Read the book: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 346»

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Davis J. Harbord

Im Mississippi-Delta

Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-743-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Lake Pontchartrain, Mitte September 1593.

Über die Weite des Sees, an dem weiter unten im Süden, etwa fünf Meilen entfernt, der „missi sepe“, das „große Wasser“, vorbeifloß, zogen die Nebelschwaden. Gerade noch hatten Schüsse über den See gedröhnt, auch der Donner von Kanonen war über das Wasser gerollt, und zwischen dem Dröhnen und Donnern waren die gellenden Stimmen der Kämpfenden, ihr wütendes Gebrüll oder die Aufschreie der Verwundeten zu hören gewesen.

Die Stille, die dann plötzlich, fast von einer Minute auf die andere einkehrte, war fast beängstigend – denn der Kampf war entschieden.

Die nach Nordosten ziehenden Nebelschwaden, die sich zwischen den Sümpfen am Rande des riesigen Sees noch einmal stauten, gaben den Blick frei.

Da lagen auf dem Wasser zwei Galeonen Bord an Bord. Nicht weit von ihnen trieb ein sonderbares Gefährt, ein farbig bemaltes Ding, das auf einem eher plumpen Unterbau, einem Floß nicht unähnlich, eine große Hütte trug. Und weit im Osten des Sees verschwanden drei Einmaster in den kanalartigen Verbindungen, die der See mit dem Lake Borgne hatte, der wiederum in den Chandeleur Sound und damit in einen Teil des nördlichen Küstengebietes des Golfes von Mexiko mündete.

Auf einer der beiden Bord an Bord liegenden Galeonen spähte ein Mann, als ihm die Stille bewußt wurde, ostwärts, und sein verkantetes Gesicht entspannte sich, als er sah, daß der Gegner das Weite suchte.

Philip Hasard Killigrew, in diesem Augenblick an Bord der „San Donato“, senkte den Degen und wischte sich mit dem linken Arm den Schweiß vom Gesicht.

Er schaute nach links hinüber, wo die „Isabella“ längsseits lag, längsseits der „San Donato“, jener Galeone, die kein spanisches Schiff mehr war – abgesehen von fünf Spaniern, die sich ihres Landes schämten.

Drüben auf der „Isabella“ waren die Decks fast leer, weil die Arwenacks auf die „San Donato“ übergewechselt waren, um ihren indianischen Freunden vom Stamme der Timucuas beizustehen, die ein Schnapphahn namens Duvalier mit seinen Kerlen versucht hatte, zu entern. Fast hätte er das geschafft. Aber die Arwenacks waren das Zünglein an der Waage gewesen und hatten den Galgenvögeln handfest dargelegt, daß es für sie besser sei, ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Buchstäblich im letzten Moment war die „Isabella“ bei der so hart bedrängten und bereits geenterten „San Donato“ längsseits gegangen, um die Timucuas herauszupauken.

Als Hasard jetzt zu seiner „Isabella“ hinüberschaute, winkte ihm vom Achterdeck her Old O’Flynn zu. Und seine Geste besagte, daß alles klar sei. Der alte Knochen war beim Entern der Arwenacks an Bord der „Isabella“ geblieben – nicht weil es ihm an Elan fehlte, irgendwelchen Schnapphähnen an die Gurgel zu gehen, nein, einer mußte ja schließlich auf die „Isabella“ aufpassen, falls der Gegner plötzlich auf die Idee verfiel, die Fronten zu wechseln.

Oft genug hatte Old O’Flynn in solchen Fällen die „Isabella“ verteidigt – nicht ganz allein, denn aufgrund einschlägiger Erfahrungen blieb immer eine Reserve an Bord der „Isabella“ – drei, vier Seewölfe samt des Bestandes der Bordtiere, nämlich Arwenack, dem Schimpansen, Sir John, dem Papagei, und Plymmie, der Wolfshündin. Und auch Hasard junior und Philip junior, die beiden Söhne des Seewolfes, gehörten zur letzten Reserve.

Aufatmend registrierte Hasard also, daß die „Isabella“ ungeschoren geblieben war. Keiner der Kerle hatte sich „verirrt“, um sein eigenes Süppchen zu kochen. Sein Blick kehrte zur „San Donato“ zurück und huschte über die Kuhl, wo sich der Kutscher und Mac Pellew bereits um die Verwundeten kümmerten.

