Read the book: «Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand», page 3

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DER BAUM VON AMERIKA

Ich war nicht mal zum Trinken in die Bar gegangen. Ich wollte nur nachsehen, was aus der Bar du Parc geworden ist, die ich in meiner schwärzesten Zeit regelmäßig aufgesucht hatte, als es mit mir immer weiter nach unten ging und ich dachte, ich würde nie den Grund erreichen. Wenn du untergehst, Alter, schluckst du zwangsläufig einiges an Wasser. Ich hätte den ganzen Fluss austrinken können, keiner hätte mir eine helfende Hand gereicht. Dabei hörte ich ihr Lachen, ihre Spiele, ihre Liebe. Die hellen Stimmen der kleinen Mädchen, die starken Stimmen der Männer und die sinnlichen der Frauen. Der Grund des Flusses ist ein wunderbarer Schallraum. Man hört alles, was oben gesagt wird. Die ganze Musik des Lebens. Den Gesang der Pflanzen, der Luft, des Winds. So geht es selbst den Föten. Sie verlassen die Welt des Wassers für die tödliche der Luft. Ich schlief zwölf bis achtzehn Stunden am Tag und den Rest schaute ich fern. Ich klebte unablösbar vor den Fernsehshows und wusste den Preis jedes beliebigen Putzmittels. Ich kannte den genauen Preis von allem, was Amerika verkaufte. THE PRICE IS RIGHT. Ich schluckte alles. Die wirkungsvollste Propagandamaschine, die Menschen je hervorgebracht haben. Dieses Amerika schrie unaufhörlich heraus, das Leben sei ein Fest und die Bäume dieses Gelobten Landes beugten sich unter wilden, schweren, köstlichen Früchten. Leider trägt der Baum auch bittere Früchte. Um erstere zu pflücken, muss man die Leiter der jüdischchristlichen Gesellschaft erklimmen, hingegen sind die bitteren Früchte für jeden in Reichweite.

EIN ZIMMER IN DER STADT

Ich schrieb gerade am offenen Fenster über dem Lärm der Straße, als Sonia ohne anzuklopfen hereinkam.

„Was machst du?“

„Ich beginne mit der Reportage.“

„Was? Ich dachte, für eine Reportage recherchiert man vor Ort?“

„Die Reise hat schon begonnen.“

„Du schreibst also über Dinge, die du nicht gesehen hast.“

„Aber ich schaue mir seit über zwanzig Jahren Amerika an. Meinst du, ein oder zwei Monate einer Touristenreise würden an dem Bild etwas ändern?“

„Ich finde es trotzdem komisch, was ist das für ein Reporter, der seine Bude nicht verlässt?“

„Das kommt häufiger vor als du denkst … Außerdem bin ich kein Reporter. Ich bin Schriftsteller. Sie verlangen nicht von mir, die Wahrheit zu schreiben. Sie wollen viel mehr. Eine Fotografie der amerikanischen Sensibilität. Was ich besichtigen könnte, ist viel weniger wichtig, als was ich empfinde.“

Sie bewegte sich lautlos durch das Zimmer. Ich spüre gern eine Frau in der Nähe, wenn ich schreibe. Schreiben und Begehren. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass sie tanzte. Ihre Füße glitten über den Holzboden. Ich beobachtete sie aus dem linken Augenwinkel. Ihre Bewegungen erschienen natürlich, aber hinter dieser Leichtigkeit spürte man eine ständige Anstrengung und stahlharte, wenn auch geschmeidige Muskeln. Der Tanz ist eine seltsame Kunst, die direkt dem Traum zu entspringen scheint. In meinen Träumen tanze ich häufig. Ich habe noch nie verstanden, warum der Tanz unbedingt mit Musik verbunden sein muss. Daher kommt der falsche Eindruck einer parasitären Kunst. Man hört schließlich Musik, ohne zu tanzen, warum soll man nicht tanzen ohne Musik? Manche Gepflogenheiten sind nur schlechte Angewohnheiten. Sie stellte sich leicht schwitzend hinter mich.

