Read the book: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 136»
Impressum
© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-460-9
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
1.
Der Wind war etwas launisch, aber noch keineswegs ruppig. Er wehte heiß vom afrikanischen Festland herüber und pendelte zwischen Ost und Südost.
Nein, der Wind war durchaus nicht besorgniserregend. Da hatten sich die Seewölfe schon ganz andere Dinger um die Ohren pfeifen lassen – Stürme, Orkane, in denen, wie der eiserne Edwin Carberry, Profos auf der „Isabella VIII.“, behauptete, „sogar die Möwen ein paar Reffs in die Flügel gedreht hätten.“
Also, dieser müde afrikanische Wind regte sie schon gar nicht auf, kein Stück, Sir!
Dennoch gingen sie wie auf Eiern, die Männer der Dreimast-Galeone „Isabella“ – wenn sie überhaupt gingen!
Eigentlich standen sie mehr und wagten kaum, sich zu bewegen. Wie Marionetten wirkten sie, steif, etwas hölzern. Und sie schwitzten.
Am Schanzkleid der Backbord- oder Steuerbordseite befand sich keiner. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der „Isabella“, hatte gesagt, es sei besser, wenn sie sich mittschiffs aufhielten.
Wegen der Stabilität!
Die sei nämlich so ziemlich im Eimer, hatte Ferris Tucker erklärt und auf Carberrys brummige Frage, was denn, zum Teufel, diese verdammte Stabilität bedeute, erwidert, Stabilität sei das Vermögen eines Schiffes, sich aus einer Krängungslage wieder aufzurichten. Und restlos gestört sei die Stabilität der „Isabella“, weil sie am Rumpf unter Wasser einen ganzen Panzer an Muscheln, Seepocken, Algen und Tang mit sich herumschleppe. Aber er könne sich ja das Maul fusselig reden, niemand halte es für nötig, ihm zuzuhören.
Das hatte er mit einem schrägen Blick zum Achterdeck hin gesagt. Aber Philip Hasard Killigrew hatte ihm doch zugehört. Und außerdem wußte er auch selbst, daß die „Isabella“ in ihrem jetzigen Zustand nicht sonderlich manövrierfähig war. Na, das war noch geschmeichelt. Die sonst so ranke „Isabella“ walzte wie eine kranke, alte Kuh nordostwärts, und genau wie seine Männer hielt Hasard den Atem an, wenn ein stärkeres Windchen diese kranke, alte Kuh zwang, sich nach Lee zu verbeugen. Dann standen sie alle auf Stützen, bis die Kuh nach dieser endlos erscheinenden Verbeugung geruhte, wieder ihre Normalschwimmlage einzunehmen.
Und Hasard hatte Ferris Tucker zugerufen, daß er bereits Kurs auf Tanger abgesetzt habe, um dort ins Dock zu gehen. Denn sie mußte aufgedockt werden, die „Isabella“, da biß keine Maus den Faden ab. „Mit Bordmitteln“, wie der Schiffszimmermann zu sagen pflegte, war der Panzer rund um den Rumpf der „Isabella“ nicht mehr zu knacken. Natürlich, sie hätten die Galeone auf einem einsamen, sandigen Strand aufsetzen können, sie gekrängt und erst die eine Unterwasserseite und dann die andere abgekratzt.
Aber das hätte Wochen gedauert! Und dann die Schinderei!
Denn das hätte bedeutet, daß sie die Galeone hätten leichtern müssen, um sie auf den Strand zu ziehen. Und ihr Bauch war bis unter die Luken voll. Er barg die Beute, die sie im Laufe von über einem halben Jahrzehnt auf ihrer Fahrt rund um die Welt in unzähligen Kämpfen und Gefechten als Seewölfe gerissen hatten. Aber auch Schenkungen waren dabei, Dankesgaben, denn sie hatten sich Freunde erworben – mehr Freunde als Feinde. Nein, sie gehörten nicht zu der Kategorie mordlüsterner Piraten. Aber wenn sie auf Dons stießen, wichen sie keinem Kampf aus, erst recht nicht, wenn sie dabei Menschen helfen konnten, die unter der spanischen Knute zu leiden hatten.