Hasard atmete noch einmal durch. Keiner von seinen Arwenacks war unter den Betroffenen, soweit er das feststellen konnte. Da hatte der große Kapitän mal wieder den himmlischen Daumen dazwischengehalten.

Aber die Timucuas hatten drei Tote zu beklagen, und zwölf Krieger hatten Wunden empfangen. Zu viele, dachte Hasard erbittert. Der Weg in die Freiheit und zum Coral Island schien voller Blut und Tränen zu sein. Dabei standen sie erst am Anfang der langen Reise hinunter zu den Caicos-Inseln. Anders ausgedrückt: sie hatten sich infolge des Sturms von ihrem eigentlichen Ziel noch weiter entfernt.

Hasard wurde in seinen Gedanken, die alles andere als frohgemut waren, unterbrochen. Marcos, einer der fünf Spanier, die sich auf die Seite der Timucuas geschlagen hatten, war zu ihm getreten.

Etwas verwirrt sagte er: „Entschuldigen Sie, Capitán Killigrew, haben Sie José gesehen?“

„José?“ Hasard schaute auf und schüttelte den Kopf. „Nein. War er nicht auf der Kuhl gewesen, als wir enterten?“

Marcos zuckte ratlos mit den Schultern.

Etwas bissig sagte Hasard: „Irgendwo muß er doch sein, nicht wahr?“

„Ja“, sagte Marcos lahm und fast hilflos. „Irgendwo muß er sein. Ob er über Bord gegangen ist?“ Sein Blick irrte über das Wasser des Sees, wo die Trümmer der vier versenkten und zerschossenen Einmaster trieben.

Hasard knurrte etwas Unverständliches und setzte mit einer Flanke über die Querbalustrade des Achterdecks. Er landete auf der Kuhl, überquerte sie schräg nach Backbord voraus und steuerte dort die vorderste Culverine an, die nach hinten ausgerollt war, als Marcos und seine vier Kameraden auf die Piraten Duvaliers gefeuert hatten.

Dort lag ein Mann auf dem Bauch – neben ihm noch einer, aber auf der Seite. Er drehte Hasard den Rücken zu.

Hasard beugte sich über den Mann, der auf dem Bauch lag, und drehte ihn um.

Er starrte in die gebrochenen Augen Josés, der ein Messer in der Brust hatte. Hasard wandte sich zum Achterdeck um, aber Marcos stand bereits dicht bei ihm, die Augen aufgerissen. Und dann zuckte noch etwas in seinen Augen auf. Mit einem Sprung fiel er Hasard an, umklammerte ihn und riß ihn zur Seite.

Sie krachten beide auf die Planken. Einen Lidschlag davor war der Schuß gefallen. Das Blei pfiff über sie weg und raste seewärts.

Der Mann, der auf der Seite gelegen und Hasard den Rücken zugedreht hatte, hockte zusammengekrümmt da, die noch rauchende Pistole in der rechten Faust.

Er hatte dreckig gegrinst, als er herumgeschnellt war und gefeuert hatte. Aber dieses Grinsen erstarb zur Fratze, als er sah, daß sein Schuß das gewünschte Ziel verfehlt hatte.

Da hatte er wohl umsonst den „toten Mann“ gespielt. Eine Waffe hatte er auch nicht mehr.

Doch!

Er ließ die abgeschossene Pistole fallen, packte mit schnellem Griff das Messer, das aus der Brust Josés ragte, riß es heraus und federte hoch. Das Grinsen auf seinem Gesicht belebte sich wieder.

Dieser Kerl, einer aus dem verluderten Haufen Duvaliers, war Wohl so das Übelste, was die Seewölfe jemals erlebt hatten. Und man hätte nicht behaupten können, daß sie wenig erlebt hatten. Aber dieser Kumpan eines Oberschnapphahns hatte schlicht die mieseste Visage, der sie je begegnet waren.

Dem Kerl hing das linke Lid halb übers Auge. Es wirkte, als schiele er. Die Nase stand quer und war dabei breitgeschlagen. Das rechte Ohr fehlte – bis auf zerfranste Reste. Und hohlwangig war der Kerl, als sauge er alle Luft gierig nach innen. Die Wangenknochen schienen durch die Haut zu stoßen. Unter diesem wenig erfreulichen Gesicht ragte ein spitzes Kinn vor, ein nach oben gespitztes Kinn, das sich dem Mund entgegenwölbte, als sei es darauf erpicht, abgebissen zu werden.