„Ich verstehe … Diese Leute haben dich schon bezahlt, deshalb brauchst du dir nicht mehr den Arsch aufzureißen …“

„Das war nur ein Vorschuss, für die Reisekosten. Den Rest bekomme ich bei Abgabe.“

„Langsam lerne ich dich kennen …“, bemerkte sie mit einem kurzen ironischen Lachen. „Hauptsache du kannst deine Miete bezahlen und hast Zeit zum Lesen …“

„Was kann sich ein Mann noch wünschen?“

Ihre Tartarenaugen verengen sich. Sie lässt sich in den Sessel fallen. Während sie mich ansieht, streift sie ganz nebenbei ihr Kleid hoch, so dass ich den Ansatz ihrer Schenkel sehe. Als ob plötzlich eine lange Nadel in meinen Nacken gestochen würde. Ich versichere Ihnen, das tut weh.

„Schau mal“, ruft sie wie ein kleines Mädchen.

Der rote Kreis der Abendsonne taucht das Zimmer in heißes Licht. Fast wie auf einer Kinderzeichnung. Ich habe plötzlich Lust auf ein gut gekühltes Bier. Sie läuft tänzelnd los und holt mir ein Carlsberg aus dem Kühlschrank. Sie tanzt ihr Leben.

„Was fängst du nur mit deiner Zeit an?“, fragt sie mich kopfschüttelnd, als wüsste sie schon, dass ihr die Antwort nicht gefiel.

„Viel zu viel“, antworte ich und trinke einen großen Schluck von dem kalten Bier. Langsam bekomme ich wieder Luft.

„Was zum Beispiel?“, hakte sie nach.

„Erstens lese ich …“

„Ja, immer Dostojewski …“

„Nein, heute morgen habe ich Walt Whitman angefangen.“

„Wirklich mal was anderes!“, spöttelte sie.

„Ich finde es ungerecht, Whitman hat schon alles Wichtige geschrieben, es ist ungerecht, wenn ich in der Zeit von ein oder zwei Monaten eine bestimmte Energie aufnehmen will, während Whitman sein ganzes Leben dafür eingesetzt hat. Das wird ein schrecklicher Kampf zwischen Walt Whitman und mir. Bin ich stark genug, um in einem Monat den Lebensodem dieser Naturgewalt zu empfangen, die Walt Whitman aus Manhattan besaß? Vorhin habe ich ihn ganz ruhig gelesen, da spürte ich ihn plötzlich direkt in meinem Plexus. Er ist mit solcher Wucht in mich eingefahren, dass ich aufgeschrien habe. Hör dir das an:

Walt Whitman, ein Kosmos, von Manhattan der Sohn,

Ungestüm, fleischlich, sinnlich essend, trinkend und zeugend,

Kein Empfindsamer, keiner, der sich über Männer und Weiber oder abseits von ihnen stellt,

Nicht bescheiden noch unbescheiden.*

Schweigen im Raum.

„So ein Mensch muss dir zum Freund werden.“

„Wie war das mit Dostojewski?“, fragte sie in ziemlich gewichtigem Ton, als wollte sie einen sehr aufwendigen Cocktail in einer Bar an der Rue Crescent bestellen. „War das anders?“

„Eigentlich sollte man nicht vergleichen. Ein Vergleich wirkt immer lächerlich. Dostojewski ist heimtückischer, er klebt an deiner Haut wie ein schlechter Geruch. Whitman ist direkt, erdverbunden, aber nicht wirklich, denn er ist schlau und glaub mir, der Alte hat eine harte Faust. Whitman zum Mittagessen, das muss man verdauen. Du hast den Eindruck, ganz Amerika dringt mit einem Schlag in dich ein …“

Ein letzter langer Schluck und ich rollte die Flasche über den Holzboden.

„Trotzdem“, fuhr sie fort, ohne sich von meiner kleinen Predigt beeindrucken zu lassen, „kann man doch nicht seine Tage nur mit Lesen verbringen …“

