Traumasensitive Achtsamkeit

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Traumasensitive Achtsamkeit
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DAVID TRELEAVEN

Traumasensitive Achtsamkeit

David Treleaven

Traumasensitive Achtsamkeit

Posttraumatischen Stress

erkennen und vermindern

Sicherheit und Stabilität vermitteln

Mit 36 konkreten Modifikationen

für die Praxis

Mit einem Vorwort von Willoughby Britton

Aus dem Englischen von Anna Stippa


Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel:

Trauma-sensitive mindfulness. Practices for safe and transformative healing

bei W.W. Norton & Company, Inc. New York, USA.

Deutsche Erstausgabe

© 2019 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe

© 2018 by David A. Treleaven

Lektorat: Judith Mark, Freiburg

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

Hergestellt von mediengenossen.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2019

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-270-2

Vorwort von Willoughby Britton

Einführung: Warum traumasensitive Achtsamkeit?

TEIL 1: GRUNDLAGEN TRAUMASENSITIVER ACHTSAMKEIT

1 Die Allgegenwärtigkeit von Trauma:

sichtbare und unsichtbare Formen

2 Sich in der Gegenwart verankern:

Achtsamkeit und traumatischer Stress

3 Durch die Vergangenheit geprägt:

Eine kurze Geschichte von Achtsamkeit und Trauma

4 Trauma und Achtsamkeit:

die Auswirkungen auf Körper und Gehirn

TEIL 2: DIE FÜNF PRINZIPIEN TRAUMASENSITIVER ACHTSAMKEIT

5 Innerhalb des Toleranzfensters bleiben:

die Rolle von Arousal

6 Aufmerksamkeit verlagern, um Stabilität zu unterstützen:

den Angst-/Immobilitätskreislauf vermeiden

7 Den Körper im Auge behalten: mit Dissoziation arbeiten

8 Beziehungen als Form der Praxis:

Sicherheit und Stabilität bei Traumaüberlebenden fördern

9 Mit sozialem Kontext arbeiten:

soziale Unterschiede wirksam überbrücken

Fazit: Trauma transformieren

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Über den Autor

Vorwort

VON WILLOUGHBY BRITTON

2012 hatte ich ein Zusammentreffen mit Seiner Heiligkeit, dem XIV. Dalai Lama, in der Mayo Klinik in Rochester, Minnesota. Ich besuchte das 24. Mind & Life Dialogforum. Dort geht es um die Verknüpfung von Wissenschaft und kontemplativer Praxis, und ich präsentierte meine Forschung zum Thema Achtsamkeit und Meditation.1

Als klinische Neurowissenschaftlerin war ich es gewohnt, vor anspruchsvollem Publikum zu sprechen, aber an diesem Tag fühlten sich die gewohnten Schmetterlinge in meinem Bauch eher wie mittelgroße Flugsaurier an. Der Dalai Lama sah aufmerksam zu mir hin, und ich machte mir Sorgen, wie er auf meine Arbeit reagieren würde.

Ich erforsche die möglicherweise schädlichen Auswirkungen der Meditation. Während sich der Großteil meiner Forschung der letzten 20 Jahre auf die klinischen Vorzüge meditativer Praxis konzentrierte, habe ich meine Arbeit des letzten Jahrzehnts um die Untersuchung der eher problematischen Aspekte kontemplativer Praxis erweitert. 2007 hatte ich in meinem Labor an der Brown Universität eine Studie mit dem Titel Die Vielfalt kontemplativer Erfahrung begonnen.2

Das Projekt beinhaltete Interviews mit mehr als 100 meditationserfahrenen Menschen und Meditationslehrern, die sich, sofern vorhanden, mit den Schwierigkeiten beschäftigten, die sich innerhalb ihrer Praxis aufgetan hatten. Trauma kristallisierte sich bei diesem Projekt als ein Hauptthema heraus – vom Doktoranden, der bei einem Zehn-Tage-Retreat quälende Flashbacks erlebte, bis hin zum erfahrenen Meditationslehrer, der, wie sich herausstellte, seit Jahren trauma-bedingte Dissoziation in seiner Praxis erfuhr.3

Immer wieder stieß ich in meiner Forschung auf diese schwierige Beziehung zwischen Meditation und Trauma. Als Menschen, die beim Meditieren mit Trauma assoziierte Probleme hatten, mich um Hilfe baten, konnte ich nicht viel mehr tun, als ihnen zu versichern, dass sie nicht alleine waren und dass das, was sie erlebten, nicht ihr Fehler war.

