Mina über den Wolken

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Mina über den Wolken
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David Goliath

Mina über den Wolken

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Haftungsausschluss

Kai Kaktus

Jürgen

Peter

Sex

Dresscode

Hausaufgaben

Liebesbrief

Charly

Kündigung

Kai

Trolley Dolly

Stefan

New York City

Papa

Impressum neobooks

Haftungsausschluss

Fiktiv.

Kai Kaktus

»Es ist aus.«

Kais Schlussstrich hallt durch meinen Kopf, wie das Echo von klackernden High Heels im 360° gefliesten Vorhof der Hölle. Dabei bevorzuge ich doch flache Schuhe. Der Rest ist verstummt. Nur das schallende Klackern kehrt immer wieder – dieser eine Satz aus seinem Mund. Dieser Satz, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet habe.

»Es ist aus.«

Tinnitus.

»Es ist aus?«, frage ich verdutzt. Meine Gesichtszüge müssen erstarrt sein. Schockgefrostet, in dem Moment, wo ich die Lawine auf mich zurasen sah.

»Ja«, antwortet er kühl, trocken, fast schon distanziert. Als wäre ich ein Klient, den er verteidigen müsste, obwohl er weiß, dass ich was ausgefressen habe. Als angehender Anwalt hat er gelernt, einen dicken Panzer um sich zu legen, damit er objektiv bleiben kann. Diesen Panzer zeigt er mir gerade. Ich kann diesen nicht durchdringen, ich kann nicht zu ihm vordringen. Das Gesagte ist in Stein gemeißelt. Kai kann nicht von seiner Meinung abgebracht werden. Das weiß ich aus den Konflikten, die wir schon hatten.

Er verschwindet ohne weitere Worte im Nebenzimmer und lässt mich mit der Taubheit allein. Das Urteil ist gefällt. Empathie ist ein Luxus, den er sich nicht leisten will.

Ich laufe ihm hinterher, doch die Tür trennt uns, weil er sie schließt. Er schließt sie nicht ab. Aber das Türblatt wird zur Mauer, die ich nicht passieren kann, egal was ich sage.

In meiner Verwirrung suche ich die versteckte Kamera, Publikum oder eine Ringschachtel, die mich aus dem Tief ganz nach oben katapultieren soll. Ich rede mir ein, dass es ein derber Spaß ist, damit ich noch empfänglicher für die Erlösung bin – die Vermählung. Doch nichts geschieht. Mir will nicht einleuchten, was da eben geschah. Wo ist der Scheinwerfer, der mich in Szene setzt? Wo ist das Licht, das mich führt? Ich sehe nichts, doch ich bin geblendet. Ein helles Rieseln vor meinen Augen. Diffus. Chaotisch.

Aus dem Nichts.

Oder?

Was war passiert, dass er mich so abweisend abweisen kann?

Das verflixte siebte Jahr. Es hat uns erwischt. Es hat mich erwischt. Kalt erwischt.

Unter Tränen verlasse ich unsere Wohnung und das Haus. Ich weiß nicht, ob es Tränen der Erleichterung, des Schmerzes oder der Freude sind. Es fühlt sich taub an. Ich klammere mich an die wenigen Dinge, die ich auf die Schnelle zusammenklauben konnte. Eine kleine Kiste gefüllt mit Habseligkeiten, von denen ich denke, dass ich sie akut brauche: meine Kapselkaffeemaschine, ein kleiner grüner Kaktus und das halbe Badezimmer (Make-up gegen den Breakdown, Bürsten und Kämme, Lappen und Schwämme, Haarspray, Deodorant und mein rotes Haarband, Parfumflakons und Tampons, Zahnbürste und Zahnpasta, Feuchttücher und Abschminktücher, Körperlotion und Anti-Schuppen-Shampoo, Epilierer und Rasierer, Pinzette und eine Gratispackung Gurkengesichtsmaske).

Meine Klamotten hole ich später. Oder ich lasse sie holen, oder er soll sie mir bringen – ein letzter Freundschaftsdienst. Erneuter Träneneinschuss. Der Kaktus bekommt etwas Wasser ab.