Hasard hatte geschwankt, ob es nicht besser wäre, sofort die „Isabella“ landwärts zu segeln und an einer günstigen Stelle aufzusetzen. Ein Blick auf die Seekarte hatte ihn umgestimmt. Sie waren noch etwa eine knappe Tagesreise von Tanger entfernt, wenn der Wind so blieb.
Tanger bedeutete: mehr Arbeitskräfte zur Überholung der muschelumpanzerten „Isabella“ und damit eine gewaltige Zeitersparnis. Und das hatte den Ausschlag gegeben. Denn sie wollten zurück nach England – so schnell wie möglich.
Nachrichten, Gerüchte, Berichte deuteten auf eine wachsende Spannung zwischen England und Spanien. Es hieß, das mächtige und gewaltige Spanien rüste zu einem entscheidenden Schlag gegen den Inselzwerg England, der zur See immer lästiger wurde und die Frechheit aufbrachte, immer wieder über die Silberflotten herzufallen, die aus der Neuen Welt herübersegelten. Denn Spanien war verschuldet, schwer verschuldet. Und wenn das, was für die Staatstruhen gedacht war, in die Säckchen der königlichen Lissy floß, dann war das schon ein Aderlaß, der nicht mehr so leicht verkraftet werden konnte.
Ja, die Lage war ernst geworden. Und Philip Hasard Killigrew wollte dabeisein, wenn der Große über den Kleinen herfiel. Der Kleine, das war England. Und Hasard hatte sich stets auf die Seite des Schwächeren gestellt.
Außerdem galt es, in England einige Dinge zu regeln und klarzustellen – zum Beispiel die Behauptung zu widerlegen, daß er, Philip Hasard Killigrew, die Königin um ihren gerechten Anteil an gewissen Beuteschätzen geprellt habe. Intriganten hatten dieses Gerücht ausgestreut und damit die Seewölfe zur Flucht aus England getrieben.
Und jetzt kehrten sie zurück – mit neuen Schätzen beladen, Schätzen auch wiederum für die Königin. Das würde den Schandschnauzen die Mäuler stopfen.
Das war das Fernziel.
Noch rund zwölf Stunden bis Tanger, zwölf Stunden, die sich endlos dehnten, zwölf Stunden auf einem Schiff, das sich nicht einmal wehren konnte, wenn es angegriffen wurde.
Ferris Tucker sprach es aus: „Mit dieser lahmen Kuh brauchen wir ’ne Stunde, wenn wir auf den anderen Bug gehen wollen.“
Das hieß im Klartext, bei Gefahr im Verzug kein schnelles Manöver mehr ausführen zu können. Sie hatten keine Zähne und Krallen mehr, die Seewölfe. Und darum schwitzten sie. Sie litten mit ihrer „Isabella“, die schwankend durch die Dünung torkelte.
„O Gott“, murmelte der alte O’Flynn, „o Gott, wenn das nur gutgeht! Damals, auf der ‚Empress of Sea‘ …“
Ein Aufstöhnen Carberrys ließ ihn verstummen. Aber das hing nicht mit dem Aufstöhnen zusammen, sondern in diesem Moment hatte der Wind wieder einmal zugelangt – mit einer Katzenpfote, deren Krallen sogar noch eingezogen waren. Ein liebes, sanftes Katzenpfötchen war das, aber von verheerender Wirkung.
Unendlich langsam verneigte sich die „Isabella“ nach Backbord. Sie hörte gar nicht auf mit dem Verneigen, immer weiter – und noch weiter.
Und den Männern standen die Haare zu Berge.
Denn die „Isabella“ verharrte in der Schräglage. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich wiederaufzurichten. Wenn jetzt noch eine Katzenpfote folgte, dann war es um die „Isabella“ geschehen. Sie hatte jenen Punkt erreicht, der Kenterung bedeutete.
Hasards scharfe Stimme durchschnitt die lähmende Stille: „Alle Mann nach Steuerbord!“
Alle einundzwanzig Männer der Crew reagierten augenblicklich und sprangen an das Steuerbord-Schanzkleid. Sie brachten einige hundert Kilo Lebendgewicht auf die hohe Kante, im Grunde ein lächerlicher Ausgleich zu dem Muschelballast der „Isabella“, aber sie reagierte dennoch.
Nach langen entsetzlichen Sekunden begann sie sich wieder aufzurichten.
Hasard gab zähneknirschend noch einen Befehl.