Gern hätte ich diesen Menschen damals mehr geboten – eine umfangreiche Erklärung etwa, warum sie diese Probleme hatten und was dagegen zu tun war.

Dann, einen Monat nach meiner Präsentation bei Mind & Life, stolperte ich online über das unscharfe Video der Verteidigung einer Doktorarbeit zum Thema Achtsamkeitsmeditation und Trauma. Ich hatte zuvor noch nie von David Treleaven gehört, saß jedoch wie gebannt da, während er sehr eloquent die Antworten auf die Fragen gab, die ich mir seit Jahren stellte. Über längere Zeit hatte ich nach einem klaren Rahmen gesucht, den ich den Meditierenden, die mit ihren Schwierigkeiten zu mir kamen, zur Verfügung stellen konnte, ebenso wie Meditationslehrern und Wissenschaftlern, die sich für Meditation und Achtsamkeit interessierten. Plötzlich hatte ich diesen Rahmen gefunden. Ein Puzzleteil nach dem anderen fand seinen Platz.

Letztlich überwies ich zahlreiche Menschen an David, von denen mir viele berichteten, dass ihre Arbeit mit David und das Rahmenwerk, das er bereitstellte, ihr Leben positiv verändert hatte. Ihre Geschichten waren so überzeugend – und ihr Fortschritt so offensichtlich –, dass ich mich entschloss, eine mehrjährige Ausbildung in Traumatherapie aufzunehmen.

Bis dahin hatte ich gedacht, dass ich eine ausreichende Vorbildung als Psychologin und Neurowissenschaftlerin mitbrachte, aber durch Davids Erkenntnisse wurde mir klar, dass ich mein Wissen zum Thema Trauma erweitern musste, um die Probleme, denen ich in meiner Praxis und Forschung begegnete, effektiv angehen zu können.

David und ich hielten Kontakt, und als ich den ersten Entwurf des Buches, das Sie nun in Ihren Händen halten, las, fühlte es sich wie ein Geschenk an. Basierend auf den Unterhaltungen, die ich mit Meditationslehrern, Wissenschaftlern und Achtsamkeitspraktikern geführt habe, glaube ich, dass dieses Buch für viele Menschen eine langersehnte Quelle der Information und Unterstützung sein wird. Gewissenhaft und mit Mitgefühl und Einsicht behandelt es einige der häufigsten, bislang jedoch kaum beachteten Probleme, denen Meditierende, die Traumata erfahren haben, begegnen können.

Leserinnen und Leser dieses Buches werden wissen, dass Achtsamkeit seit einigen Jahren in aller Munde ist. Von Schulen und Kliniken bis hin zu Gefängnissen und Unternehmen – Achtsamkeit und Meditation werden heute an einer Vielzahl von Schauplätzen praktiziert, und wissenschaftliche Erkenntnisse untermauern ihre Vorzüge. Man kann jedoch nicht uneingeschränkt davon ausgehen, dass Achtsamkeit und Meditation eine Art Allheilmittel für alle möglichen Probleme und eben auch Traumata sind. Wir alle haben gehört und gelesen, welche Vorteile es hat, zu meditieren, und viele Menschen, die dies regelmäßig tun, kommen in den Genuss dieser Vorteile. Aber ich habe auch Menschen kennen gelernt, die sich zutiefst schämen, wenn sie diese positiven Erfahrungen nicht machen – und besonders häufig sind dies Menschen, die ein Trauma erfahren haben. Sie fühlen sich oft, als hätten sie beim Meditieren versagt, etwas falsch gemacht oder als wären sie zutiefst und unwiderruflich gebrochen.