Warum ich diesen kleinen, amerikanischen Stachelstrauch in der Eile eingepackt habe, kann ich gerade nicht nachvollziehen. Genau genommen ist es Kais Gewächs. Ich habe mich zwar darum gekümmert, sonst wäre es verkümmert, aber Kai hat ihn gekauft, einen sonnigen Platz dafür ausgesucht (das Küchenfenster) und jeden Morgen gegrüßt. Ein Ritual, wie er sagte. Vielleicht hat mich mein boshaftes Unterbewusstsein dazu getrieben, seinen Kaktus zu stibitzen. Vielleicht will ich ihm damit etwas nehmen, weil er mir etwas genommen hat – Sicherheit, Rückhalt, Geborgenheit, Liebe. Womöglich brauche ich das kleine Grün als Übergang vom Beziehungsmensch zum Single. Ein kleiner Begleiter, der mich an die Turbulenzen erinnert, denen man als Paar ausgesetzt ist. Sinnbildlich für die Aufs und Abs, zwischen den Dornen ist es weich, manchmal auch haarsträubend.

Vor dem Haus warte ich darauf, dass jemand die Tür hinter mir aufreißt – außer Atem – und mich in den Arm nimmt, mir zuflüstert, dass es ein Schnellschuss war und mir die schwere Kiste abnimmt, um sie zusammen mit mir zurück in die Wohnung zu tragen.

Ich warte. Vergeblich.

Erschöpft würde ich mich jetzt gern in meinen mitschwingenden Lesesessel fallen lassen, doch das einzige Mobiliar, das ich in der kleinen Studentenbude finanziert habe, musste ich im Eifer des Gefechts zurücklassen. Wie hätte ich den Sessel die Treppen herunterhieven sollen? Und dann? Campieren auf dem Gehweg?

Ich muss an meinen, vielleicht, überstürzten Einzug denken. Von meinem Elternhaus im hanseatischen Lübeck zu diesem Kölner Kerl, den meine Eltern nicht mögen, in die kleine Großstadtwohnung voller Filmposter, Pizzakartons und FC-Schals. Ein Protest meines jugendlichen Ichs. Die Zicke zieht aus, raus in die Welt, zu einem Geißbock, einer Internetbekanntschaft. Ich wollte sagen: schaut her, wir lieben uns, er kümmert sich um mich, ihr könnt mir nicht mein Leben diktieren.

Jetzt kommt die Retourkutsche. Und meine Eltern würden mich daran erinnern, wie eindringlich sie mir damals davon abgeraten hatten, trotz seiner eingeschlagenen Juristenlaufbahn. Immerhin haben wir es bis ins verflixte siebte Jahr geschafft. Warum es zum einseitigen Bruch kam, weiß ich noch nicht. Ich muss es erst einmal verdauen, ehe ich mich mit dem Warum auseinandersetze.

Meinen Sessel hole ich mir später. Oder es kommt zum Tausch: Sessel gegen Kaktus. Den kleinen Stachelstrauch behalte ich solange als Pfand. Ich könnte mir auch einfach einen neuen Lesesessel holen, irgendwann, wenn ich wieder Lust auf dieses Möbelhausphänomen habe, wo expansionswillige Fünfziger ihren zweiten Frühling ausstaffieren, praktisch veranlagte Familienmütter und –väter nach robustem, günstigem Handwerk suchen, liebeshungrige Pärchen mit dem Maßband konfigurieren und mutige Singles noch mehr unnützes Zeug für ihre heillos überfüllten Refugien shoppen. Mein Kopf ist nicht aufnahmefähig für skandinavische Namen, Menschenmassen und Regalnummern. Mein Magen rebelliert gegen den obligatorischen Abschluss mit Ein-Euro-Hotdog und Automaten-Softeis.

Die schattenspendenden Birken im Zebramuster vor dem Mehrfamilienhaus in der dichtbebauten, zugeparkten Einbahnstraße in Köln-Lindenthal empfangen mich freundlich. Kinder tollen auf dem kleinen Spielplatz ein paar Meter weiter, der eine Nische in die Reihe von Parkplätzen schlägt, während sich ein paar Mütter mit Hidschab mehr um ihre Handys als um ihre Plagegeister kümmern, die sich gern gegenseitig tyrannisieren. Neben schallenden Telefonaten mit fremder Zunge tönt Kindergeschrei durch die Straßen und wird an den lückenlosen Häuserfassaden verstärkt. Eine Handvoll Kinder hört sich so an wie eine Horde hungriger Hyänen, die kreischend umherspringen.

Kalte Luft trocknet meine Tränen. Durch den Kanal, den die Häuserschlucht schafft, zieht der Wind eine Schneise. Die Böen halten auf mich zu, brechen an meiner Statur und säuseln mir ins Ohr. Ich kann sie nicht verstehen, genauso wenig wie die Mütter im Hidschab oder Kai. Alle sprechen in einer Sprache, derer ich nicht mächtig bin. Ich fühle mich plötzlich verloren. Eine Million Menschen in Köln, doch ich fühle mich einsam.

