Mann auf dem Achterdeck der „Wappen von Kolberg“, und auch in seinen Adern floß deutsches Blut: Oliver O’Brien, der eine deutsche Mutter und einen irischen Vater hatte. Dieser stämmige, grauäugige Mann mit dem kantigen, wettergebräunten Gesicht war stellvertretender Kapitän auf der „Wappen von Kolberg“, was ihn jedoch keineswegs daran hinderte, auch einmal kräftig an Deck mit zuzupacken, wenn für ein Manöver mehr Männer gebraucht wurden. Das wiederum wirkte sich günstig für die deutsche Crew aus, ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern.

Hier lernte jeder von jedem, wobei für Arne von Manteuffel auch die spanische Sprache wichtig war, die er durch Karl von Hutten vervollkommnen konnte.

Für die Dauer der Patrouillenfahrt waren aus der Crew Jean Ribaults Donald Swift und Mel Ferrow auf die „Wappen von Kolberg“ zugestiegen, beide Engländer und beide harte und gute Seeleute mit ausgezeichneten Revierkenntnissen, die sie sich auf ihren Fahrten mit der „Le Vengeur“ erworben hatten.

Ferner hatte Philip Hasard Killigrew seine beiden Söhnchen auf die „Wappen von Kolberg“ abkommandiert und seinem Vetter Arne ans Herz gelegt, die beiden Bürschchen „ordentlich in die Pflicht zu nehmen.“

Sie fuhren als Moses an Bord, drückten sich vor keiner Arbeit, waren unheimlich fix und hatten Mumm in den Knochen. In der letzten Nacht hatte es „junge Hunde“ aus Norden geweht, ein ganz hübsches Stürmchen, vor dem sie ein paar Segel hatten bergen müssen. Da waren die beiden Kerlchen mit auf die Rahen hinausgerutscht und hatten mit angepackt, um die Segel aufzutuchen und mit Zeisingen festzubinden.

Die einzige Schwierigkeit mit den Zwillingen bestand darin, daß es fast unmöglich war, sie zu unterscheiden. Es gab absolut keinen äußeren Hinweis, wer Hasard und wer Philip war. Allerdings hatten beide dennoch ein unverwechselbares Merkmal, aber das verbarg sich unter ihren Hemden. Auf der rechten Schulter von Hasard war ein Haifischsymbol eintätowiert, bei Philip hingegen befand sich dieses Zeichen auf der linken Schulter. Diese Zeichen hingen mit der Entführung der beiden Jungen zusammen, als sie noch ganz klein gewesen waren. Eine ganz üble Geschichte war das. Der Seewolf hatte sie Arne erzählt, auch, wie er die beiden totgeglaubten Jungen durch einen Zufall vor sieben Jahren in Tanger wiedergefunden hatte.

„Eine heiße Brühe, Sir?“ fragte eine helle Stimme hinter Arne und riß ihn aus seinen Gedanken.

Er drehte sich um. „Gerne, Philip.“

Der Junge stand mit einem Tablett und drei dampfenden Kummen vor ihm und schaute zu ihm hoch, in seinen eisblauen Augen tanzten Teufelchen.

„Philip geht Ausguck im Großmars, Sir“, sagte er. „Ich bin Hasard.“

„Bist du sicher?“ fragte Arne etwas verdutzt.

„Absolut, Sir.“ Jetzt grinste das Bürschchen.

Arne seufzte und nahm eine Kumme entgegen. „Immer diese Verwechslungen. Kannst du mir mal verraten, wie ich euch auseinanderhalten soll?“

„Ich glaube, ich bin schon etwas größer als Philip, Sir“, erwiderte Hasard. „Ich bin ja auch älter als er.“

Arne schaute zu Karl von Hutten und Oliver O’Brien hinüber, die ebenfalls jeder eine Kumme von Hasard entgegengenommen hatten, dem Dialog lauschten und verstohlen grinsten – natürlich. Es war ja auch ein Witz, wenn Hasard erklärte, er sei deswegen größer, weil er älter als Philip sei.

Arne fragte: „Um wieviel älter, Söhnchen?“

„Bestimmt um mehr als zehn Minuten, Sir“, sagte Hasard.