Vom Scheitel bis zur Sohle war dieser Galgenvogel verdreckt. Man konnte buchstäblich sehen – nicht riechen –, wie dieser Kerl stank. Scheitel war auch übertrieben, weil er den nicht hatte. Dieses schmierige, strähnige Haar war nie mit einem Kamm durchforstet worden – nie! Da mußten sich Generationen von Läusen angesiedelt haben.

Die Seewölfe und die Timucuas waren wie erstarrt. Niemand hatte damit gerechnet, noch auf einen der Kerle zu stoßen, die entweder außenbords befördert worden waren oder aber freiwillig die Flucht ergriffen hatten, als ihnen klar geworden war, daß sie hier auf der Verliererseite standen. Das war zu jenem Zeitpunkt der Fall gewesen, als Hasard den Erpressungsversuch mit den beiden Timucua-Frauen vereitelt und den Oberschnapphahn Duvalier mit einem wüsten Faustschlag ins Wasser befördert hatte.

Was diesen verluderten Kerl bewogen hatte, auf Hasard zu schießen, war schleierhaft. Vielleicht hatte er gedacht, bei einem Treffer die Bestürzung des Gegners ausnutzen und über Bord springen zu können. Gleichviel – er hatte kaum eine Chance, ob mit oder ohne Treffer.

Nur Sekunden waren seit dem Schuß vergangen. Hasard und Marcos hatten sich auf den Kuhlplanken überrollt und schnellten jetzt hoch.

Der Kerl tänzelte etwas vor und fintierte mit dem Messer nach allen Seiten. Es sollte wohl eine Drohgebärde sein, ihm vom Leibe zu bleiben. Mit einem Schuß brauchte er nicht zu rechnen. Die Feuerwaffen waren noch nicht nachgeladen worden. Aber die Arwenacks und die Krieger der Timucuas hatten zum Teil noch ihre Blankwaffen in den Fäusten.

Jetzt zischte auch Hasards Degen wieder aus der Scheide. Er hatte ihn zurückgesteckt, bevor er über die Querbalustrade auf die Kuhl hinuntergeflankt war.

Der Kerl zuckte zusammen.

„Laß das Messer fallen“, sagte Hasard eisig und hob den Degen etwas an.

Einen Schritt rechts neben ihm stand Marcos. Er hatte sein Messer gezogen.

Der Kerl duckte sich lauernd. „Und wenn nicht?“

Hasard zuckte mit den Schultern. „Rechne dir’s selbst aus. Es führen viele Wege in die Hölle.“

Der Kerl blickte tückisch. „Für dich auch.“

„Mag sein, aber du wirst den Vortritt haben.“ Hasards Gesicht blieb ausdruckslos, als er sah, was sich auf der „Isabella“ tat. Der Alte war wahnsinnig. Aber es war zwecklos, jetzt in dieser Situation noch eine Warnung auszustoßen – zwecklos und sogar gefährlich, weil nicht im voraus zu berechnen war, wie dieser Lumpenkerl reagieren würde.

Old O’Flynn mit dem Holzbein zeigte mal wieder seine Turnkünste. Der Kerl konnte ihn nicht sehen. Er stand mit dem Rücken zur „Isabella“, die an der Backbordseite der „San Donato“ lag.

Der Alte war am Großfall der „Isabella“ lautlos hochgeklettert – nur mit Armzug! Die Beine konnte er wegen der Prothese ja nicht zum Kletterschluß mit einsetzen. Hasard und Philip junior zogen den Alten weit nach Backbord hinüber, peilten den Kerl an, richteten das Fall auf ihn aus, liefen an, schwangen den Alten vor und ließen los.

Old O’Flynn segelte weiter, ein schwebender Kobold mit zerfurchtem, granithartem Gesicht, das rechte Holzbein angehoben und wie eine Lanze vorgereckt.

Marcos war es, an dessen überraschter Miene der Kerl bemerkt haben mußte, daß sich hinter ihm etwas abzuspielen schien. Aber als er herumwirbeln wollte, war es bereits zu spät.

Old O’Flynns Holzbein prallte ihm wie eine Ramme an den Schädel und legte ihn um. Er stürzte in das Messer von Marcos und spießte sich auf.

Als Old O’Flynn grinsend zurückpendelte, sprang Ferris Tucker hinzu, fing ihn ab und holte ihn an Deck.

Hasard sah fast rot vor Wut. Sein Degen schepperte in die Scheide zurück.