Davids Buch begegnet dem Problem der Scham frontal. Es stellt sich der Annahme entgegen, dass Menschen, die beim Meditieren Schwierigkeiten erfahren, schlichtweg unzulänglich oder schlechte Meditierende seien. Viele der Meditierenden, die mich kontaktieren – oft sind sie selbst Meditationslehrer –, fühlen sich gedemütigt dadurch, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Symptome mit Meditation positiv zu beeinflussen. David zeigt uns die Risiken für Traumaüberlebende, die Achtsamkeit praktizieren, erklärt, warum sie existieren und stellt Praktiken vor, die eine sichere und transformative trauma-sensitive Praxis unterstützen. Seine Arbeit stützt sich auf Belege, ist in klinischer Forschung verwurzelt und offen für Anpassungen, sobald neue wissenschaftliche Erkenntnisse verfügbar werden. Insofern dient dieses Buch auch als Grundlage für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema.

Das Buch bietet uns darüber hinaus einen systemischen Blick auf Traumata. Analog zu Davids eigenem Weg überführt es Achtsamkeit vom isolierten Leiden einzelner Meditierender – und deren individuellem Nervensystem – in die sozialen, kulturellen und politischen Räume, die eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Traumata spielen. Obwohl die Idee der Interdependenz – dass wir alle zutiefst miteinander verbunden sind und uns gegenseitig beeinflussen – für die Achtsamkeitsgemeinschaft keine neue ist, wird sie oft dargestellt, als wäre sie eine Art metaphysische Salbe, die prosoziales Verhalten inspiriert, ohne dass eine tiefere persönliche Auseinandersetzung erforderlich ist. Durch seine Arbeit mit Organisationen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, fordert David uns heraus, unser Umfeld zu hinterfragen, um, wie er sagt, die „Rahmenbedingungen, die uns geboten wurden, kritisch zu durchleuchten und uns zunehmend unserer eigenen Rolle bewusst zu werden“.

Davids Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem eine nuanciertere Diskussion zum Thema Achtsamkeit und Meditation dringend nötig ist.

 

Ich habe den Großteil meiner akademischen Karriere damit verbracht, mich für diese Form des Dialogs stark zu machen, ob es in meinem Hörsaal war, in meinem Labor, bei akademischen Konferenzen, bei achtsamkeitsbasierten Interventionen, Lehrerausbildungen oder mit Journalisten, die nach vielversprechenden Slogans über die Vorzüge von Achtsamkeit suchten.4 Manchmal fühlte ich mich, als wäre ich die einzige Person, die argumentierte, dass wir bei der Nutzung kontemplativer Praktiken vorsichtig vorgehen und uns der potenziellen Schwierigkeiten, mit denen Menschen sich beim Meditieren konfrontiert sehen, bewusst werden müssen.5 In letzter Zeit vertreten jedoch zunehmend mehr meiner Kollegen diese Auffassung. Im Jahr 2018 kamen 15 Achtsamkeitsforscher zusammen, um Richtlinien zu erstellen, die sich für eine vorsichtigere und nuanciertere Präsentation von Achtsamkeitsmeditation aussprechen und sowohl die Vorteile als auch ihre Grenzen benennen.6 Diese Herangehensweise soll Menschen nicht von der Meditation abschrecken, ganz im Gegenteil: Ihr Ziel ist es, die Praxis zu stärken und für ein breiteres Publikum anwendbar zu machen.

Ich freue mich, sagen zu können, dass wir mit diesem Buch zusammen einen weiteren Schritt in diese neue Richtung gehen. David Treleaven hat für diejenigen von uns, die Achtsamkeit in einer traumasensitiven Form praktizieren möchten, eine fundierte, zugängliche und empirisch belegte Ressource geschaffen. Es ist ein Geschenk zur rechten Zeit, und ich hoffe, es ist eines, das Ihnen genauso sehr helfen wird, wie es mir geholfen hat.

WILLOUGHBY BRITTON, PH.D.

Willoughby Britton ist klinische Psychologin und Neurowissenschaftlerin an der Brown University Medical School; sie ist ausgebildet als MBSR-Lehrerin und gilt als eine der wichtigsten Frauen der Achtsamkeitsbewegung. Ihr

Forschungsschwerpunkt liegt auf möglichen unerwünschten psychologischen Nebenwirkungen von Meditation.

EINFÜHRUNG

Warum traumasensitive Achtsamkeit?

Ein Teil von mir wünschte, ich hätte die E-Mail nicht gesehen. Es war weit nach Mitternacht, als ich aus einer Laune heraus noch einmal in meinem Posteingang nachsah. „Bitte um Hilfe …“ stand in der Betreffzeile, „Meditationskrise“. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, als ich weiterlas. Es war die dritte E-Mail dieser Art, die ich in diesem Monat erhalten hatte.