„Das ist natürlich eine verdammt lange Zeit“, sagte Arne sehr ernsthaft, „aber ich glaube nicht, daß sie ausreicht, um dich schneller als Philip wachsen zu lassen. Außerdem nutzt mir das gar nichts – oder nur, wenn ihr nebeneinandersteht. Aber auch da bin ich mir nicht sicher, ob ich euch unterscheiden kann. Wenn du um zwei oder drei Haaresbreiten größer bist, kann ich lange peilen, um das festzustellen. Gibt’s keine anderen Merkmale?“

Aber da wußte Hasard auch keinen Rat, es sei denn den Vorschlag Mister Carberrys, der einmal erklärt hatte, einem der beiden „Rübenschweinchen“ müsse man einen Ring durch die Nase ziehen, um ihn vom anderen unterscheiden zu können. Da war er von Vater Hasard ganz schön angepfiffen worden mit dem Verweis, er lehne es ab, seine Söhne in irgendeiner Weise markieren zu lassen, sie seien keine Kälber in einer Rinderherde.

Das Erkennungsproblem blieb ungelöst, denn Bruder Philip meldete sich aus dem Großmars und schrie: „Korallenriff Backbord voraus! Auf dem Riff eine größere Jolle! Scheint vom Sturm und vom Seegang draufgeworfen zu sein!“

Die drei Männer stellten die Kummen auf dem Tablett ab, das Hasard immer noch hielt, zogen ihre Spektive hervor und beäugten das Riff samt Jolle. Hasard reckte den Hals, konnte aber nur wenig erkennen. Sie waren noch zu weit weg. Am liebsten wäre er jetzt zu Philip aufgeentert, um mit ihm „um die Wette“ zu peilen. Jeder meinte von sich, er habe bessere Augen als der andere. Darum wetteiferten sie miteinander, wer zuerst etwas sah, wenn sie sich zusammen im Ausguck befanden. Bisher war das Ergebnis unentschieden gewesen.

Aber er war im Moment von Bootsmann Ropers abgeteilt, die Schiffsführung auf dem Achterdeck mit der heißen Brühe zu versorgen – die wurde jetzt kalt.

Er räusperte sich. „Wünschen die Gentlemen noch Suppe?“

„Keine Zeit, Jungchen“, sagte Karl von Hutten, ohne den Kieker abzusetzen. „Stell sie in der Kombüse warm, wir holen’s nach, einverstanden?“

„Aye, aye, Sir.“ Hasard trabte ab.

Karl von Hutten sagte zu Arne gewandt: „Wir sollten besser etwas abfallen. Das Riff gehört zu den Vorläufern der Turks-Inseln. Da sind ganz gemeine Dinger dabei – dicht unter der Wasseroberfläche. Du erkennst sie an dem Kabbelwasser. Sie verlaufen nach Südosten. Siehst du’s?“

„Alles klar“, sagte Arne und zum Rudergänger: „Zwei Strich nach Steuerbord abfallen!“

„Zwei Strich nach Steuerbord abfallen“, wiederholte der Rudergänger und legte Ruder. Kurz darauf meldete er: „Neuer Kurs liegt an.“

„Recht so“, sagte Arne.

„Recht so“, wiederholte der Rudergänger.

Hein Ropers, der Bootsmann der „Wappen von Kolberg“, ließ die Segel nachtrimmen. Weil der Wind jetzt achterlicher einfiel, konnten Schoten und Brassen etwas aufgefiert werden. Die „Wappen“ lief voller und legte etwas an Fahrt zu. Sie steuerten jetzt Kurs Südsüdost und hielten im spitzen Winkel von den Riffs ab.

„Jolle hat Kisten an Bord!“ schrie Philip zum Achterdeck hinunter. Seiner Stimme nach zu urteilen, hatte ihn jetzt die Aufregung gepackt. In Kisten pflegt ja meist etwas drin zu sein – logisch, aber solange man über den Inhalt nichts wußte, konnte man Spekulationen anstellen, zumindest hatte das Nichtwissen den Reiz des Geheimnisvollen.

„Hm, Kisten“, murmelte Arne und gestand sich ein, daß ihn nun auch die Neugier packte. Er ließ den Kieker sinken und schaute Karl von Hutten an.

Dessen Gesicht blieb unbewegt. Fast gleichgültig sagte er: „Keine Kiste ist es wert, wegen ihr das Schiff aufs Spiel zu setzen, Arne.“

„Das Schiff nicht“, sagte Arne, „aber wir könnten mit unserer Jolle hinüberpullen.“

Karl von Hutten schien auch davon nicht viel zu halten, aber bevor er etwas erwiderte, schrillte Philips Stimme los.