„Weg mit dem Großsegel!“ sagte er. „Dieser verdammte Lappen fängt zuviel Wind auf und drückt die Tante nach Lee!“
„Die Tante“, das war die „Isabella“. Sie gaben ihr unzählige liebevolle Namen – je nach Wetter- oder Gefechtslage oder auch einfach nur so. Von der „schmukken Lady“ bis hin zum „Mistkahn“. Jetzt prägte der Profos einen neuen Namen: „Muschelsarg!“
Der Muschelsarg ächzte und stöhnte beleidigt und segelte nur noch mit halber Fahrt unter Besan und den Focksegeln. Die Blinde vorn am Bugspriet war bei halbem Wind wie auch am Wind sowieso witzlos, denn sie zog nicht und ließ die „Isabella“ bei Halbwind- und Am-Wind-Kursen nur nach Lee gieren. Dadurch ging Höhe verloren, und der Rudergänger mußte ständig gegensteuern, was sich wieder auf die Geschwindigkeit auswirkte. Aber die war ohnehin beim Teufel. Denn im Kielwasser schleppte die „Isabella“ einen langen Schleier von Tang und Algen hinter sich her, der dicht und zäh war und sich ständig erneuerte, wenn er mühselig gekappt worden war.
Dieses Zeug verfing sich an dem muschel- und pockennarbigen Unterwasserschiff, hing am Ruderblatt, das immer schwergängiger wurde, und webte einen schweren, glitschigen Teppich um den Rumpf.
Nach dem Bergen des Großsegels lief die „Isabella“ etwas aufrechter, aber eben leider langsamer. Die Männer blieben jetzt auf der Steuerbordseite, um mit ihrem Eigengewicht zu trimmen.
Ferris Tucker kletterte aufs Achterdeck, wo Hasard zusammen mit Ben Brighton an der Steuerbordseite lehnte.
Er grinste grimmig und sagte: „Das war buchstäblich in letzter Sekunde. Ich dachte schon, jetzt erholt sie sich nicht mehr, die verdammte Krücke.“
„Ferris“, mahnte Ben Brighton.
„Ist doch wahr! Das ist doch kein Schiff mehr. Seit Wochen predige ich, daß wir diesen Muschelmist abkratzen müßten. Aber da kann man glattweg ’ne Wand anreden …“
„Ferris, sei friedlich“, sagte der Seewolf sanft. „Morgen sind wir in Tanger und haben’s überstanden.“
„So? Sind wir das?“ Ferris Tucker gab keine Ruhe. „Und was passiert, wenn wir ein paar härtere Drücker erwischen? Wer garantiert, daß das Wetter so bleibt?“
„Niemand“, erwiderte Hasard. „Und wenn wir härtere Drücker kriegen, müssen wir eben noch mehr Segel wegnehmen.“
„Ha! Dann sind wir erst im nächsten Jahr in Tanger.“
Hasard musterte den rothaarigen Riesen.
„Bist du auf Streit aus, Ferris?“ fragte er freundlich.
„Nein, aber ich lehne jede Verantwortung für den jetzigen Zustand des Schiffes ab.“
„In Ordnung“, sagte Hasard lächelnd. „Übrigens ist mir da eben noch was durch den Kopf gegangen. Wir könnten ein bißchen vorbeugen, wenn’s happiger wehen sollte. Und weißt du, wie?“
„Nein.“
„Ich bin zwar nicht der Schiffszimmermann, der über Stabilität eine Menge zu sagen weiß“, erklärte Hasard, und etwas Spott schwang in seiner Stimme mit, „aber ich könnte mir denken, daß es vielleicht gut wäre, einigen Ballast nach Steuerbord zu trimmen, gewissermaßen als Gegengewicht zu der Krängung nach Backbord. Wir können Tanger anliegen, wenn der Wind nicht nördlicher dreht. Das heißt, wir werden die nächsten Stunden auf Backbordbug weitersegeln. Um die kleinen Drükker abzufangen, die jetzt unserer ‚Isabella‘ gefährlich werden könnten, müßte es doch genügen, wenn wir mit Ballast gegentrimmen. Was meinst du, Ferris?“
Der Schiffszimmermann hatte rote Ohren und murmelte: „Aye, aye, Sir.“
„Weißt du“, sagte Hasard, „mir fiel das ein, als wir uns vorhin so anhaltend nach Lee verneigten und das Gewicht der Männer offensichtlich ausreichte, die ‚Isabella‘ wiederaufzurichten. Und mir fiel auch ein, daß man doch dieses Gewicht beliebig vergrößern könnte – was bewirken würde, daß man dann auch das Großsegel wieder setzen kann, zwecks schnellerer Fahrt Richtung Tanger.“ Hasard rieb sich die Nase. „Ja, das fiel mir so ein, obwohl ich nicht der Schiffszimmermann bin, sondern nur der lausige Kapitän eines Muschelsargs. Ja, und an der Verantwortung trage ich so schwer, daß sie fast als Trimmballast ausreichen müßte. Oder meinst du, daß ich sie jetzt auch ablehnen darf, Ferris?“
Die roten Ohren von Ferris Tucker hatten inzwischen eine knallrote Färbung angenommen.