Die Nachricht kam von Nicholas, einem Lehrer aus Vermont, der über einen Artikel gestolpert war, in dem ich über negative Begleiterscheinungen von Achtsamkeitsmeditation geschrieben hatte.1 Nicholas hatte mit Achtsamkeitsmeditation angefangen, um mit seinen Angstzuständen besser zurechtzukommen, und schon bald hatten sich positive Auswirkungen seiner Übungen eingestellt: eine gesteigerte Klarheit, ein geschärftes Gedächtnis und ein nachhaltigeres Gefühl innerer Ruhe. In letzter Zeit hatte Nicholas jedoch ein entnervendes Symptom festgestellt: Wenn seine Stoppuhr das Ende der kurzen Meditation signalisierte, fiel es ihm schwer, nach seinem Handy zu greifen – sein Körper schien vor Angst paralysiert zu sein. Es fühlte sich für ihn an, als wäre er gefesselt.

Je mehr Nicholas meditierte, desto intensiver und verstörender wurden diese Erlebnisse. Sobald er die Augen schloss, erschienen Bilder vor seinem inneren Auge – zerschmettertes Glas, offener Himmel, Rauch. Sein Schlaf wurde von nervenaufreibenden Albträumen heimgesucht, Routineaufgaben versetzten ihn in Panik und das Geschnatter in seinem Kopf wurde unerträglich. Die Ruhe, die er in der Meditation gesucht hatte, hatte sich in ihr Gegenteil verkehrt – in unterschwelligen Terror und Grauen, die ihn Tag und Nacht verfolgten.

Eine Woche später trafen Nicholas und ich uns in einer Videokonferenz, und sofort konnte ich die Besorgnis und Verwirrung in seinen Augen erkennen. Als ich ihn fragte, ob die Bilder, die sich ihm während seiner Meditation aufgedrängt hatten, für ihn irgendeine Bedeutung hatten, nickte er. Einige Jahre zuvor war er in einen schweren Autounfall verwickelt gewesen – hilflos war er eine Stunde lang in seinem Auto eingeschlossen gewesen, bevor er gerettet werden konnte. Aber es war nicht der Unfall, der ihn verunsicherte, sondern seine Verwirrung über Achtsamkeitsmeditation. Wie konnte eine Praktik, die zunächst so konstruktiv und positiv gewesen war, ihn jetzt in solche Panik und Haltlosigkeit versetzen?

Mir war diese Frage nicht fremd. Als Psychotherapeut und Wissenschaftler hatte ich jahrelang darum gerungen, ein besseres Verständnis für die komplexen Zusammenhänge zwischen Achtsamkeit und Trauma zu entwickeln – eine extreme Form von Stress, die unsere Fähigkeit, mit belastenden Situationen zurechtzukommen, außer Kraft setzen kann. Nebeneinander betrachtet, können Trauma und Achtsamkeit wie natürliche, geradezu zwangsläufige Verbündete wirken. Beide haben mit der Natur des Leidens zu tun. Beide basieren auf sensorischer Erfahrung. Und während Trauma Stress verursacht, erweist sich Achtsamkeit als Weg, diesen Stress zu reduzieren. Theoretisch scheint es also so, als könne jeder, der ein Trauma erfahren hat, davon profitieren, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren. Was sollte dabei schon schiefgehen?

Ziemlich viel, wie sich allmählich herausstellt. Für Menschen, die ein Trauma erfahren haben, kann Achtsamkeitsmeditation die Symptome traumatischen Stresses verstärken. Dies kann Flashbacks, erhöhte emotionale Erregungszustände und Dissoziation umfassen, also eine Abspaltung der eigenen Gedanken, Emotionen und physischen Sinneserfahrungen. Obwohl Meditation wie eine sichere und harmlose Praktik erscheinen mag, kann sie Traumaüberlebende* direkt in die Tiefen ihrer Verletzungen stürzen, die zur Heilung mehr als ein achtsames Gewahrsein erfordern. Durch Verlagerung der Aufmerksamkeit auf Verletzungen, die oft innerlich und nicht sichtbar sind, können sich Traumaüberlebende in einem Zustand wiederfinden, der dem von Nicholas ähnlich ist: desorientiert, verstört und gedemütigt, weil sie die Dinge irgendwie schlimmer gemacht haben.