„Ein Kerl an Bord!“

Sie zuckten zusammen, fuhren herum und schauten zu dem Riff. Ja, sie konnten es mit bloßem Auge sehen. Ein Mann stand in der Jolle und winkte wie verrückt mit einem farbigen Tuch. Er brüllte auch, seine Stimme klang dünn über das Wasser. Was es war, blieb unverständlich, aber jeder Mann an Bord der „Wappen von Kolberg“ wußte, daß dieser Mann um Hilfe bat.

Wie die Arwenacks so waren die Kolberger noch nie an einem Schiffbrüchigen vorbeigesegelt und hatten ihn seinem Schicksal überlassen. So etwas gab es nicht.

„Nun denn“, sagte Arne lächelnd zu Karl von Hutten. „Dann wollen wir uns diesen Unglücksraben mal an Bord holen. Oder?“

„Einverstanden.“ Karl von Hutten lächelte zurück. „Aber ich glaube nicht, daß er für uns ein Unglücksrabe ist.“

„Was macht dich so sicher?“

Karl von Hutten zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Oder anders herum: ich weiß nur, daß ich ein gutes Gefühl habe, nicht mehr und nicht weniger.“

Das Riff lag jetzt fast querab an Backbord, etwa zweihundert Yards entfernt. Die „Wappen von Kolberg“ ging in den Wind, die Segel wurden auf gegeit. Dann setzten sie die sechsriemige Jolle aus.

Hasard junior zappelte auf der Kuhl herum und hatte bettelnde Augen, als Arne und Karl von Hutten das Achterdeck verließen, um ebenfalls in die Jolle abzuentern.

„In Ordnung“, sagte Arne.

„Danke, Sir“, sagte Hasard und strahlte. Wie der Blitz turnte er in die Jolle hinunter.

Jetzt war’s umgekehrt. Oben im Großmars maulte Philip junior und beneidete den Bruder, der mit dabeisein durfte, wenn das „große Geheimnis“ gelüftet wurde.

Arne schaute noch einmal zu ihm hoch, bevor er in die Jolle abenterte.

„Weiter scharf aufpassen, Philip!“ rief er hinauf. „Nicht davon ablenken lassen, was beim Riff passiert, klar?“

„Aye, aye, Sir!“ rief Philip. „Vorsicht! Ich habe Haifischflossen beim Riff gesehen!“

Arne zeigte klar. Sie hatten Waffen an Bord der Jolle. Die hatte Renke Eggens, sein Erster Offizier, bereits dort deponieren lassen, bevor sie die Jolle aussetzten. Ob Jonas oder nicht – man konnte ja nicht wissen.

2.

Mel Ferrow, der Mann aus Jean Ribaults Crew, saß mit in der Jolle, und zwar als Backbordschlagmann. Als er die Warnung Philips vor den Haien unten in der Jolle gehört hatte, war in seinen wasserhellen Augen ein harter Glanz aufgetaucht – nur kurz, dann war er wieder verschwunden.

Dieser Mann entblößte selten seinen Oberkörper. Auf der Schulter und dem Rücken trug er die gräßlich vernarbten Male einer riesigen Bißwunde – von einem Hai. Wer diese furchtbaren Narben sah, den konnte das kalte Grausen packen. Er mußte sich auch fragen, wie dieser Mann einen derartigen Biß hatte überstehen können.

Zweifellos hatte Mel Ferrow eine eiserne Konstitution, die ihm vermutlich auch das Leben gerettet hatte. Mel Ferrow sprach nie darüber, aber unauslöschlich brannte in ihm der Haß auf den Mörder – auf alle Mörder.

Mel Ferrow suchte den Kampf mit den Tiburones. Er versuchte auch, den Feind, den er so grenzenlos haßte, zu überlisten. Manchmal hockte er draußen auf den Klippen vor der Schlangen-Insel, bewaffnet mit einem Blunderbuss, und warf blutige Fleischbrocken ins Wasser. Und wenn sie heranpfeilten, dann schoß er.

Jean Ribault, der diese Massaker für sinnlos erklärte, fand bei ihm kein Gehör und hatte in dieser Beziehung auch keine Befehlsgewalt über ihn. Das Töten von Haien war für Mel Ferrow wie ein Zwang, kaum etwas konnte ihn davon abhalten, auch nicht die Warnung Jean Ribaults, daß Mel Ferrow eines Tages den kürzeren ziehen werde, wenn er diese verdammte Haifischjagd nicht aufgäbe. Aber Mel Ferrow war auf diesem Ohr taub.