„Ich hab’s begriffen, Sir“, sagte er, und es klang ziemlich gequetscht. „Bitte um Entschuldigung.“
Hasard lächelte fröhlich. „Nichts da! Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Ferris! Außerdem weißt du genau, daß du unersetzbar und der beste Schiffszimmermann Englands bist. Im übrigen hattest du mich, was den Muschelbewuchs betrifft, lange genug gewarnt. Der jetzige Zustand der ‚Isabella‘ geht also zu meinen Lasten. Und wenn du sauer bist, dann verstehe ich das. Alles klar, Ferris?“
„Aye, Sir, alles klar.“ Ferris Tucker starrte auf seine Fußnägel, denn er ging wie alle anderen auch barfuß – nicht um Sohlen zu sparen, sondern weil’s bei dem Klima angenehmer war. Die langschäftigen Seestiefel würden sie früh genug wieder anziehen müssen, wenn sie weiter nördlich segelten. „Hm“, brummte er, „ich war nur sauer, weil mir das mit dem Trimmen nicht selbst eingefallen ist. Manchmal hat man ein Stück Kielholz vorm Schädel.“
„Hatte ich ja auch“, sagte Hasard, „dabei hätte mir einfallen müssen, daß ich bereits als Junge mein Gewicht einsetzte, wenn ich mit der kleinen Jolle von Sir John in den Buchten von Cornwall segelte. Ich hockte mich bei Am-Wind-Kursen auf die Luvkante, und wenn Böen einfielen, hing ich fast außenbords, um sie abzufangen. Wenn wir jetzt mit festen Gewichten trimmen, wird das so eine Art Balanceakt. Ein Zuviel an Trimmgewicht nach Steuerbord könnte schon wieder gefährlich sein.“
„Ich hab’s“, sagte Ferris Tucker, und jetzt hatte er keine roten Ohren mehr.
„Na?“
„Wir fummeln das mit den acht Culverinen auf der Steuerbordseite hin“, erklärte Ferris Tucker. „Ganz einfach. Wir fahren sie aus wie bei Klarschiff zum Gefecht. Das bringt insgesamt eine Menge Gewichtstrimm nach Luv – vor allem mit den überlangen Rohren – und gibt uns außerdem die Möglichkeit, mittels der Brooktaue die Culverinen je nach Bedarf zu verschieben. Ich meine, mit den Kanönchen können wir auf diese Weise exakt und ohne viel Mühe oder Zeitaufwand trimmen.“
„Genial“, sagte Hasard.
Der rothaarige Riese strahlte und wandte sich um, um zur Kuhl hinunterzusteigen. Er prallte mit Carberry zusammen, der den Niedergang hochwalzte, als habe er die Absicht, eine Mauer einzurennen.
„Ich hab ’ne Idee!“ verkündete er mit seiner Donnerstimme und warf Ferris Tucker einen verächtlichen Blick zu. Dann blickte er Hasard an.
„Ah“, sagte Hasard, „und welche?“
„Wir trimmen Eisen nach Steuerbord, Kugeln, Ketten und so. Auch Fässer, die Anker, alles Schwere!“ Carberry verschluckte sich fast vor Eifer.
„Und Schatztruhen aus den Laderäumen, wie?“ fragte Hasard mit harmloser Miene.
Ben Brighton und Ferris Tucker begannen zu grinsen.