„Bist du wahnsinnig?“ fuhr er Old O’Flynn an.

Old Donegal verging das Grinsen, und er wurde bockig. Und schon hackte er zurück: „Was paßt dir denn jetzt wieder nicht, he? Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wärt ihr von dem Kerl aufgeschlitzt worden, Donner, Arsch und Halleluja!“

„Von dem doch nicht!“ schmetterte Hasard zurück.

Wie zwei Kampfhähne standen sie sich gegenüber – ein aller und ein junger Kampfhahn, Schwiegervater und Schwiegersohn. Es war eine groteske Szene, und die Arwenacks begannen verstohlen zu grinsen, während die Timucuas nicht wußten, was sie davon halten sollten. Dieser alte Mann mit dem Holzbein hatte doch eine kühne Tat vollbracht, nicht wahr?

„Du bist zu alt für solche Kinkerlitzchen, Mister O’Flynn!“ fauchte Hasard. „Das hätte für dich verdammt ins Auge gehen können. Aber nein, Mister O’Flynn muß immer noch zeigen, was er für ein Kerl ist, nämlich ein Affe, der an Tauen hochturnt und von Schiff zu Schiff schaukelt, wozu ihm die Enkel noch Schwung geben müssen. Aber wir sind hier nicht beim Zirkus, Mister, ganz und gar nicht!“

Old O’Flynn schnappte nach Luft und war seinerseits am Kochen. Außerdem war es eine Beleidigung, ihn als zu alt und als Affen zu bezeichnen. Das ließ er sich nicht bieten. Doch bevor er in die Gegenparade gehen konnte, setzte das Donnerwetter erneut ein.

„Ich wollte den Kerl lebend!“ schnappte Hasard. „Le-bend! Verstehst du? Denn von einem Toten kann ich nichts mehr über diese französische Piratenbande erfahren. Sie haben gezielt angegriffen. Woher wußten sie, daß hier zwei Galeonen lagen? Wo ist ihr Schlupfwinkel? Müssen wir mit weiteren Angriffen rechnen? Und so weiter und so fort! Aber nein, Mister O’Flynn muß mal wieder auf eigene Faust handeln. An mögliche Folgen wird kein Gedanke verschwendet. Soll der Kapitän doch zusehen, wie er das geregelt kriegt, nicht wahr?“

„Das konnte ich doch alles nicht wissen!“ schrie Old O’Flynn wütend.

„Ach nein? Wer ist denn der Hellseher an Bord, he?“ Jetzt legte Hasard so richtig los. „Wer schaut denn dauernd hinter die Kimm und weiß immer schon im voraus, was die Glocke geschlagen hat? Heißt dieser Mann nicht Donegal Daniel O’Flynn, der auf dieser verdammten ‚Empress of Sea‘ bereits zehnmal zur Hölle und zurück gesegelt ist, als wir noch in den Windeln lagen? Hat er da nicht alles schon tausendfach erlebt, wovon wir bisher nur geträumt haben? Aber was hier und jetzt auf diesem Deck passiert ist, das konntest du nicht wissen – der hinter die Kimm schielende, neunmalkluge und weise Mister O’Flynn, der die Kakerlaken husten hört, der weiß von nichts, der hängt sich nur an Taue und spielt das Schaukelmännchen! Und grinst dabei dämlich, als habe er das Pulver erfunden, mit dem man um die Ecke oder im Zickzack schießen kann! Und wer hat dir befohlen, die ‚Isabella‘ zu verlassen, verdammt noch mal? Was ist, wenn jetzt plötzlich von der Backbordseite her erneut irgendwelche Kerle angreifen? Veranstalten wir hier kindliche Spiele – oder wie?“

Old O’Flynn ruckte herum, stelzte zum Schanzkleid und kletterte hinüber zur „Isabella“. Er war voller Zorn, aber er ließ sich nicht vorwerfen, seinen Posten verlassen zu haben. Also nahm er ihn wieder ein.

Hasard starrte ihm erbittert nach. Dieser alte Knochen wurde verdammt wunderlich und immer querköpfiger. Wahrscheinlich war es doch die beste Lösung, wenn er auf der Schlangen-Insel eine Kneipe eröffnete. Das Gezeter, das er angestimmt hatte, als Buddy Boldens Hausboot unter Wehklagen, Trommeln und Gesang vor Stunden an ihnen vorbeigezogen war wie eine Geistererscheinung, hätte bereits ausgereicht, ihm ganz gehörig den Marsch zu blasen. Da hatte der Alte ein Garn gesponnen, das kaum noch zu ertragen gewesen war. Außerdem wurde die Crew von dem Quatsch ganz kribbelig, den er von sich gab. Und wenn man ihn zur Räson brachte, war er eingeschnappt und schmollte.