Karl von Hutten hatte Hasard nach vorn in den Bug der Jolle beordert, wo er nach Riffspitzen unter Wasser Ausschau halten sollte. Die sechs Rudergasten hatten Anweisung, die Riemen nicht zu kräftig durchzuholen – auch das war eine Vorsichtsmaßnahme. Rammte man trotz aller Aufmerksamkeit dennoch eine Riffspitze, dann war es besser, nicht allzuviel Fahrt draufzuhaben.

So näherte sich die Jolle eher langsam dem Riff, auf dem der Schiffbrüchige mit seinem Boot gelandet war. Natürlich war der Mann glücklich, aus seiner aussichtslosen Lage befreit zu werden – auf dem Riff hätte er nie überlebt –, aber er verhielt sich sonderbar. Immer wieder bückte er sich und redete auf die Kisten ein.

Scheint ’n Spinner zu sein, dachte Hasard, dem dieses Gebaren keineswegs entging. Aber dann zuckte er zusammen, als er die Dreiecksflosse sah, die auf die Jolle zuraste.

„Hai steuerbord voraus!“ schrie er.

„Auf Riemen!“ befahl Karl von Hutten.

Er kannte das. Die Biester attackierten manchmal sogar Ruderblätter und verbissen sich darin. War das der Fall, dann konnte man fürderhin auf den Riemen verzichten, weil der mit seinem zerfetzten Blatt nichts mehr taugte.

„Riemen ein!“ befahl Karl von Hutten.

Die Riemen schwangen hoch und polterten binnenbords, wo sie ihre Plätze mittschiffs und an den Seiten über den Duchten hatten.

„Mußte das sein?“ fragte Arne.

Karl von Hutten zeigte ein flüchtiges Lächeln.

„Ich wollte euch ersparen, daß ihr euch um neue Riemen kümmern müßt“, sagte er. „Die Haie haben auch auf Holz Appetit.“

„Ach so.“ Arne rieb sich das Kinn. „Und jetzt?“

„Abwarten“, erwiderte Karl von Hutten.

Der Hai bog ab und umkreiste die Jolle, verfolgt von den Augen der Männer. Das Tier war mindestens an die fünf Yards lang.

„Laß das Messer stecken, Mel!“ sagte Karl von Hutten scharf.

Arne schaute verdutzt zu dem Backbordschlagmann, der ein Messer in der Hand hielt. Es hatte eine zweischneidige Klinge.

„Ich bring das Vieh um!“ knurrte Mel Ferrow.

„Oder umgekehrt“, sagte Karl von Hutten kalt. „Wenn du außenbords springst und den Kampf überlebst, kannst du dich auf das Riff verholen und dort deinen Lebensabend beschließen. Ich nehme dich nicht mehr in der Jolle auf. Von mir aus tob dich an den Haien aus, wenn du auf der Schlangen-Insel bist, aber nicht hier, verstanden?“

„Schon gut“, sagte Mel Ferrow zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Was ist los?“ fragte Arne von Manteuffel. Die Schärfe, mit der Karl von Hutten gesprochen hatte, war nicht zu überhören gewesen.

„Er ist wild darauf, Haie abzuschlachten“, sagte Karl von Hutten hart. „Dabei steht jetzt schon fest, daß er eines Tages in einem Haifischmagen landen wird, dieser Narr. Ich versuche weiter nichts, als ihn davor zu bewahren. Wenn nötig, schlage ich ihm die Pinne über den Schädel!“

Der Hai umkreiste immer noch die Jolle, die allmählich nach Süden abtrieb. Der Mann auf dem Riff stand in seinem Boot und bewegte hilflos die Arme. Vielleicht dachte er, die Männer in der Jolle trauten sich wegen des Hais nicht näher. Tatsächlich sah es so aus, als habe der Hai die Absicht, die Jolle nicht an das Riff heranzulassen, obwohl das unsinnig war. Oder meinte er, seiner Beute auf dem Riff sicher zu sein? Wenn ja, woher wußte er von dem Mann? Konnte er ihn aus dem Wasser heraus erkennen?

Arne schossen diese Gedanken durch den Kopf, während er den Hai beobachtete. Dann wandte er sich an den Backbordschlagmann.