„Ja, genau, die auch“, sagte Carberry begeistert und ignorierte die beiden grinsenden Männer neben Hasard. „Das wird ’n Alle-Mann-Manöver, Sir. Soll ich die Sache in die Hand nehmen? Ich mein, die Kerls müssen mal wieder auf Trab gebracht werden. Die lümmeln am Steuerbord-Schanzkleid ’rum, pulen in den Nasen und klauen dem lieben Gott die Zeit.“
„Hm.“ Hasard kratzte sich am Kinn. „Eine tolle Idee, Ed …“
„Nicht wahr?“ Carberry dehnte den breiten Brustkasten. Ein Lächeln glitt über sein wüstes Narbengesicht mit dem Rammkinn. Wenn Carberry lächelte, konnte es einen grausen.
„Ja, eine tolle Idee“, wiederholte Hasard todernst. „Ferris hatte nämlich auch eine Idee, Ed. So ähnlich wie deine. Er meinte, wir könnten mit den Culverinen trimmen.“
„Mit den …“ Carberry verstummte, und jetzt sah er aus wie ein Nußknacker, ein Nußknacker, der keine Nuß zerbissen, sondern heruntergeschluckt hat – eine Kokosnuß.
„Ja“, sagte Hasard, „und Ferris’ Methode hat dazu noch mehrere Vorteile. Wir brauchen nicht stundenlang mühsam Gewichte zu mannen und sie dann ständig zu versetzen, sondern erledigen das mit dem Ein- und Ausfahren der Steuerbord-Culverinen. Das geht schnell und reibungslos und garantiert uns sogar einen exakten Trimm je nach Krängungslage der ‚Isabella‘. Gut, wie? Oder meinst du, wir sollten deine Methode vorziehen?“
Carberry ging nicht direkt auf diese Frage ein und wußte im übrigen auch genau, daß sich eine Antwort erübrigte. Aber er fuhr Ferris Tukker an.
„Hätte dir das nicht gleich einfallen können, du Schnarchsack, was, wie?“ fragte er grollend.
„Der Teufel ist dein Schnarchsack“, erwiderte Ferris Tucker grinsend. „Und die Idee mit den Culverinen hättest du doch auch haben können, oder?“
„Scheiße“, murmelte der Profos.
„Eine Ausdrucksweise hat der Kerl“, sagte Ferris Tucker und schüttelte tadelnd den Kopf.
Von der Großrah segelte Sir John, der Aracanga-Papagei, im Gleitflug heran, landete auf der Schulter Carberrys, ruckte hin und her und stieß Laute aus, die klangen, als kichere er.
„Verschwinde, du Geier!“ knurrte Carberry. „Stör mich nicht, ich hab’ jetzt zu tun.“
Sir John schwang sich aufs Ruderhaus, plusterte sich auf und begann sich zu putzen. Still blieb er dabei nicht. Es klang, als spucke er eine Reihe von Flüchen aus, die Ähnlichkeit mit Carberrys Kraftausdrücken hatten.
„Carberrys Schule“, sagte Ferris Tucker. „Ich hab seinem Geier jedenfalls nicht beigebracht, wie man flucht. Ein Benehmen ist das!“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Wie in der übelsten Hafenspelunke.“
„Ha!“ sagte der Profos. „Was meinst du, wie deine verdammten Bohrwürmer fluchen? Und weißt du, warum, Mister Tucker? Weil sie sich schon um das bißchen Holz balgen müssen, das nur noch von den Muscheln zusammengehalten wird. Und von wem haben sie das Fluchen gelernt? Von dir!“
„Wieso von mir?“
„Wer kriecht denn dreimal am Tag in der Bilge ’rum, he? Ich vielleicht? Klopf ich die Planken ab, was, wie?“
„Gentlemen“, sagte Hasard freundlich, „ich schätze, wir haben noch einiges zu tun. Vielleicht könntet ihr über das Thema der fluchenden Bohrwürmer weiter diskutieren, wenn wir Tanger erreicht haben. Das ist natürlich kein Befehl, sondern nur ein Vorschlag.“
„Aye, aye, Sir“, sagte Ferris Tucker.
„Aye, aye, Sir“, sagte Ed Carberry.
Und damit zogen sie zur Kuhl ab.