„Ach! Du willst einen genauen Bericht, wie ich meine Tage verbringe. Sag das doch gleich. Von Anfang an? Also ich stehe gegen zehn Uhr morgens auf, lese ein wenig, wie andere beten, bis ich wieder einschlafe – dabei ist zu unterstreichen, ich suche den Schlaf nicht, er soll mich finden. Die Geschichten, die ich gerade gelesen habe, bilden manchmal den Stoff meiner Träume. Das liebe ich. Später, viel später, wasche ich mich, ziehe mich an und mache etwas zu essen. Danach setze ich mich ans Fenster und schaue, wie die Leute unten vorübergehen. Sie haben es alle so eilig, dass ich nach einer Weile erschöpft bin. Ich schenke mir ein Glas Wein ein und lese weiter in meinem Buch. Dann ist schon Zeit für den Mittagsschlaf. Nach dem Mittagsschlaf (von einem Mann, der keinen hält, kann nichts Gutes kommen) gehe ich eine Runde durch den Park, aber nur kurz. Diese Mädchen in Sommerröcken würden mir sonst den letzten Nerv rauben. Auf dem Rückweg kaufe ich manchmal bei dem Dépanneur Obst, Gemüse und ein wenig Bier. Ich koche das Abendessen. Schon trudeln die Freunde ein, angelockt vom Geruch der Gewürze. Die Gewürzroute.“

„Deine Freunde? Aber ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals Besuch hattest.“

„Das war früher. Jetzt empfange ich niemanden mehr.“

„Warum? Ist was passiert?“

„Nein, ich habe mich nur für eine Zeit verabschiedet. Ich kann monatelang so leben. Ich bin unter Wasser. Meine Freunde wissen, dass sie mich dann nicht aufsuchen dürfen.“

Noch eine Flasche Bier. Sonia hatte schon verstanden, dass sich heute nichts abspielt. Ich bin woanders. Im Winter sind die Mädchen so schwer zu haben. Aber im Sommer, wenn es für alles zu heiß ist, fallen sie geradezu über dich her. Wenn man selbst erregt ist, sendet man offenbar Vibrationen aus, die sie abschrecken. Mir wurde jetzt klar, um sie anzuziehen, muss man nur mit seinen Gedanken woanders sein.

„Ich sehe schon“, sagt sie, „du willst arbeiten.“

„Ich arbeite nicht, Sonia. Ich reise in meinem Kopf. Ich sitze im Augenblick in einem Bus, der in den tiefen Süden der USA hinunterfährt.“

„Ich verstehe nicht, wie du das tun kannst … Es ist nicht ehrlich.“

„Was ist daran nicht ehrlich? Die Tatsache, zu schreiben man sitze in einem Bus, während man sich nicht aus der Bude gerührt hat? Weißt du, das Wort ‚Autobus‘ ist für mich so wirklicher als der echte Bus. Wohlgemerkt, die beste Reportage über Amerika, die je geschrieben wurde, stammt von einem Mann, der fast nie das Haus verlassen hat.“

„Und dafür hat er, genau wie du, eine Stange Geld eingestrichen.“

„Nein. Zu jener Zeit kannten sich die Dichter noch nicht gut mit dem Geld aus. Allerdings konnte Whitman das Gemüse aus seinem Garten essen. Ich muss alles kaufen.“

„Bin dann mal weg …“

Und sie ging tanzend hinaus. So, wenn der Tanz zum alltäglichen Leben gehört, wird er für mich erträglich. Tanzaufführungen hingegen langweilen mich. Wie auch alle anderen Aufführungen. Whitman hatte mich auf den Geschmack gebracht. Ich setzte mich wieder an meine alte Schreibmaschine, um einen neuen Kontinent zu erfinden.