„Was meinen Sie, Mister Ferrow, kann der Hai den Mann auf dem Riff sehen?“

„Ja“, sagte Mel Ferrow, „sogar sehr gut. Die Behauptung, diese Biester hätten ein schlechtes Sehvermögen, stimmt nicht. Ich habe andere Erfahrungen gesammelt. Wenn ich mich zum Beispiel aufrecht hier ins Boot stelle, kann er mich sehen – ich schätze, weil ich mich dann deutlich von der Helligkeit über Wasser abhebe. Auf den Klippen vor der Schlangen-Insel habe ich das ausprobiert. Wenn ich graues Gestein hinter mir hatte, wurde ich von den Haien kaum gesehen. Trat ich dagegen vor, jetzt scharf von der Helligkeit umrissen, waren sie plötzlich da. Sie schossen aus Entfernungen von über hundert Yards heran, teilweise waren sie noch weiter weg gewesen. Das beweist, daß sie sehen können. Passen Sie auf, Sir!“

Mel Ferrow stand auf und stieg auf seine Ducht. Prompt verließ der Hai seine Kreisbahn und glitt auf das Boot zu, zog am Heck vorbei, schnellte jedoch urplötzlich herum und jagte auf das Ruderblatt zu. Bevor er es erreichte, flog ihm das Messer Mel Ferrows in einem silberblitzenden Wirbel entgegen und verschwand bis zum Heft in den linken Kiemenöffnungen hinter dem Maul. Mel Ferrow hatte das Messer mit unheimlicher Wucht geschleudert.

Der Hai bäumte sich auf und schoß, einen knappen Yard vom Heck entfernt, in die Tiefe. Die sichelförmige Schwanzflosse klatschte im Abtauchen mit einem krachenden Schlag aufs Wasser, und es klang, als sei eine Culverine abgefeuert worden. Die Jolle stieg mit dem Heck hoch, als sei es von einer Riesenfaust angelüftet worden.

Mel Ferrow, der nach dem Messerwurf lauernd auf der Ducht gestanden hatte, wurde angehoben, verlor die Balance und krachte rücklings an der Backbordseite auf die Duchten, während sich die anderen Rudergasten alle nach vorn geworfen hatten, um dem Aufsteigen des Bugs entgegenzuwirken.

Hasard junior, vorn im Bug, kippte außenbords, tauchte aber schnell wieder auf, stieß auf den Steven zu, warf die Arme hoch und zog sich wieder an Bord, bevor jemand zupacken konnte, um ihm zu helfen.

Das geschah innerhalb, weniger Sekunden.

Hasard junior fluchte wie ein Fuhrknecht und fuhr Mel Ferrow, der sich gerade wieder hochrappelte, an: „Bist du noch zu retten, Mister Ferrow?“ Er tobte vor Wut, der Kleine! Und dann kriegte Mel Ferrow eine gescheuert, daß es ihm den Kopf nach rechts riß.

„Mister Carberry würde dir die Haut von deinem verdammten Affenarsch schneiden“, brüllte Hasard junior, „daß die Streifen nur so qualmten!“

„Aye, aye, Sir“, murmelte Mel Ferrow völlig verdattert und bewegte den Kopf hin und her, als säße der nicht mehr richtig auf den Schultern.

„Ach, Scheiß!“ tobte Hasard junior. „Scher dich auf deine Ducht, du abgespeckte Filzlaus …“

„Na, na, na“, sagte Arne von Manteuffel, „was sind das denn hier für Reden an Bord der Jolle meiner ‚Wappen von Kolberg‘?“

„Ist doch wahr“, sagte Hasard junior und wischte sich wütend das klatschnasse Haar aus der Stirn. „Wenn der Hai noch lebte, hätte er mich jetzt am Wickel. Oder etwa nicht?“

„Verzeihung“, murmelte Mel Ferrow. Jetzt rieb er sich den Hinterkopf, an dem eine Beule zu wachsen begann.

Hasard junior war immer noch in Fahrt.