Braune Blätter auf dem Gehweg bedeuten, dass sich der Herbst ankündigt. Vielleicht will mir der Wind das sagen. Zieh dich warm an, Kind, will er sagen. Das dünne Jäckchen, das ich trage, taugt wenig für den Herbst. Kleidungstechnisch hänge ich noch im Spätsommer fest – luftige Kleidchen und ein dünnes Jäckchen, mehr zur Zierde, denn zum Schutz.

Normalerweise bin ich angreifbar, wenn es um Wind und Kälte geht. Ich friere schnell, mein Haar zerzaust, Becken und Nieren sind anfällig. Selbst dicke Socken tun sich schwer, meine Füße zu wärmen. Aber nun, allein vor der Altbauhäuserfassade, spüre ich nichts – weder Wind noch Kälte. Selbst meine Arme halten eine Kiste, die sonst zu schwer für mich wäre, seit geraumer Zeit, ohne Murren.

 

Zielstrebig umkurven mich die Passanten, denen ich im Weg stehe. Sie alle haben ein Ziel – einen Ort, wo sie hinkönnen. Ich, dagegen, weiß noch nicht, wohin ich soll. Eltern, Freunde, Hotel?

Bis nach Lübeck zu meinen Eltern wäre zu weit. Fünf bis sechs Stunden mit der Bahn. Außerdem muss ich morgen wieder arbeiten. Dazu kommen fünf bis sechs Stunden allein im Zug, allein mit meinen Gedanken, Fragen, Vorwürfen, Ängsten. Allein, trotz der Anwesenheit der anderen Fahrgäste. Aber jeder sitzt für sich allein, abgeschottet, isoliert.

Als ich meine Freundesliste abklappere, komme ich schnell zum Ende. Die meisten sind nicht in Reichweite. Lübeck, Kiel, Berlin, Jena, Würzburg. Schulfreunde, die es in alle Himmelsrichtungen verstreut hat.

Ich ertappe mich, wie ich mich zur Klingel drehe und Kai darum bitte, mich auf dem Sofa schlafen zu lassen, aber die Wohnung ist so klein, dass wir uns ständig über die Füße stolpern würden. Irgendeinen Grund hatte er, dass er mit mir Schluss gemacht hat, und dieser war so triftig, dass er es nicht mehr in einem Raum mit mir ausgehalten hat. Ein Missverständnis? Wieso wollte ich nicht bleiben und mit ihm reden, oder vielmehr, auf ihn einreden? Wieso habe ich mich kampflos ergeben? Hatte ich selbst schon mit unserer Beziehung abgeschlossen? Hat der Alltag unsere Liebe gefressen?

Ich stelle die Kiste ab. Meine Arme danken mir und kribbeln vor Freude. Der grüne Kaktus sieht mich vom Boden aus eindringlich an, doch ich kann nicht ergründen, was er meint. Bin ich schuld? Habe ich etwas gesagt oder getan?

»Hat er dir was erzählt?«, nuschele ich ihm zu, mit so wenig wie möglich Lippenbewegungen, um die arglosen Menschen um mich herum nicht in die Irre zu führen.

Er antwortet mir nicht, sondern schaut mich nur an. Ähnlich wie Kai, der Konflikten gern aus dem Weg ging, sie aussaß und nach einer Weile Funkstille so tat, als wäre nichts geschehen. Der kleine Kaktus ist demnach ein Ebenbild von Kai. Ich nenne ihn also folgerichtig fortan Kai. Kai Kaktus. Damit gebe ich dem Namen, der in mir positive und negative Assoziationen auslöst und mit vielen guten und nicht so guten Erinnerungen verbunden ist, eine neue Bedeutung. Vielleicht dauert es nicht lang, bis Kai Kaktus den anderen Typ in meinem Geiste ersetzt hat.

Gerade schmerzt es noch, wenn ich das kleine grüne Ding anschaue, aber in ein paar Tagen werde ich hoffentlich darüber lachen können. In ein paar Tagen, wenn die Gewissheit schonungslos den Herzschmerz befeuert, wenn ich heulend den Eisbecher auskratze, wenn ich im Schlabberlook zum Bäcker gehe, um mehr als ein Schokoladencroissant zu vertilgen, oder wenn ich mich an jeden Strohhalm klammere, damit ich nicht so einsam bin. Mit Strohhalm meine ich Mann.