JENSEITS DIESER GRENZE GIBT ES KEIN ZURÜCK

Eine dunkle verrauchte Bar. Reggae-Musik. Marley. Alle Verdammten dieser Erde. Indianer, Südamerikaner, Asiaten, Schwarze. Nur die Frauen sind weiß. Ein Maximum menschlicher Farben. Die Tanzfläche kaum doppelt so groß wie eine Tischtennisplatte. Das Geräusch aneinanderreibender Körper. Wie reißendes Papier. Gerüche aus aller Herren Länder. Die Wucht des Verlangens. Kannibalismus als die extreme Form der Zärtlichkeit. Krude Liebe. Ich esse dich auf. Versprechen. Siehst du, ich hatte dich gewarnt. Wie Frauen schmecken. Ein wenig salzig vom Schweiß. Salsa. Miteinander verschweißte Leiber. Trockene Zunge. Träume vom tropischen Regen. Alles hier, in dieser Bar an der Avenue du Parc. Nichts hat sich in der Zwischenzeit verändert. Auch wenn ich in fünfzig Jahren wiederkäme, wäre alles noch genauso. Die Gesetze sexueller Attraktion bleiben gleich. Die Welt der Nacht. Das älteste Ritual. Man tritt ein, steigt die steile Treppe hinauf, gibt seinen Mantel an der Garderobe ab (vergiss das Trinkgeld nicht, Bruder, wenn du wiederkommen willst), man setzt sich, schaut sich um, die Bedienung kommt, man wirft ihr einen erstaunten Blick zu, sie zieht ein wenig verschämt ab, man begrüßt die Freunde, wieder die Bedienung, man stellt sich unauffällig woanders hin. Hier wackelt ein Mädchen auf der Piste mit den Hüften. Nicht schlecht. Du fragst nach ihr. Sie ist neu. Du versuchst dein Glück. Sie sagt nicht nein. Wir tanzen. Merengue. Salsa. Reggae. Sie will nicht mehr. Du gehst weiter. Warum nicht mal pissen. In der Toilette triffst du einen Typen. Man unterhält sich ein wenig. Beim Herauskommen triffst du auf die Bedienung. Du bestellst ein Bier, zugleich siehst du ein Mädchen ganz hinten (wie ein flackerndes Licht am Ende des Tunnels), das du gut kennst, aber es unterhält sich mit einem Typen, den du hasst, zum Glück geht er, du kommst auf das Mädchen zu, ach! Dieses strahlende Lächeln, als hätte es schon immer auf dich gewartet. Die Bedienung tippt dir auf die Schulter. Du zahlst das Bier, nimmst einen einzigen Schluck und dann forderst du das Mädchen zum Tanzen auf. Du reibst dich an ihrem kühlen Körper. Musik aus Zaire. Sinnliche Rhythmen. Das ist cool, trotz allem. Es läuft wie nach Plan. Du hast es drauf !

„Dieses Mädchen ist nichts für dich, Alter.“

Ich drehe mich um. Ein langer Kerl lächelt mich an. Ihm fehlen vier Schneidezähne. So viel ich in meinem Gedächtnis suche, ich kann ihn nicht einordnen.

„Was hast du gesagt?“

Er lächelt wieder.

„Dieses Mädchen gehört jemand anderem.“

„Was soll der Blödsinn? Wird hier mit Weißen Frauen gehandelt?“

„Ich gebe dir den guten Rat … Du solltest besser sofort gehen.“

„Hör mal, keiner gehört keinem … wir sind hier in Amerika.“

Ein finsteres Kopfschütteln.

„Wir sind hier nicht in Amerika. Hier ist Schutzgebiet. Ich schwöre dir, diese Typen machen, was sie wollen. Und zwar alles. Verstanden?“

Ich schaue ihn schweigend an.

„Diese Typen halten sich an keine Gesetze. Der Polizei ist das egal, solange sie die Mädchen nicht zusammenschlagen.“

„Was redest du da? Hier ist doch kein Bordell!“

„Schau dich mal um … Wen kennst du hier noch? Schau dir die Mädchen genau an …“

Tatsächlich sahen sie anders aus als die Mädchen, die ich früher hier traf. Jetzt kamen sie immer zu zweit oder dritt in dicken Mafiaschlitten. Die Frauen, die früher in dieser Bar verkehrten, waren viel älter, stärker geschminkt, weniger sexy, dafür wild entschlossen, sich einen Abend zu amüsieren. Sie zogen dich recht bald mit auf die Toilette, um dann buchstäblich über dich herzufallen. Alles musste sich vor Mitternacht abspielen. Um Mitternacht stiegen sie die Treppe wieder hinunter zu ihren Familien in den hübschen blauen oder weißen Häuschen, in schöner Lage am Flussufer. Danach kamen die Mädchen mit den grünen, roten oder gelben Haaren. Sie verzogen sich auch schnell auf die Toiletten, aber allein. Und kamen mit diesem befriedigten Gesichtsausdruck wieder heraus. Die Älteren waren mir entschieden lieber. Aber heute waren da weder die älteren Vorstadtfrauen, die es am Wochenende krachen ließen, noch die Mädchen, die eigentlich nur eine Toilette suchten, um sich einen Schuss zu setzen, sondern wunderschöne Mädchen, die echt sexy waren. Ich hatte so sehr in meiner eigenen Welt gelebt, dass ich diesen radikalen Wandel gar nicht bemerkt hatte. Mir genügte es, die Bedienungen und ein oder zwei der Mädchen an der Bar zu erkennen, um mich zuhause zu fühlen.