„Verzeihung, Verzeihung!“ sagte er keuchend. „Dafür kann ich mir im Bauch eines Hais nichts kaufen, überhaupt nichts! Da kann ich mich nur verdauen lassen!“ Plötzlich wurde seine Stimme zuckersüß, als Mel Ferrow nach achtern stieg, sich aber immer noch den Hinterkopf rieb. „Ei! Ist da eine feine Beule, Mister Ferrow? Das freut mich aber!“ Und schrill: „Hoffentlich brummt dir ’ne Woche lang der Schädel, du aufgedröselte Miesmuschel!“

„Vielleicht könnten wir das Thema jetzt beenden“, sagte Arne von Manteuffel und hatte Mühe, ernst zu bleiben. „Wenn’s beliebt, können wir das später weiter erörtern. Ich möchte gern den Mann abbergen. Klar bei Riemen, Männer!“

Die Riemen wurden wieder ausgebracht, die Jolle nahm erneut Kurs auf das Riff. Von dem Hai war nichts mehr zu sehen. Ob er das Messer seitlich in den Kiemen überleben würde, war mehr als fraglich. Von Artgenossen mit kannibalischen Gelüsten war ringsum nichts zu entdecken. Aber das besagte nichts. Was in der Tiefe der See passierte, blieb menschlichen Augen verborgen – und oft genug war das gut so.

Hasard junior war auch abgelenkt, denn in diesem Moment hörte er es – ein Glucksen und Kollern, ein Gurren und Girren.

Was war das denn?

Und der Mann gluckste und kollerte, gurrte und girrte genauso, während er sich über die Kisten beugte.

Hasards Hals wurde lang und länger, während er diesen merkwürdigen Lauten lauschte und das rechte Ohr zum Riff drehte, um besser hören zu können.

„Das muß ’n Türke sein!“ verkündete er erregt. „Und in den Kisten sind seine Kinderchen! ‚Seid schön ruhig, meine Kinderchen!‘ hat er gesagt …“

„Wieso muß das ein Türke sein?“ fragte Karl von Hutten irritiert.

„Spricht türkisch, Sir“, sagte Hasard junior etwas unwirsch, weil er die Frage höchst überflüssig fand. Wenn einer türkisch sprach, war er bestimmt kein Indianer oder so was.

Trotzdem ergab das alles keinen Sinn – ein Türke in einer schiffbrüchigen Jolle, die eh ziemlich morsch aussah und nur deswegen noch nicht auf Tiefe gegangen war, weil sie auf dem Riff festsaß, vollgepackt mit fünf Kisten, die von dem Türken mit „meine Kinderchen“ angeredet wurden, das Gurren und Girren, nun, das war doch alles reichlich merkwürdig.

Arne von Manteuffel und Karl von Hutten schauten sich an und schüttelten die Köpfe.

„Er nennt seine Kinderchen auch ‚meine Lieblinge‘!“ verkündete Hasard junior. „Und ein Liebling heißt Suleika! ‚Reg dich nicht auf, Suleika‘, hat er gerade gesagt, ‚wir sind gerettet!‘“

„Sag mal, verhörst du dich da nicht?“ fragte Karl von Hutten vorsichtig.

„Nein, Sir“, sagte Hasard junior dennoch ziemlich empört. „Philip und ich haben schließlich sieben Jahre lang die türkische Sprache gesprochen, bevor wir englisch und spanisch lernten. So was vergißt man nicht.“ Er richtete sich im Bug auf und rief etwas Unverständliches zu dem Mann hinüber, offenbar eine türkische Begrüßung, denn der Mann war zunächst verdutzt, begann dann aber zu strahlen und rief etwas zurück, was Hasard junior sofort dolmetschte.

„Er sagt, er wünsche uns allen ein langes Leben, viele Frauen und noch mehr Kinder und Kindeskinder!“

Die Männer im Boot begannen zu grinsen, vor allem deswegen, weil ihnen jemand „viele Frauen“ wünschte. Dagegen war nichts einzuwenden, auch wenn es den Sitten der Kolberger nicht so recht entsprach. Aber es war doch eine sehr freundliche Begrüßung.

Der Mann war stämmig und etwas korpulent, trug einen sichelförmigen Schnauzbart, hatte ein rundes Gesicht und dunkle Augen, die wie polierter Obsidian wirkten. Jetzt funkelte Freude in diesen Augen, Freude und Dankbarkeit. Er verbeugte sich ein ums andere Mal und legte dabei die Hand aufs Herz.

„Auf Riemen und Riemen ein!“ befahl Arne.

Wieder polterten die Riemen auf die Duchten, die beiden Schlagriemen mittschiffs, alle anderen Riemen längs der Bordwand, die Blätter zum Bug gerichtet, die Griffe mit der achteren Ducht abschneidend. Mel Ferrow griff nach dem Bootshaken, der Backbordbugmann ebenfalls, als klar war, daß die Jolle mit der Backbordseite ans Riff herangehen würde. Mit auslaufender Fahrt, steuerte Arne die Jolle an das Riff.