Gleichzeitig kann Achtsamkeit auch eine unschätzbare Quelle für Traumaüberlebende sein. Die Forschung hat gezeigt, dass sie das Körpergefühl stärken kann, die Aufmerksamkeit erhöht und uns in die Lage versetzt, Emotionen zu regulieren – alles entscheidende Fähigleiten bei der Traumaheilung. Ebenso kann Achtsamkeit etablierte Trauma-Therapiemethoden unterstützen, indem sie Menschen hilft, in Augenblicken, in denen sie sich mit Traumasymptomen konfrontiert sehen, Stabilität zu finden.

Werden wir uns daher der Wichtigkeit des aktuellen Moments bewusst. Während des letzten Jahrzehnts ist Achtsamkeit sehr populär geworden. Achtsamkeitsmeditation wird an den unterschiedlichsten Schauplätzen angeboten – einschließlich buddhistischer Gemeinden, nicht-religiöser Programme und Psychotherapie. Vielfach wird sie als harmlose Methode zur Stressreduktion verkauft. Gleichzeitig sind Traumata sehr verbreitet. Geschätzte 90 Prozent der Bevölkerung sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, und acht bis 20 Prozent davon werden eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln.2 Das bedeutet, dass, egal in welchem Umfeld Achtsamkeitsmeditation unterrichtet wird, die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand im Raum in der Vergangenheit ein Trauma erlitten hat, hoch ist.

Daher stellt sich die Frage: Wie können wir die potenziellen Gefahren der Achtsamkeitsmeditation für Traumaüberlebende minimieren und gleichzeitig die positiven Möglichkeiten zu ihrem Vorteil nutzen?

Dieses Buch beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Ich möchte zeigen, dass eine grundlegende Achtsamkeitspraxis effektiver ist, wenn sie mit einem Verständnis für Trauma gepaart wird. Egal ob es der Meditationslehrer eines etablierten Retreats für Stille-Meditation ist, die Sozialarbeiterin, die Achtsamkeitsinterventionen in ihrer Arbeit nutzt, oder die Lehrerin, die fünfminütige Meditationen in ihrer Grundschulklasse anleitet – ich bin überzeugt, dass alle, die Achtsamkeit als Angebot nutzen, über die Risiken informiert sein sollten, die sie für Menschen birgt, die mit Trauma zu kämpfen haben.

Ich habe dieses Thema während des letzten Jahrzehnts untersucht. Ich habe theoriegeleitete akademische Forschung betrieben, habe ganze Wände mit Zetteln voll abstrakter Ideen vollgeklebt und habe in informellen Interviews Achtsamkeitsausbilder, psychologische Fachkräfte und Traumaüberlebende zu dieser Thematik befragt. Als Psychotherapeut habe ich ebenfalls eng mit Traumaüberlebenden zusammengearbeitet, die unerwünschte Erfahrungen mit Achtsamkeitsmeditation gemacht hatten. Nicht zuletzt bin ich das Thema allerdings als jemand angegangen, der selbst eigene Herausforderungen mit Achtsamkeit und Trauma erlebt hat. Ich wollte verstehen, was mir da widerfahren war.

EIN PERSÖNLICHER WEG

Als ich anfing, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren, arbeitete ich als Psychotherapeut mit männlichen Sexualstraftätern in Vancouver, Kanada. Ich hatte diese Arbeit wegen meines Interesses an Sexualität und opferorientierter Gerechtigkeit aufgenommen. Nach einem Jahr in diesem Beruf fühlte ich mich jedoch ausgebrannt. Ich litt unter starken Stimmungsschwankungen und verfügte nicht über das Handwerkszeug, um damit zurechtzukommen. Als eine Kollegin mir vorschlug, sie zu ihrer örtlichen Achtsamkeitsmeditationsgruppe zu begleiten, war ich leichte Beute: Achtsamkeit genoss einen zunehmend positiven Ruf in der Psychologie, und mir gefiel die Idee, eine bewusstere Beziehung zu meinem Geist aufzubauen. Während ich also dasaß und meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem lenkte, fragte ich mich: Wie schwer kann das schon sein?