„Wo kommen die her?“, frage ich den Mann hinter der Bar.

„Tja … das sind Mädchen aus der Vorstadt …“

„Unfassbar … Als ob diese Mädchen ihre Mütter rausgeschmissen hätten.“

„Eher ihre Großmütter“, raunt er mir mit einem honigsüßen Lächeln zu.

Ich schaue kurz hin. Tatsächlich.

„Was wollen die hier?“

„Sie gehören diesen Typen …“

An der Treppe standen schwarzgekleidete Männer, die mir beim Hereinkommen nicht aufgefallen waren, weil sie aussahen wie Türsteher. Sie hatten alle Sonnenbrillen.

„Und wo sind die anderen? Die von früher? Ich bin höchstens drei Jahre nicht hier gewesen.“

„Ich weiß nicht … keine Ahnung“, murmelte er, ohne mich anzusehen. „Sie waren hier und von einem Tag auf den anderen nicht mehr. So ist das.“

„Wie im Fernsehen.“

„Jemand hat die Spülung gedrückt. Und sie sind runtergespült worden.“

„Eine ganz andere Sorte …“

Er schaute mich eine Weile an, dann senkte er den Blick.

„Früher war es mehr handwerklich, sag ich mal“, fügte ich hinzu.

„Ja, alles ändert sich …“

Er wirkte müde, als er zu einem Kunden am anderen Ende der Theke hinüberging.

FÜR DIE BERUFSEHRE

Hier im Paradiso spielt sich alles ab: Krieg, Leben und Tod, Liebes- und Geschlechtskrankheiten, Gewalt, brutale Trennungen und verhängnisvolle Affären. Auf dieser winzigen Fläche. Jeden Abend. Die Einheit von Zeit (von 23 Uhr abends bis 3 Uhr morgens) und Ort (die Tanzfläche). Jedes Mal die selben Charaktere (Jenny, Charlie, Adam, Cham und früher ich). Man braucht sich nur in eine Ecke zu setzen (so wie ich heute Abend), um zuzusehen, wie das große Schauspiel unserer Zeit sich langsam entfaltet. Rassen, Geschlechter, Klassen, Religionen, alles vermischt, zu dem einzigen Ziel, uns zu unterhalten. Denn der Mensch spielt perverse Spiele und praktiziert Rituale ohne Sinn und Zweck. Nur, um uns zu unterhalten, bekommt Jenny jeden Abend einen Eifersuchtsanfall, schließt sich in der Toilette ein und droht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Und auch, um uns zu unterhalten, lässt sich Cham von Charlie jedes Mal seine Neue ausspannen und sich anschließend von ihm vermöbeln, weil er versucht hat, sie zurückzuholen, als Charlie weg war, um sich seine Dosis zu spritzen. Und ebenfalls, um uns zu unterhalten, kriegen sich Jenny und die Neue von Charlie (die Ex von Cham) auf der Treppe in die Haare, während Charlie sich oben ausschüttet vor Lachen. Wenn du in fünfzig Jahren wiederkommst, ist es immer noch das gleiche Schauspiel. Wie in der Messe gibt es die Darbietung der Hostie (wenn Charlie auf das Mädchen von Cham aufmerksam wird), das Evangelium (wenn Charlie seinen blödsinnigen Sermon loslässt, wie scharf Blondinen auf Schwarze sind) und die Wandlung (alle senken den Kopf, um das Mysterium der Eucharistie nicht zu schauen), wenn das Mädchen hingeht als würde sie schreien: „Seht her, dies ist mein Leib, esset ihn, und dies ist mein Blut, trinket es.“ Dann nimmt Charlie sie mit auf die Toilette und zwei gute Stunden darf keiner pissen gehen. Manchmal drei. Ite missa est. Warum gewinnt immer der größte Depp? Ganz einfach, Alter, weil er der größte Depp und kein durchschnittlicher Depp ist. In Amerika geht es immer um Superlative. Suche dir einen Bereich, egal welchen, und werde darin der Größte. Das ist alles. Zum Beispiel: Du bist Schriftsteller, nicht wahr? Nun … Du bist Schriftsteller, ja oder nein? Du musst wissen, was du willst. Wir sind nicht in Europa. Bist du Schriftsteller? Ja, ich glaube. Schon ein bisschen besser. Entscheide dich, Alter. Stell dir vor, man stellt die gleiche Frage einem Klempner. Bist du Klempner? Nun … Den Mann lässt du doch nicht in dein Badezimmer.