Hasard junior fegte mit einem Satz über Bord aufs Riff, wobei er die Vorleine mitnahm, sofort um eine Riffzacke belegte und darauf die Achterleine wahrnahm, die er ebenfalls um eine Riffzacke schlang. An Backbord wurden Fender ausgebracht.

Hasard junior stand bereits am Boot und hatte Stielaugen, als er auf die Kisten schaute.

„Tauben!“ sagte er fassungslos.

Tauben in einem wrackreifen Boot auf einem winzigen Korallenriff vor den Turks-Inseln!

„Wie bitte?“ fragte Arne von Manteuffel, weil er meinte, sich verhört zu haben. „Sagtest du Tauben?“

„Aye, Sir, Tauben“, erwiderte Hasard junior, wandte sich an den Türken und begann mit dem zu palavern.

Inzwischen sagte Karl von Hutten, ebenfalls noch ziemlich perplex, zu Arne: „So was hab’ ich noch nicht erlebt – Tauben! Was will der Mann hier mit Tauben?“

Arne wollte erwidern, daß gebratene Täubchen ein Leckerbissen seien, aber da rief Hasard junior, daß der Mann Jussuf hieße und aus Beirut stamme. Und schon ging das Palaver weiter, beide redeten mit Händen und Füßen und hatten sich eine Menge zu sagen. Sie lachten und gestikulierten, und die Täubchen girrten dazu.

„He, Hasard!“ rief Arne energisch. „Wir haben nicht die Absicht, hier zu übernachten! Sollen wir ihn jetzt mit seinen Tauben übernehmen, oder will Jussuf aus Beirut lieber das nächste Schiff abwarten?“

„Aber Sir!“ rief Hasard junior. „Er ist doch glücklich, daß wir hier sind. Darum redet er auch soviel …“

„Du nicht minder“, sagte Arne. „Erklär ihm, daß ich ihn sehr herzlich begrüße und ihm auch ein langes Leben, viele Frauen und noch mehr Kinderchen wünsche. Ich sei bereit, ihn mit seinen Tauben an Bord zu nehmen und irgendwo an Land zu setzen – hm, wohin wollte er eigentlich?“

„Nach Havanna auf Kuba“, erwiderte Hasard junior sofort.

Jussuf nickte eifrig. Er hatte wohl mitgekriegt, von was die Rede war. Erwartungsvoll starrte er Arne an.

Der kratzte sich hinter dem Ohr, wechselte einen Blick mit Karl von Hutten und sagte leise: „Ausgerechnet Havanna, was?“

„Das hat uns noch gefehlt“, sagte Karl von Hutten ebenso leise. „Havanna! Warum nicht gleich nach Sevilla oder Kolberg?“ Er grinste.

Arne räusperte sich und sagte zu Hasard: „Wir nehmen ihn erst mal an Bord, dann sehen wir weiter. Erklär ihm, daß wir nicht nach Havanna segeln. Vielleicht setzen wir ihn auf Tortuga oder Hispaniola ab, mal sehen. Sag ihm bloß nichts von unserer Insel, verstanden?“

„Sir, ich bin kein Schwätzer“, sagte Hasard junior etwas pikiert.

„Hab ich auch nicht behauptet“, sagte Arne und nickte seinen beiden Bugleuten zu: „Owe und Jens, seid so nett und packt mit an. Zwei Kisten stauen wir ins Vorschiff, die drei anderen hier in die Plicht.“

Die beiden Männer zeigten klar, enterten auf das Riff über und bugsierten eine Kiste nach der anderen an Bord der Jolle, wo sie sorgsam in Empfang genommen und im Bug und in der Plicht abgestellt wurden.

Bevor Jussuf achtern in die Plicht turnte, legte er wieder die Hand aufs Herz und verbeugte sich mehrere Male, wobei er in miserablem Spanisch kundtat, wie entzückt er sei und wie dankbar, nun doch auf ein längeres Leben hoffen zu dürfen, und er werde von nun an den „Capitán, seinen Sohn und seine tapferen Männer“ täglich in seine Gebete einschließen und Allah ans Herz legen, denn Allah sei groß und Mohammed sein Prophet.

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120 p. 1 illustration
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9783954397655
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