Wäre gerade Karneval in Köln kämen zu der eine Million Menschen noch einmal eine Million dazu. Da gäbe es bestimmt ein paar potenzielle Proleten, die einer alkoholisierten Frau Gesellschaft leisten würden. Dass ich unbeholfen wirke, würde nicht auffallen. Kostümierung und alljährlich ähnliches Frohlocken gehören eben nicht zu meinen Favoriten. Hinter den lächelnden Masken verstecken sich oft gefrustete Gestalten, die Heiterkeit und Heiserkeit mit Alkohol hervorrufen. Die wenigen Traditionalisten mit ihren vorgegaukelten Werten, der politischen Satire und dem apostolischen Schabernack können weder gegen die Kommerzialisierung noch gegen den Massenansturm feierwütiger Sauf- und Sextouristen bestehen.

Kai meinte immer, ich solle aus meinem Kokon herauskommen und mich mitreißen lassen. Als waschechter Narr hat er mich jedes Jahr mitgeschleift. Getreu seiner cineastischen Passion sind wir stets als kostümiertes, fülliges Pärchen aufgetreten – Batman und Catwoman, Barbie und Ken, Bambi und Klopfer, Schneewittchen und Wolf, Alice und der Hutmacher.

Wie andere auch, konnte ich mein wahres Gemüt hinter Schminke oder Masken verstecken. Etwas Alkohol gegen die Hemmschwelle und schon hat man dumme Texte mitgesungen und zu stupiden Liedern getanzt, Bonbons genascht und laienhafte Freizeitkünstler beklatscht. Irgendwo bin ich froh, dass ich den Quatsch nicht mehr mitmachen muss. Trotzdem bin ich betrübt, dass zurzeit keine fünfte Jahreszeit ist, denn da wäre ich nicht lang allein.

Mechanisch hole ich mein Handy aus der Tasche. Soll ich eines der Mädels aus dem Büro anrufen? Small Talk und Höflichkeitsfloskeln, gemischt mit einem jährlichen Ausflug auf den Weihnachtsmarkt, wo man bei Glühwein mal über etwas anderes als den Job tratscht?

Die Haustür öffnet sich. Aber bevor sich der Hoffnungsschimmer verfestigt, es könne Kai sein, wackelt Fridolin heraus. Fridolin ist der Rauhaardackel der älteren Nachbarin, die neben uns – neben Kai – wohnt. Zuerst schnuppert er argwöhnisch am Kaktus, bevor er mich links liegen lässt.

»Tag«, grüßt die Seniorin lapidar, als sie mich sieht.

»Hallo«, sage ich zögerlich, denn die ältere Frau blickt neugierig auf den Karton. Wir hatten ohnehin nie das beste Verhältnis. Und so geht sie auch, ohne weitere Bemerkung. Ihr Blick genügt. Ihr Augenrollen. Ihr Wimpernniederschlag. So, als wüsste sie, was Sache ist. Als hätte sie sich für eine Partei entschieden, zu der sie halten würde. Sie ist im Team Kai, denn mit ihrem Nachbarn will sie es sich nicht verscherzen. Auch Fridolin hat sich entschieden, abgeschreckt vom Kaktus und von mir, der nach Kaktus und Tränen riechenden Frau ohne Bleibe. Selbst eine Tüte Kamellen könnte ihn nicht umstimmen. Er gehorcht seinem Frauchen, folgt ihr auf Schritt und Tritt, an der Leine.

Ich scrolle durch die Nachrichten und die Telefonkontakte. Jedes Mal wird mir klar, wie weit entfernt die Menschen wohnen, die ich mag. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Sie ist nicht in den Top Five, noch nicht einmal in den Top Ten. Aber sie wohnt in Köln, ist weiblich, so alt wie ich und nach dem Kennenlernen haben wir Nummern ausgetauscht und uns regelmäßig geschrieben, seltener getroffen. Außerdem ist sie Single – genau wie ich. In ihrer Wohnung ist kein Testosteronochse, der sich über den Geruch von Nagellackentferner aufregt oder im Stehen pinkelt.

Katrin.

Ich überlege. Was war unsere Gemeinsamkeit? Wie haben wir uns kennengelernt? Ich erinnere mich dunkel, es war ein Malkurs an der Volkshochschule. Vor etwa vier Jahren. Seit etwa drei Jahren habe ich mich nicht mehr gemeldet. Die Arbeit, wechselnde Jobs, und andere übliche Ausreden, weshalb man keine Zeit mehr für soziale Bindungen hat. Ehrlicherweise war es aber der Fakt, dass Katrin nicht in den Top Ten ist, was meinen Antrieb für eine Aufrechterhaltung der Bindung extrem bremst. Bis auf Köln haben wir keinen gemeinsamen Nenner, beziehungsweise, mehr hat sich noch nicht herauskristallisiert. Der Malkurs hat auch nur mein fehlendes Talent offenbart. Im Gegensatz zu Katrin, die wahnsinnig gut den Pinsel schwingen kann.