Ferris Tucker schien ähnliche Gedanken wie Hasard zu hegen.

Er brummte: „Ich dachte, ich seh nicht recht, als dieser alte Poltergeist herüberschwebte, um den Kerl umzustoßen.“

„Er hat ihm den Kopf zerschmettert“, sagte Hasard grimmig. „Der Kerl war schon tot, bevor er in Marcos’ Messer stürzte. Der Alte hatte einen viel zu großen Schwung drauf. Im Ernstfall hätte ich ihm recht gegeben, aber das war kein Ernstfall. Als der Kerl auf mich schoß, das war bitterer Ernst.“ Er drehte sich zu Marcos um. „Danke, mein Junge! Ohne deine schnelle Reaktion wär’s für mich wohl aus gewesen. Der Kerl hätte mich voll erwischt. Dann hätten wir fünf Tote gehabt. Tut mir leid, daß José nicht mehr lebt.“ Diesen letzten Satz sagte Hasard sehr leise und verhalten, wobei er sich bewußt war, daß seine Worte kaum einen Trost bedeuteten. Wenn einer seiner Männer bei diesem Kampf für die Timucuas gefallen wäre, hätte er wahrscheinlich wie versteinert dagestanden, ohne einen Ton hervorbringen zu können. Nie reichten Worte aus, auch nicht bei José. Und dennoch sagte er einen so lapidaren Satz. Hasard preßte die Lippen zusammen. Hol’s der Teufel, dachte er, ein Spanier von der Art Josés ist genauso gut wie jeder meiner Männer, vielleicht sogar besser, weil er sich mit seiner Parteinahme für die Timucuas gegen sein eigenes Land gestellt hatte. Das wollte bei den Spaniern etwas heißen.

In seine Gedanken hinein sagte Marcos: „Er war ein tapferer Mann.“

Hasard nickte. „Ja, das war er.“

Die vier Toten wurden im See beigesetzt, eingenäht in Segeltuch.

Dann ließ Hasard Shawano, den Häuptling der Timucuas, Marcos und Buddy Bolden aufs Achterdeck der „Isabella“ bitten, um sich mit ihnen zu beraten. Denn eins stand fest: irgendwie mußte ein Entschluß gefaßt werden. Wie sollte es weitergehen?

Da waren die fieberkranken Timucuas an Bord der „San Donato“, die geheilt werden mußten, bevor man den Plan der Seewölfe in die Tat umsetzen konnte, nämlich die Timucuas auf Coral Island anzusiedeln. Mit einem Schiff voller Fieberkranker konnte man die Reise dorthin unmöglich antreten. Hier konnte man aber auch nicht bleiben. Jederzeit war damit zu rechnen, daß die Spanier wieder auftauchten – auf der Suche nach den Timucuas, die ihnen die „San Donato“ weggenommen hatten, und nach den verdammten Engländern, die in dieser Ecke der Neuen Welt plötzlich aufgetaucht waren und den Spaniern bereits erhebliche Schlappen beigebracht hatten.

Und dann waren da noch die Schnapphähne Duvaliers, die Beutegeier und Küstenhaie, deren Angriff auf die „San Donato“ zwar erfolgreich abgeschlagen worden war, aber das besagte nichts. Kerle wie diese Galgenstricke waren wie die Zecken. Sie würden wieder zubeißen wollen. Man konnte auf sie draufschlagen, aber sie bissen weiter. Das lag in ihrer Natur.

Das Sumpffieber, dieser tückische Geselle, die Spanier, die sich in der Neuen Welt bereits als die Herren fühlten, und die Halunkenbande Duvaliers, deren Handwerk das Morden und Plündern war – es reichte eigentlich. Dabei war es noch nicht einmal alles.

Das Wetter war unberechenbar, wie der letzte Sturm gezeigt hatte, vor dem sie hierher geflüchtet waren. Und sie lagen an fremden Küsten, die sich zum Teil als Sumpflandschaft darboten und keineswegs einladend waren.

Aber es mußte ein Weg gefunden werden, mit allen diesen Schwierigkeiten fertig zu werden.