Unmittelbar darauf dröhnte Carberrys Stimme über die Decks: „Hoch mit den Steuerbordgeschützpforten, ihr Affenärsche! Hopphopp! Löst die Brocktaue, sinnig-sinnig! Bewegt euch, ihr verlausten Beachcomber, hurtig-hurtig! Grins nicht so dämlich. Matt Davies! Was ist mit deinem Haken los? Hat der schon Rost angesetzt wie dieser Sarg hier die Miesmuscheln, was, wie?“
Matt Davies hob den spitzgeschliffenen Haken, der ihm die fehlende rechte Hand ersetzte.
„Rost angesetzt?“ fragte er empört. „Du spinnst wohl? Der Haken wird zweimal am Tag poliert. Das weißt du ganz genau.“
„Halt keine Volksreden, Mister!“ fuhr ihn Carberry an. „Sonst dreh ich dir ’n Achtknoten in deinen Haken! Munter-munter, Leute! Ja, hol durch, die Part, Batuti! Wenigstens einer von euch Rübenschweinen, der mal zupackt!“ Er wandte sich zu Ferris Tucker um. „He, Klamphauer, wie weit sollen wir die Dingerchen ausfahren? Bis ans Schanzkleid in Feuerstellung?“
Die „Dingerchen“ hatten das Gewicht von einigen Zentnern. Aber mittels der Brooktaue, die über Taljen liefen, konnten die Lafetten, auf denen die schweren, überlangen Rohre eingebettet waren, mit Muskelkraft ein- und ausgefahren werden. Zwei Männer je Culverine genügten dafür.
Ferris Tucker peilte zum Großtopp hoch. Er stand hinter der letzten, achteren Culverine.
„Fahrt erst die vier mittleren Culverinen bis ans Schanzkleid aus, Ed!“ rief er. „Aber langsam, bitte sehr!“
„Habt ihr’s gehört, ihr Hüpfer? Aber langsam, hat der Schiffszimmermann gesagt!“ donnerte Carberry. „Langsam heißt sinnig, mit Gefühl, wenn ich bitten darf. Culverine drei, vier, fünf, sechs, holt durch die Lose!“
Langsam ruckten die vier Culverinen auf ihren Holzrädern über das nach Lee geneigte Deck auf das Schanzkleid zu.
Carberry blickte zu Ferris Tucker, der wieder zum Großtopp hochpeilte und mit der erhobenen linken Hand winkte, weiter durchzuholen. Dann ballte er die Hand plötzlich zur Faust.
„Belege!“ brüllte Carberry.
Die Männer setzten die Brooktaue über Klampen fest und verkeilten die Lafettenräder. Alle hatten sie jetzt das Gefühl, auf einem weniger schräggeneigten Deck zu stehen. Dabei waren die vier Culverinen noch nicht voll ausgefahren.
Hasard stand an der Schmuckbalustrade, die das Achterdeck zur Kuhl hin abgrenzte, und nickte zufrieden.
„Fein, Ferris“, sagte er, „jetzt haben wir sogar noch Trimmgewichte in Reserve. Wollen wir das Großsegel wieder setzen?“
„Klar! Das ist kein Risiko mehr.“
Das Manöver war schnell durchgeführt, nachdem die „Isabella“ in den Wind gegangen war. Als sie dann auf ihren alten Kurs abfiel, hatte sich ihre Schräglage nach Lee wieder vergrößert. Ferris Tucker trimmte die beiden mittleren Culverinen bis ans Schanzkleid und behob die Krängung.
Es war das Ei des Columbus.
Noch mehrere Male huschten die Katzenpfoten heran und versuchten, die „Isabella“ umzulegen. Sie schafften es nicht. Wenn die Lage bedrohlich wurde, trimmten sie auch mit der ersten und zweiten sowie der siebten und achten Steuerbord-Culverine. Das klappte von Mal zu Mal besser.
Dan O’Flynn, der Mann mit den besten Augen an Bord der „Isabella“, beobachtete die Luvseite. Dort kündeten sich die Katzenpfoten an. Der Wind ist unsichtbar, aber er verrät sich doch. Denn die Katzenpfoten, die lautlos und in der Luft unsichtbar von Osten bis Südosten heranhuschten, streiften über das Wasser. Und dort verrieten sie sich. Es waren große Fächer, die sich plötzlich auf der Oberfläche ausbreiteten und ein Muster aus Kringeln und Kreisen bildeten. Auch die Farbe des Wassers veränderte sich. Sie wurde dunkler.