Bevor ich Katrin anrufe, wähle ich Kais Nummer, direkt über Katrins Nummer in meinem Telefonbuch. So stapeln sich die Nummern der Vergangenheit. Er drückt mich weg, wie erwartet. Ich ärgere mich über mein Vorhaben. Jetzt weiß er, dass ich leide. Wollte ich doch Stärke demonstrieren, bröckelt das Fundament plötzlich wieder. Die Tränen sind getrocknet, vom Wind trockengeblasen, aber meine Verwirrung lässt mich Kais Nummer wählen. Er könnte oben am Fenster stehen und hinausschauen. Wenn er sein Gesicht ganz nah an die Scheibe pressen würde, könnte er mich unten auf dem Gehweg sehen. Oder er könnte auf mich spucken, wenn er das Fenster aufmachen würde.

Ich packe das Handy weg, nehme die Kiste und gehe. Ich muss aufpassen, dass das Pendeln der Kiste nicht dazu führt, dass mich der Kaktus ins Gesicht sticht. So bemerke ich nicht, dass ich das erste Hotel verpasse, in dem ich mir ein Zimmer hätte nehmen können. Genauso tapse ich an einer seltenen Telefonzelle vorbei, von wo aus ich Kai hätte anrufen können. Er hätte nicht gesehen, dass ich es bin, wäre rangegangen, hätte sich nicht drücken können, und ich hätte ihn fragen können, was der Scheiß soll. Aber mit dem Blick zu Kai Kaktus ziehen die Chancen an mir vorbei, während ich durch Köln-Lindenthal wanke. Bevor ich mir ein Hotelzimmer nehme, will ich erst eine Gefälligkeit einlösen. Katrin habe ich damals im Malkurs einen Pinsel geliehen, den sie mir nicht zurückgegeben hat. Ich verzichte auf meinen Anspruch und frage nach einem Unterschlupf für die Nacht. Ein fairer Deal.

Es klingelt.

Einmal, zweimal, dreimal.

Dann höre ich eine samtig weiche Stimme am anderen Ende.

»Hallo?«, eröffnet die Stimme eines Engels.

»Ähm, hallo«, stammele ich, als hätte ich mich verwählt, oder wäre ein liebestrunkener Teenager beim Telefonstreich mit dem nichtsahnenden Schwarm. Ich muss tief Luft holen.

»Hallo Katrin?« Wieso frage ich? Vielleicht hat sie ihr Handy weitergegeben oder die Nummer wurde schon neu vergeben? Ihre Stimme ist mir nicht so vertraut. Wir haben uns lang nicht mehr gehört. »Hier ist Mina«, schiebe ich schnell nach, damit sie der unsicheren Tussi einen Namen geben kann. Vielleicht kann sie sich sogar an mich erinnern.

Ich gebe ihr Zeit zu verarbeiten, bevor ich sie mit meiner Bitte in eine Zwangslage bringe. Der Kaktus zu meinen Füßen schaut mich komisch an. Könnte er, würde er mit dem Kopf schütteln. Er würde sagen, dass ich cool bleiben solle. Ich sitze in einer Bushaltestelle, geschützt vor dem Wind, der den Herbst ankündigt. Den Bussen winke ich zu, dass ich nicht einsteigen will. Die meisten verstehen den Wink und fahren dankbar weiter.

»Mina«, entgegnet Katrin langgezogen. Sie überlegt, wo sie mich hinstecken soll. Ich höre es. Sie schindet Zeit. Ich muss lächeln.

»Wie geht es dir?«

Sie gibt den Ball zurück, mit einer Standardfloskel, die in anderen Sprachen nicht einmal beantwortet wird. Ich bin wieder am Zug.