Natürlich war es unmöglich. Ich verbrachte meine erste Meditationseinheit komplett in Gedanken versunken und realisierte dies erst, nachdem am Ende der Sitzung die Glocke geläutet hatte. Nichtsdestotrotz fing ich an, diese Praxis zu lieben und erkannte, dass sie mir in vielerlei Hinsicht half. Ich war mir meines Körpers bewusster, weniger an aufwühlende Gedanken gebunden und fühlte mich zufriedener und glücklicher, als ich es je zuvor gewesen war. Ich schuf neue Verbindungen zur Welt und fand Bedeutung und Resilienz außerhalb meiner Arbeit mit Straftätern – zum Beispiel, wenn ich dem Wind im Erdbeerbaum vor meinem Küchenfenster lauschte oder wenn ich meine Füße spürte, wie sie auf dem Weg zur Arbeit den Boden berührten. Wenn ich unter emotionalem Schmerz litt, verhalf mir Achtsamkeit zu neuer Perspektive und Raum. Sie half mir dabei, mir selbst mit neuem Mitgefühl und auf nicht wertende Weise zu begegnen.

Dann, völlig unerwartet, gingen die Lichter aus. Ich befand mich auf einem Stille-Meditationsretreat im ländlichen Massachusetts, als mich das Gefühl überkam, jemand hätte so etwas wie einen Hauptschalter in meinem Körper umgelegt. Ich hatte Schwierigkeiten gehabt, mich auf meine Übungen einzulassen, weil mir eine bestimmte Geschichte sexueller Gewalt aus meiner therapeutischen Arbeit immer und immer wieder durch den Kopf ging. Wenn ich meine Augen in dem schwach beleuchteten Raum öffnete, sah ich, dass alles da war, wo es sein sollte: Mitmeditierende, die neben mir auf ihren Kissen ruhten, die Buddha-Statue auf der Stirnseite des Raumes, und durch das Fenster sah ich die schmale Mondsichel zwischen den Bäumen. Nichts hatte sich gerührt und nichts Äußerliches hatte sich verändert.

Dann aber sah ich mich selbst. Ich schaute von einem der Dachbalken von oben auf meine Schultern herab. Panik ergriff mich, und trotzdem blieb ich so regungslos wie die Statue, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte. Ich vertraute darauf, dass diese Erfahrung, wie jede andere, die ich während meiner Meditation gehabt hatte, vorübergehen würde – wenn nicht bis zum Ende der Sitzung, dann doch sicherlich bis zum nächsten Morgen.

Leider war dem nicht so. Zumindest nicht ganz. Während der nächsten Woche des Retreats verwandelte sich die Welt in einen finsteren, unterirdischen Ort. Mir war, als würde ich zwischen zwei Sphären schweben, von denen sich keine auf festem Boden zu befinden schien. Ich war physisch anwesend, jedoch nur oberflächlich. Meine Sinne waren wie gedämpft und stummgeschaltet, mein Appetit verschwand und ich hatte das düstere, durchdringende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war, als hätte sich ein wesentlicher Teil von mir dazu entschlossen, aufzustehen und davonzulaufen, ohne jegliche Absicht, je wieder zurückzukommen. An jedem zweiten Tag des Retreats traf ich mich mit einem der Meditationslehrer – und häufig spürte ich, sobald ich mich hinsetzte, Tränen in mir aufsteigen. Jedes Gespräch verließ ich mit ähnlichen Instruktionen: Sei achtsam. Nimm die Ablösung wahr. Gib nicht auf. Vertraue dem Prozess. Und für den Rest des Retreats tat ich genau das.

 

TRAUMA ENTDECKEN

Als ich in diesem Sommer nach Hause kann, konnte ich in den Gesichtern meiner Freunde und Familie ablesen, was mir bereits klar war: Ich war lädiert vom Retreat zurückgekehrt. Ich fühlte mich desorientiert, innerlich taub und hatte Probleme, mich wieder in meinen Alltag einzugewöhnen. Als ich mit meinen Freunden und Kollegen über meine Erfahrungen sprach, überraschte es mich, dass sie das Wort „Trauma“ gebrauchten – einen Begriff, mit dem ich mich zwar theoretisch beschäftigt hatte, den ich aber nie mit meinem Leben in Verbindung gebracht hatte.