Nur welchen?

2.

Mit sieben Einmastern waren Duvalier und seine Bande von der Insel Comfort zum ganz großen Beutezug aufgebrochen, um die beiden Galeonen zu vereinnahmen – „zwei fette Brocken“ –, wie die Schnapphähne von den drei spanischen Seesoldaten der „Santa Teresa“ erfahren hatten.

Aber diese beiden Brocken waren nicht nur „fett“, sondern ausgesprochen unverdaulich gewesen. Der große Beutezug hatte sich zu einem Fiasko entwickelt. Mit drei Einmastern kehrten die Kerle zurück, ziemlich gerupft, zerbeult, zerdroschen und durchgewalkt. Duvaliers Bestand an Galgenstricken war auf etwa dreißig Kerle zusammengeschrumpft, die jetzt verdrossen und mißmutig in den drei Einmastern hockten und zum Teil ihre Wunden leckten.

Auch den Oberschnapphahn Duvalier hatte es erwischt – eine Faust hatte ihn getroffen, aber was für eine, eine aus Eisen. Sie war unter sein Kinn gekracht, hatte ihn angelüftet und ihm das Fliegen beigebracht. Und dann war er im Wasser gelandet. Da hatte er immer noch Sterne gesehen.

Der ganze Kopf schmerzte ihm von diesem fürchterlichen Kinnhaken, so daß er kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Sein Kinn war angeschwollen, und er hatte den Eindruck, dort eine Riesenbirne hängen zu haben. Die Kinnlade war auch verschoben, was ihn daran hinderte, seine Kumpane zu beschimpfen. Natürlich war es deren Schuld, daß sein genialer Plan des mehrfachen Zangenangriffs nicht geklappt hatte.

Sieben Einmaster gegen eine vor Anker liegende Galeone! Die Überraschung war perfekt gewesen. Dabei war diese Galeone nur von Wilden verteidigt worden, abgesehen von den paar spanischen Figuren.

Wenn die andere Galeone nicht aufgetaucht wäre, verflucht, dann hätte das spanische Schiff – ein nagelneues Schiff! – jetzt ihnen gehört.

Da waren auch indianische Weiber an Bord gewesen, junge, hübsche, mit denen sie eine Menge Spaß hätten haben können, zum Teufel!

Duvaliers Visage verzerrte sich zu einer Grimasse der Wut, der sogleich und prompt ein Zusammenzucken folgte, weil der Schmerz durch seinen Schädel raste und ihm signalisierte, daß er noch nicht einmal das Gesicht verziehen durfte.

Er trat einem seiner Kerle in den Hintern und bedeutete ihm, daß er eine Pütz mit Wasser wünsche. Er hockte auf der Mittschiffsluke der Schaluppe, und die Pütz wurde vor ihn hingestellt. Duvalier fand einen schmierigen Lappen in seinen Taschen, tunkte ihn in das Wasser und fing an, sein geschwollenes Kinn mit dem nassen Lappen zu kühlen. Er stöhnte auf. Das Kinn war wie rohes Fleisch.

Der Kerl, der ihm die Pütz mit dem Wasser besorgt hatte, grinste verstohlen. Es war das hämische Grinsen der Schadenfreude.

Als solches wurde es auch von Duvalier aufgefaßt, und Sekunden später grinste der Kerl nicht mehr, sondern irrte taumelnd und nach Luft schnorchelnd über Deck. Duvalier war hochgeschnellt und hatte ihm einen üblen Kantenschlag auf die Gurgel verpaßt. In solchen Schlägen war Duvalier Meister, und sie paßten zu seinen Kampf- und Raufmethoden, die stets voller Tücke und völlig unberechenbar waren.

Die zehn Kerle auf der Schaluppe bemühten sich alle, woanders hinzuschauen und so zu tun, als sei heute ein wunderschöner Tag, der Tag des Herrn gewissermaßen. Denn sie wußten, daß ihr Häuptling, der sich das ramponierte Kinn kühlen wollte, in mörderischer Stimmung war.

Da genügte das Hochziehen einer Augenbraue, das Duvalier nicht paßte oder ärgerte, und schon wurde er rasend. Meist hatte die Bande dann einen Mann weniger, was Duvalier nicht weiter bekümmerte. Es war seine Art, den Kerlen das Kuschen beizubringen. Im übrigen gab es immer Nachschub an Galgenvögeln. Die starben nie aus.