Meine Gedanken kreisen um das Wie und Wann und Warum und überhaupt. Ich möchte am liebsten alles erzählen, alle Theorien und Vermutungen, alle Höhen und Tiefen. Alles über Kai und dessen Pendant Kai Kaktus. Es soll nicht so klingen, wie es tatsächlich klingt – wie ein Hilferuf. Ich will es schön verpacken, sie nicht ausnutzen, nicht schnorren. Ich bin kein Parasit, aber eben auch keine gute Freundin. Ich bin nur eine Bekannte, die sich seit Ewigkeiten mal wieder meldet. Eine flüchtige Bekanntschaft, die den Stuhl, das Bett und den Teller fordert. Fordert? Erbittet? Erbettelt, wohl eher. Würde ich selbst einer derartigen Bitte nachkommen? Würde ich einer praktisch Unbekannten mein Heim anbieten? Nur weil die Unbekannte so blöd ist, sich von ihrem Freund vor die Tür setzen zu lassen?

Meine Zweifel werden unterbrochen von der Stimme des Engels: »Mina?«

»Ja«, antworte ich fix. Nicht, dass Katrin auflegt, weil sie denkt das Gespräch wäre unterbrochen. »Vom Malkurs an der Volkshochschule vor etwa vier Jahren. Hast du Zeit? Bist du zuhause? Kann ich vorbeikommen?«

Grandios, Mina! Eine Kanonade sondergleichen. Zusammen mit meiner Nervosität kann ich auch gleich sagen, dass ich Probleme habe und sie die Einzige ist, die mir gerade helfen kann. Mit der Tür ins Haus.

»Alles in Ordnung, Mina?«

Ihr Ton ist vorsichtiger geworden. Sie hat erkannt, dass ich Hilfe brauche. Bei Kai hätte ich dafür Sex, Steak und eine Schnulze, während der ich mich schluchzend an ihn schmiege, gebraucht. Und selbst dann hätte ich einzig seine Aufmerksamkeit, nicht sein Mitgefühl.

»Wollen wir uns auf einen Kaffee treffen?«, schiebt sie nach, das Gesprächsbedürfnis entlarvend.

Ehe ich sagen kann, dass ich es lieber etwas privater mag, ergänzt sie: »Oder willst du zu mir kommen?«

Wieso ist sie nicht in meiner Top Ten? Oder ist es die Situation, die sie so einfühlsam macht? Hat sie sich vielleicht geändert? Hat sie Ähnliches erlebt?

»Das wäre toll«, höre ich mich sagen. Mein Ton ist wohl immer noch hilfsbedürftig. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich. Ich hasse solche Menschen, die sich nur melden, wenn sie etwas brauchen. Ich, Schmarotzer.

»Ich schicke dir die Adresse«, endet sie freundlich.

Aufgeregt wie ein Kind vorm eingepackten Geburtstagsgeschenk warte ich an der Bushaltestelle auf die Adresse. Soll ich etwas mitbringen? Ein Gastgeschenk? Blumen? Pralinen? Schnaps?

Ist sie allergisch? Ist sie auf Diät? Ist sie trocken?

Oh mein Gott!

Ich kenne diese Frau gar nicht und jetzt will ich sie mit meinem Leben überfrachten, sie überfallen und ihre Wohnung (oder ihr Haus oder ihre WG) besetzen.

 

Nachdem ich alle Geschenkideen verworfen habe, lege ich mir die Worte zurecht, die meine Lage kurz schildern, ohne zu viel Unnützes wiederzugeben.

Mit einem Taxi geht es quer durch die halbe Stadt, vom Westen in den Nordosten von Köln. Während der Fahrt gehe ich die anderen Auswege durch, aber weder Eltern-Almosen noch Samariter-Kai noch eine Nacht im Büro erscheinen mir erstrebenswert.

Abwesend zahle ich den Betrag, auch wenn es die letzten Bargeldreserven sind, steige aus und bestaune die ruhige Wohngegend, mit viel Platz und Grün zwischen den Häusern.

Ich suche die Klingel und werde schnell fündig. Neben kargen, vergilbten Klingelschildern mit den Aufschriften eines Steuerberaters und zwei anderer Familien leuchtet dem Besucher farbenfroh ein Schild in orange und lila mit einem kleinen, selbstgemalten Engelchen entgegen. Auf ihm steht „K. Engelmann“. Sicherlich steht das K für Katrin. Die Adresse stimmt zumindest. Dem kleinen Engel drücke ich auf die Nase.

Es läutet oben im Dachgeschoss des dreistöckigen Hauses mit Tiefparterre. Ein Fenster im Dachgeschoss scheint gekippt zu sein, weshalb man das Läuten hört. Der Türöffner surrt. Anscheinend hat man mich erkannt.

»Ganz oben«, ruft jemand, als ich durch die Haustür trete.