Für mich beschränkte sich diese Bezeichnung auf Handlungen schlimmster Übergriffe und Gewalt. Überfallopfer trugen Traumata in sich. Veteranen mit Kampferfahrung erlebten Traumata. Menschen, die durch Unterdrückungs-Regimes grausame und ungerechte Behandlung erfahren hatten – zum Beispiel in Form von Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit –, ertrugen Traumata. Ich hatte ein relativ beschütztes Leben geführt, und meine Erfahrungen als „traumatisch“ zu beschreiben, schien, als würde man die Ungeheuerlichkeit des Schmerzes von Traumaüberlebenden trivialisieren.

Trauma jedoch, wie ich seitdem gelernt habe, beschreibt nicht so sehr den Inhalt einer Erfahrung als vielmehr die Auswirkungen – unerwartet und fortlaufend, – die sie auf unsere Physiologie hat. Die Veteranentraumaspezialistin Pat Ogden schreibt: „Jedes Erlebnis, das genug Stress verursacht, um uns hilflos, verängstigt und überwältigt oder zutiefst unsicher fühlen zu lassen, wird als Trauma angesehen.“ (2015, S. 66) Sei es, dass man Zeuge von Gewalt wird oder diese selbst erfährt, einen geliebten Menschen verliert oder zum Ziel von Unterdrückung* wird, Menschen erleben Trauma auf unterschiedlichste Art und Weise. Und meiner ursprünglichen Annahme entgegengesetzt, minimiert die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen persönlichen Traumas nicht die Wichtigkeit des Traumas einer anderen Person. Vielmehr kann dies sogar Ursprung eines Gesprächs über die sozialen Bedingungen sein, die Traumata in erster Linie aufrechterhalten.3

Durch Freunde ermutigt, fing ich an, einen Traumatherapeuten zu besuchen. Es waren bereits sechs Wochen seit dem Retreat vergangen, und die Last der Erfahrung machte mir noch immer zu schaffen. Ich dissoziierte regelmäßig, hatte wiederkehrende Albträume und entwickelte zum ersten Mal in meinem Leben Schlafstörungen. Nach einigen Sitzungen stelle mein Therapeut die These auf, dass ich möglicherweise stellvertretendes bzw. sekundäres Trauma durch meine Arbeit mit Sexualstraftätern erlebte, weil ich kontinuierlich Geschichten von Gewalttaten ausgesetzt war, die sich letztendlich traumatisierend auf mich auswirkten. In diesem Rahmen begannen die Symptome, die ich erlebte – aufdringliche Gedanken, emotionale Distanziertheit, Dissoziation –, Sinn zu ergeben.

Wie sich herausstellte, sollten die Sitzungen mein Leben verändern. Ich hatte in der Vergangenheit das Privileg gehabt, verschiedene Formen der Gesprächstherapie zu erleben – Jungsche Therapie, kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapie –, hatte aber nie den Eindruck gehabt, dass die Einsichten, zu denen ich dabei gekommen war, eine bleibende Veränderung herbeiführten. Traumaarbeit erwies sich als etwas anderes. Sie half mir, mich auf eine Art zu verändern, wie es vorherige Therapien und Meditationen nicht vermocht hatten. Aber ich bemerkte auch, dass mir meine Achtsamkeitsausbildung während der Sitzungen half, die intensiven Emotionen und physischen Wahrnehmungen, die zum Vorschein kamen, besser wahrzunehmen und mit ihnen präsent zu bleiben. Angetrieben von den Vorteilen der Traumatherapie, schrieb ich mich für ein mehrjähriges Trainingsprogramm, genannt Somatic Experiencing, ein – ein zeitgenössischer therapeutischer Ansatz, der von dem Biophysiker Peter Levine entwickelt wurde.4 In dem Kurs lernte ich sowohl, wie der Körper auf Trauma reagiert, als auch sichere und praktische Wege, wie man mit Traumaüberlebenden arbeiten kann. Es ist eine beeindruckende Methode, die mein Denken geformt hat. Allerdings hatte ich auch das Gefühl, dass in dieser Arbeit etwas fehlte. Fortwährend sprachen Lehrer über die biologischen Wurzeln von Trauma, diskutierten jedoch nie die sozialen Ursprünge – einschließlich der mit Trauma einhergehenden unterdrückenden Systeme. Mir wurde beigebracht, Trauma als eine ausschließlich individuelle, vom Rest der Welt abgekoppelte Erfahrung zu betrachten. Und obwohl mir dieses Rahmenwerk als Studierender westlicher Psychologie vertraut war, fühlte es sich im Zusammenhang mit Trauma besonders problematisch an. Ich war zuvor politischer Aktivist gewesen, und nun war ich auf der Suche nach einem Heilungsansatz, der eine Brücke zwischen persönlicher und sozialer Veränderung schlug.