Jetzt allerdings war die Bande erheblich dezimiert worden, und die Situation war alles andere als rosig.

Der Kerl – er wurde Rochelle genannt, weil er behauptete, aus La Rochelle zu stammen – stolperte über eine Taurolle, krachte an Deck und würgte dort weiter, inzwischen blaurot im Gesicht.

Duvalier hockte wieder auf der Luke und behandelte sein Kinn mit dem nassen Lappen. Der Mann auf den Planken, der nach Luft rang, interessierte ihn nicht. Er hatte niemanden zu interessieren. Und wer ihm jetzt helfen würde, der riskierte es, von Duvalier umgebracht zu werden. Aber es war in Duvaliers Haufen sowieso nicht üblich, daß man einem Verletzten beistand und sich um ihn kümmerte. Wer blessiert worden war, hatte eben Pech gehabt und mußte selbst zusehen, wie er sich half.

Die Kerle auf den beiden anderen Einmastern waren am Palavern. Allerdings war das kein fröhlicher Plausch. Nachdem ihre Panik abgeklungen war, ging das Gemeckere los. Jeder wußte es besser als der andere, warum das Unternehmen gescheitert war. Vielleicht dämmerte dem einen oder anderen, daß man sich übernommen hatte. Vielleicht auch gab es einige, die sich sagten, daß ihr Häuptling einen verkehrten Plan ausgeheckt hatte. Denn er hatte alle sieben Einmaster auf das spanische Schiff angesetzt, ohne zu bedenken, daß dieses Schiff noch von einem anderen begleitet wurde. Und genau dieses andere Schiff war es gewesen, das den Plan Duvaliers zum Scheitern gebracht hatte.

Plötzlich war es aufgetaucht, aus allen Rohren feuernd. Und dann war auch noch dieses verrückte Hausboot mit den verdammten Niggern erschienen und hatte einen der Einmaster buchstäblich zerschmettert.

Irgend jemand mußte ja Schuld an der Niederlage haben, nicht wahr? Und so mancher schaute mit tückischen Blicken zu der Schaluppe hinüber, auf der sich Duvalier befand. Sie vermieden es, seinen Namen zu nennen. Aber hier reagierten sie in der typischen Art der Verlierer, die ihren Führer verfluchten. Hinterher wußte man ja sowieso alles besser.

Auf Duvaliers Schaluppe blieb es still – bis auf das rasselnde Keuchen und Ächzen Rochelles. Der schleppte sich jetzt ans Schanzkleid und erbrach sich.

In Duvaliers kalten Augen tauchte ein zynischer Ausdruck auf. Er hob die Pütz und schleuderte sie samt dem noch darin befindlichen Wasser Rochelle ins Kreuz. Der wäre beinahe über Bord gegangen von dem unvermuteten Anprall. Wütend fuhr er herum.

Duvalier zeigte auf die Pütz und bedeutete, ohne etwas zu sagen, daß er frisches Wasser wünsche. Die Gebärde, mit der er das befahl, genügte, Rochelle dienern zu lassen.

Eilfertig bückte er sich, nahm die Pütz auf, schwenkte sie an der Leine außenbords und hievte frisches Wasser hoch.

Duvalier fixierte ihn aus schmalen Augen, als er herantrat und die Pütz vor ihn hinstellte. Rochelle wich diesem Blick aus und verzog sich wie ein geprügelter Hund zum Vorschiff. Sein Atem ging immer noch rasselnd. Ab und zu fuhr er sich mit der Hand an die Kehle wie einer, der nachprüfen will, ob da nicht eine Schlinge um seinen Hals liegt, die ihn abdrosseln könnte.

Er hatte jetzt Angst vor Duvalier, hündische Angst. Der Schlag an die Gurgel hatte ihn fast ersticken lassen. Die Angst war jedoch mit Wut gepaart – eine gefährliche Mischung. Auch getretene Hunde können noch beißen.

Die Stimmung auf der Schaluppe Duvaliers war katastrophal. Ohne sich darüber klar zu sein, hatte jeder an dem Gurgelschlag Duvaliers mitgewürgt – nicht aus Mitleid, denn dieser Begriff war ihnen fremd. Aber der Schlag hatte auch ihnen gegolten. Und er enthielt die deutliche Warnung, daß sie sich zu ducken hätten. Der Häuptling demonstrierte nach wie vor, auch nach der Schlappe, daß er jedem das Kreuz brechen werde, der es wagte, seinen Führungsanspruch anzuzweifeln oder gar offen zu meutern.