Wenn das Katrin war, was sie ganz bestimmt war, hört sich ihre Stimme in echt noch samtiger an als am Telefon. Mein Puls beschleunigt sich. Ich stapfe die Treppenstufen mit meiner traurigen Kaktuskiste nach oben. Unter mir knarren die Holzdielen der Treppe.

»Komm rein«, winkt sie mir wohlgesonnen zu, an der Wohnungstür mit purpurnen Pantoffeln wartend.

Ich keuche, angesichts der Treppen und der Kiste mit meinen Habseligkeiten. Im Flur stelle ich die Utensilienbox ab. Katrin umarmt mich sofort. Ich kann nicht glauben, wie herzlich ich empfangen werde, denn eigentlich kennen wir uns kaum.

»Schön, dich zu sehen«, sagt sie strahlend, dann betrachtet sie meine Kiste samt Inhalt. »Wurdest du entlassen?«

Sie verknüpft sehr flott. Kaktus, Kaffeemaschine, Make-up und Badartikel. Dinge, die man auch im Büro lagert. Dabei weiß sie ja nicht einmal was ich beruflich mache. Sie versucht nur schnell zu verstehen, wie sie dazu kommt, spontan eine Fremde bei sich begrüßen zu dürfen.

Ihre helle Wohnung fällt mir sofort auf. Große Fenster, helle Wände, ein offener Schnitt, nur einzelne Stützbalken zum Dach hin. An den Balken hängen Bilder, wahrscheinlich von ihr gemalt. Bunte Farben, getupfte Landschaften, abstrakte Formen, verschwommene Gesichter. Fröhlich und beklemmend zugleich.

»Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht«, kläre ich sie zähneknirschend auf. »Und mich vor die Tür gesetzt«, nicke ich gefasst zur Kiste. Ich formuliere es emotionslos, da ich die Worte auf dem Herweg dutzendfach wiederholt habe, damit ich nicht in Tränen ausbreche.

»Wichser«, flucht Katrin leise, räuspert sich aber schnell und überspielt ihre Bemerkung mit einem mitfühlenden Blick.

Sie kennt die Geschichte nicht – ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die wahre Geschichte kenne, obwohl ich eine der beiden Hauptfiguren bin -, doch sie schlägt sich direkt auf meine Seite. Was soll sie anderes machen? Immerhin stehe ich wahrhaftig vor ihr. Oder sie unterstützt per se das weibliche Geschlecht.

»Willst du einen Kaffee?«

Sehe ich so mitgenommen aus? Anscheinend. Ich nicke.

»Darf ich dein Bad benutzen?«, frage ich.

»Natürlich. Da hinten«, zeigt sie auf eine von zwei Innentüren in ihrem Domizil, während sie in die offene Küche schlendert. Die andere Tür führt wahrscheinlich ins Schlafzimmer.

Im Bad werde ich von dutzenden, funkelnden Scherben an den Wänden willkommen geheißen. Wenn ich Katrin richtig einschätze, hat sie hier ihrer künstlerischen Ader freien Lauf gelassen. Es sieht nach mühevoller, lohnender Handarbeit aus, wie die vielen, kleinen Stücke geklebt sind. Sie spiegeln das Licht und erzeugen eine tolle Atmosphäre. Ich stelle mir vor, wie schön es sein muss, das Bad morgens zu betreten, wenn die durch das Dachfenster fallenden Sonnenstrahlen bunte, warme Lichter erzeugen, als würde man in einem Glitzermeer baden.

Ich betrachte mich kurz im Spiegel. Verweinte Augen, verwischtes Make-up. Kein Wunder, dass ich so viel Mitleid ernte. Schon der Taxifahrer sah mich an, als hätte er einen verwahrlosten Hund aufgelesen.

Zurück im Wohnraum wabert der Duft von frischem Kaffee umher. Ich spüre die Energie, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

Wir nehmen auf dem Sofa Platz. Mein Schlürfen an der warmen Tasse stört sie nicht. Sie wartet auf meinen Redeschwall.

Nach der halben Tasse beginne ich. Zwei Minuten später hat sie die wichtigsten Informationen erhalten, schüttelt allerdings nur den Kopf.

»Wie konnte das passieren?«

»Das frage ich mich auch«, zucke ich mit den Schultern.

Ihre ruhige Art und ihre offene Haltung erschaffen eine wohlige Aura. Es kommt mir vor, als säße ich bei meiner besten Freundin zuhause in Lübeck und wir würden über Gott und die Welt schwafeln – zwanglos, locker, vertraut.