Ein Jahr später fand ich ihn. Ein Freund stellte mich Staci Haines vor, eine Lehrerin, Klinikerin und soziale Aktivistin, die in ihrer Arbeit ein systemisches Verständnis von Trauma vorschlägt.5 Zusammen mit Spenta Kandawalla, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und Akupunkteurin ist, gründete Staci Generative Somatics – eine nationale Non-Profit-Organisation mit Sitz in Oakland, Kalifornien, die soziale Analyse mit Traumaheilung kombiniert. Durch das Verweben von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft, politischer Theorie und Prinzipien der transformativen Gerechtigkeit6 bietet die Organisation eine ganzheitliche Herangehensweise für die Heilung von Traumata an. Im Zentrum der Kurse stehen die Erfahrungen von Menschen, die durch Trauma und Unterdrückung am meisten betroffen sind7, und die Vision einer kollektiven Transformation bewegte mich bis ins Mark. Durch diese lebensverändernde Arbeit wurde Trauma zunehmend zu einer Linse, durch die ich die Welt zu sehen und zu verstehen lernte.

TRAUMA UND ACHTSAMKEIT

Auch während dieser Zeit fühlte ich mich weiterhin stark zur Achtsamkeitsmeditation hingezogen. Nach meiner Retreaterfahrung war ich noch immer auf der Hut, freute mich jedoch, Forschungsstudien zu finden, die bestätigten, was ich ebenfalls erfahren hatte: dass Achtsamkeit wirkliche, positive und messbare Veränderungen herbeiführen kann.8 Dennoch fragte ich mich weiterhin: Wie viele Menschen da draußen mochten sich wohl ebenso sehr quälen, wie ich es getan hatte? War meine Erfahrung eine Anomalie oder spiegelte sie einen größeren Trend wider? Ich fing an, Literatur zu studieren, die auf diese Fragen eine Antwort geben konnte, und realisierte, dass sich nur wenige Menschen geradeheraus mit der Beziehung von Achtsamkeit und Trauma beschäftigt hatten. Dadurch ermutigt, schrieb ich mich für ein Postgraduiertenprogramm der Psychologie ein, verfasste eine Dissertation zu dem Thema und fing schließlich an, über die Herausforderungen, die ich erfahren hatte, zu sprechen und zu schreiben.

Mir wurde schnell klar, dass ich nicht allein war. Nachdem ein Video von einer meiner Vorlesungen zu dem Thema anfing, im Internet seine Runden zu machen9, meldeten sich Menschen wie Nicholas bei mir, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten wie ich. Nicht jeder von ihnen war auf einem langen Retreat gewesen oder betrieb eine intensive Meditationspraxis. Oftmals hatten sie Achtsamkeitsmeditation lediglich bei einer der momentan vielfältig angebotenen Gelegenheiten ausprobiert – im örtlichen Gemeindezentrum, bei einem Stressreduktionsprogramm oder mithilfe von Anleitungen, die sie online gefunden hatten.

Dies war alarmierend. Ich nahm an, dass die meisten Achtsamkeitslehrer zwar wussten, was Trauma war, allerdings war ich weniger davon überzeugt, dass sie ausreichend ausgerüstet waren, um angemessen damit arbeiten zu können. Waren sie in der Lage, Trauma zu erkennen, geschweige denn zu sehen, wann ein Traumaüberlebender Hilfe brauchte? Wussten sie, wann ein Kursteilnehmer an einen Traumaspezialisten überwiesen werden musste? Und konnten sie Verbindungen zwischen Trauma und der systemischen Unterdrückung herstellen, der viele Menschen täglich ausgesetzt sind?