Er hatte ihnen reiche Beute versprochen, jetzt verdrückten sie sich mit eingezogenem Schwanz, weil sie Prügel empfangen hatten. Ja, auch Duvalier hatte sich nicht mit Ruhm bekleckert, wenn man bedachte, wie rasend schnell er von dem großen, schwarzhaarigen Teufel mit dem Degen außer Gefecht und mit der Faust über Bord befördert worden war. Dieser Riese, offenbar der Kapitän der englischen Galeone, hatte ihn abgehalftert wie einen dummen Jungen.

Ja, noch kuschten sie, aber sie sahen ihren Häuptling doch schon mit anderen Augen. Das geschwollene Kinn sprach seine eigene Sprache und verriet, daß er nicht unschlagbar war. Jemand war besser als er gewesen.

Jetzt kühlte er sich dieses Kinn, das Symbol seiner persönlichen Niederlage, und da bröckelte noch mehr von dem Respekt ab, den sie vor ihm hatten. Das Bild wirkte lächerlich, ja grotesk. Er lehnte den Kopf zurück und legte sich in dieser Haltung, in der er zum Himmel aufschaute, den nassen schmierigen Lappen über das Kinn. So verharrte er. Links und rechts vom Kinn baumelten die Lappenenden, aus ihnen tropfte Wasser an Deck, ebenso aus den Enden seines Schnauzbarts, der zu dieser Zeit eine traurige nasse Sichel war.

Fürwahr – der Piratenhäuptling bot keinen heroischen Anblick, eher glich er einer Witzfigur. Die Pütz hatte er zwischen seine Beine geklemmt, was der Phantasie der Kerle freien Spielraum ließ und sie dazu anregte, die Pütz mit einem gewissen Töpfchen zu vergleichen, das die Bürgerleute unter ihren Betten stehen hatten. Mit dieser Vorstellung wurde das Bild noch grotesker.

Die Kerle schauten zwar alle woanders hin, aber sie taten nur so. In Wirklichkeit beobachteten sie ihn aus den Augenwinkeln und ließen sich nichts entgehen. Sie wünschten ihm die Pest an den Hals und gönnten ihm die Birne am Kinn von ganzem Herzen. Sie würde, wie das so ist, noch in verschiedene Farbtöne überwechseln, und auch das würde man mit satter Genugtuung verfolgen können.

Gegen Nachmittag steuerte die geschrumpfte Piratenflotte ihren Stützpunkt auf der kleinen Insel Comfort an. Es war dies eine der vielen Inseln vor dem unübersichtlichen Küstengebiet des Mississippideltas, das für Schiffe mit größerem Tiefgang so gefährlich war. Für die Wegelagerer zur See boten sich hier ideale Verstecke an. Die Insel Comfort war ein solches Versteck. Die Piratenbande Duvaliers fühlte sich hier absolut sicher.

Duvalier konnte wieder fluchen. Seine Kinnbehandlung hatte Erfolge gezeitigt.

Seinen ersten Fluch stieß er aus, als er durch ein Spektiv feststellte, daß die Schaluppe, die man als Ersatzschiff in der Landebucht zurückgelassen hatte, verschwunden war.

Sein zweiter Fluch ging in mehrere über, einer übler als der andere, als offenbar wurde, daß sich die vier Wächter augenscheinlich einen Dreck um die Rückkehr ihres Häuptlings und ihrer Kumpane kümmerten. Sie hätten die heimkehrende „Flotte“ längst sichten müssen. Und es war üblich, anzuzeigen, daß auf Comfort alles klar sei. Des weiteren hatten die Kerle dann am Anleger bereit zu stehen, um die Leinen wahrzunehmen, denn die Einmaster wurden im Päckchen an den Holzstegen vertäut.

Auch wenn es schmerzte, konnte Duvalier bereits wieder mit den Zähnen knirschen. Die Wut war stärker als der Schmerz.

„Wo sind die Kerle?“ fuhr er einen seiner Unterführer an, einen ausgemergelten, hohlwangigen Halunken, der wegen seines kahlen Schädels allgemein Glatzkopf genannt wurde. Seinen richtigen Namen wußte keiner, er selbst wahrscheinlich auch nicht. Er sah aus wie seine eigene Leiche.

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110 p. 1 illustration
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9783954397433
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