Sie reicht mir ein Taschentuch. Erst weiß ich nicht, weshalb, fuchtele an meiner Nase herum, um dem vermeintlichen Popel Herr zu werden, aber sie deutet auf meine Augen. Tränen hatten sich verflüchtigt.

»Ich habe heute nichts weiter vor«, sagt sie, »erzähl mir alles, von Anfang an.«

Erstaunt über ihr Interesse, zögere ich nicht lang. Als hätten sich Schleusen geöffnet, bricht es aus mir heraus – automatisch. Nach über sechs Jahren Beziehung mit einem abrupten Ende schließe ich mit Kai Kaktus, wonach Katrin ausgelassen lacht. Auch ich werde angesteckt und muss lachen.

Mittlerweile hatten wir drei Tassen Kaffee. Dazwischen hat sie für jeden von uns ein Stück Kuchen aufgetaut: Donauwelle. Genau mein Geschmack. Zudem haben wir unseren ersten, gemeinsamen Running Gag: Rheinwelle. Denn die Donau fließt auf der anderen Seite der Bundesrepublik. Durch Köln schlängelt sich der Rhein.

»Auch wenn ich überrascht bin«, wird sie schließlich wieder ernster, »ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist.«

Ich muss wohl blöd gucken, was sie zu einer Erklärung veranlasst: »Bei mir ist auch viel passiert in letzter Zeit. Deshalb ist es schön, wenn man nicht allein ist, wenn man Schmerz und Freude teilen kann.«

Ist jemand verstorben?

Reflexartig mustere ich die Wohnung. Minimalistisches Interieur, selbstgemachte Möbel, Kunst, keine Fotos. Auf den zweiten Blick wirkt es wie eine Wochenendwohnung einer geheimnisvollen Person. Ich muss sie näher kennenlernen. Bis es dunkel wird, bleiben mir noch ein paar Stunden. Dann kann ich entscheiden, ob ich mich bei ihr sicher fühle, oder nicht.

»Hast du nur die Kiste dabei?«, fragt sie skeptisch.

Ich bejahe schüchtern. Make-up habe ich frischer Unterwäsche vorgezogen. Auch wenn es nur ein schmaler Strich Kajal, etwas Nagellack und ein Hauch Puder ist, hat mich mein Zehnerpack schwarzer Einheitsbaumwollhöschen nicht dazu bewogen, sie mitzunehmen. Ok, Kai hatte das Schlafzimmer besetzt. Wie sollte ich meine Klamotten holen?

»Willst du erstmal die Nacht hierbleiben und morgen sehen wir weiter?«, fährt sie fort.

Angesichts ihrer Offerte fällt meine Kinnlade herunter. Den geliehenen Pinsel kann sie gern behalten. Diese Großzügigkeit übertrifft meine Erwartungen bei weitem.

»Gern.«

»Du kannst einen Schlafanzug von mir haben«, bietet sie an.

Ich wippe unsicher. »Ich will dir nicht zu viele Umstände machen.«

»Ach Quatsch«, winkt sie ab, »Ich freue mich über meine neue Mitbewohnerin«, zwinkert sie.

Etwas unheimlich, wie schnell sie mich in ihr Leben einbindet. Ist sie einfach nur übermäßig freundlich, lesbisch oder gefährlich? Ein Killer oder ein Kannibale?

Sie lehnt sich leicht zu mir. Im Affekt lehne ich mich von ihr weg, so wenig, dass sie es hoffentlich nicht registriert.

»Ich will dir nicht auf die Pelle rücken, aber wäre es ok, wenn wir zusammen im Bett schlafen. Es ist groß genug und das Sofa ist zu hart«, zeigt sie auf ihren Rücken, der anscheinend schon einige Strapazen erdulden musste.

»Ich kann doch auf dem Sofa schlafen«, erwidere ich mit Unverständnis, denn mehr steht mir doch sowieso nicht zu.

»Nein«, widerspricht sie vehement, »Ein guter Gastgeber überlässt das bequeme Bett dem Gast. Aber es ist groß genug für uns beide, dass sich niemand auf dem Sofa quälen muss.«

Ich atme überfordert aus, ziehe die Mundwinkel nach oben und zucke mit den Schultern. »Für mich wäre das in Ordnung. Ich bin dankbar für alles.«

Katrin springt auf. »Super!«

Als hätte ich ihr erlaubt, in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Ein bisschen merkwürdig ist sie schon, muss ich zugeben. Ihre Haare glänzen so seidig. Das kenne ich sonst nur aus der Fernsehwerbung. Sie muss sehr viel Zeit in die Pflege stecken.

»Komm mit! Ich zeig dir alles.«