Wer einen geübten Blick hat, sieht diese leichten Böen. Dan O’Flynn hatte diesen Blick. Und er sang die Bö aus, wenn sie noch zwei-, dreihundert Yards im Luvsektor entfernt war. Er konnte sogar ihre Stärke bestimmen, denn auch das verraten die Muster.
So wurden Ferris Tucker und die Männer an den Culverinen vorgewarnt und konnten sich bereits auf den richtigen Trimm einstellen.
Es war die seltsamste Fahrt der „Isabella“. Fast schien es, als spüre sie, daß ihr die Männer helfen wollten. Sie war eben nicht irgendein Schiff, nein, sie war wohl sogar das beste Schiff, das in diesen Jahrzehnten je auf Englands Werften gebaut worden war. Ihr eisenhartes Holz hatte den Bohrwürmern getrotzt, auch wenn Carberry unkte, sie „balgten“ sich bereits um die letzten Holzreste. Carberry hatte das auch nicht so gemeint, schon deswegen nicht, weil er selbst derjenige war, der ständig durch alle Räume der „Isabella“ geisterte – bis hinunter in die Bilge –, um alles zu kontrollieren. Die „Isabella“ war ein Teil von ihm, genauso wie sie ein Teil aller Männer war, die auf ihr fuhren.
So war das eben. Sie war das beste Schiff Englands, und sie hatte die Mannschaft, die ihrer würdig war, von ihrem Kapitän Philip Hasard Killigrew bis hinunter zu dem Schiffsjungen Bill, vom Kutscher, dessen Namen niemand kannte und der als Feldscher und Koch an Bord fuhr, bis zu Smoky, dem rauhbeinigen Decksältesten, von Batuti, dem Herkules aus Gambia, bis zu dem großen, blonden Schweden Stenmark, von Big Old Shane, dem früheren Waffenmeister und Schmied der Killigrew-Feste Arwenack, bis zu Gary Andrews, dem Fockmastgasten. Da waren Matt Davies und Jeff Bowie, beide mit Hakenprothesen ausgerüstet, Matt ersetzte diese Prothese die rechte Hand, Jeff die linke. Furchtbare Kämpfer waren sie mit diesen Haken. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, hatte sie ihnen konstruiert. Da waren die beiden O’Flynns, Vater und Sohn, der Alte mit einem Holzbein ausgestattet. Da waren Luke Morgan und Sam Roskill, zwei ehemalige verwegene Karibik-Piraten. Da waren der Messerwerfer Bob Grey und Will Thorne, der grauhaarige Segelmacher. Da waren der schwarzhaarige Blacky, Al Conroy, der Stückmeister, und Pete Ballie, der Rudergänger, nicht zu vergessen natürlich der eisenharte Edwin Carberry, der für Zucht und Ordnung an Bord sorgte, und Ben Brighton, der besonnene Bootsmann und Stellvertreter Hasards.
Ja, das war sie, die Crew – Männer, die ihre Narben aus unzähligen Gefechten mit Stolz trugen, faire Kämpfer, die besten Seeleute für das beste Schiff.
Und da waren schließlich noch die Maskottchen der „Isabella“: der Schimpanse Arwenack und der Aracanga-Papagei Sir John. Und sie hatten mit ihren Instinkten, mit denen sie die Natur ausgestattet hatte, oft genug die Männer der „Isabella“ vor Gefahren warnen können. Ja, Arwenack pflegte sogar in Enterkämpfe einzugreifen und mit Belegnägeln zu werfen. Er hatte sich mit besonderer Zuneigung Dan O’Flynn, dem Jüngeren, zugewandt, während Sir John an dem ruppigen Edwin Carberry hing – warum ausgerechnet Carberry, das war allen ein Rätsel, wobei allerdings Smoky meinte, das hinge damit zusammen, daß der Profos am lautesten von allen brülle und am besten fluchen könne. Dafür seien Papageien besonders empfänglich. Das war natürlich ein starkes Argument, aber ein Rätsel blieb es doch.
So segelten denn diese Männer ihre muschelbepanzerte und algenumwobene „Isabella“, behutsam trimmend, Richtung Tanger. Dieses Mal segelten sie dem Teufel kein Ohr ab, aber es fragte sich wirklich, was gefährlicher war: Stürme abzureiten oder einen wankenden „Muschelsarg“ nicht umkippen zu lassen.
The free excerpt has ended.