Ich hing noch diesen wenig schlüssigen Gedanken nach, als sich ein kräftiger Arm um meinen Hals schlingt.

„Da ist ja unser Star!“

Ich weiß, wer es ist.

„Hallo Charlie.“

Er drückt mir den Hals weiter zu.

„Hallo, Alter.“

Langsam geht mir die Luft aus.

„Warum besuchst du uns?“

„Ich wollte nur was trinken, Charlie.“

Charlie drückt nochmal zu.

„Was meinst du mit ‚nur was trinken‘?“

„Nichts weiter, Charlie.“

Ich bringe kaum einen Ton heraus.

„Deine Freunde sind dir wohl nicht mehr wichtig?“

„Natürlich sind sie mir wichtig.“

„Es sieht nicht so aus.“

Er stößt mich weg und ich werfe den Tisch um, einem Mädchen mit einer Tonne Ketten um den Hals auf die Füße. Sie beginnt zu schreien.

„Scheiße, hör auf mit dem Blödsinn, Charlie, ich wollte nur in aller Ruhe was trinken.“

Er geht mir wieder an die Gurgel.

„Sag das nicht nochmal!“

Wir rollen über den Boden, ich hole mir von einer dort liegenden Glasscherbe eine Schnittwunde am Arm. Das Blut bildet einen Fleck auf Charlies Hemd und er denkt, er sei verletzt. Ich kann ihn endlich wegstoßen und auf die Toilette rennen. Mein ganzer linker Arm ist voll Blut, aber eigentlich ist es nur ein kleiner Schnitt. Ich weiß nicht, warum Charlie denkt, ich hätte ihn in meinem Roman beschrieben. Tatsächlich habe ich für eine Figur ein paar Züge von ihm geklaut, aber diese Figur ist nicht nur er. Ich wiederhole es, diese Figur hat nicht mehr von Charlie als von Adam, der damals auch gerade an einem Roman schrieb (der später nie wieder erwähnt wurde) oder von Cham oder sogar von mir selbst (mindestens dreiunddreißig Prozent). Gut ein Drittel dieses verfluchten Romans stellt mich dar. Außerdem habe ich ihn geschrieben. Aber das alles ist Charlie egal. Er meint, ich brauchte nur ihn und sein Leben zu betrachten, um dieses Buch zu verfassen. Tatsächlich habe ich einige seiner Sprüche wörtlich übernommen. Er hatte zu einem Mädchen, dem er den Laufpass gab, gesagt: „Es ist für alle eine harte Zeit, Alte.“ Jeder in der Bar weiß, dass ich den Spruch Charlie verdanke, aber so gehen die Schriftsteller eben vor. Sie verschlingen Menschen, um Wörter auszuscheißen. Ich wette, Charlie hat das Buch nicht mal gelesen. Er gibt sogar damit an, dass er noch nie im Leben ein Buch gelesen hat. Aber warum sind die anderen auch seiner Meinung? Verrückt, in meiner Naivität dachte ich, sie würden mich wie einen Helden begrüßen. Seitdem ich das Buch veröffentlicht habe, sind die Schwarzen plötzlich in Mode. Noch nie war so viel von ihnen die Rede. Endlich kam einer, der so über uns schreibt, wie wir es gerne hätten. Ich sagte mir: Die Schwarzen werden sich vor mir verneigen. Sie werden sagen: „Schau dir den kleinen Witzbold an, er hat den Weißen abgeschaut, wie man es macht. Von Musikern und Sportlern ist das bekannt, mit den Wörtern fällt es uns noch etwas schwer, aber dieser junge Schlaukopf hat sich einen Weg bis ins Innere des Alphabets gebahnt. Und er ist sogar gesund und munter zu uns zurückgekehrt, unter dem Beifall von vielen Weißen Liberalen. Alles, was wir wollen ist, dass er sich möglichst viel Kohle von den Weißen geholt hat. Natürlich interessieren sich nur Yuppies und alte weiße Squaws für seine Rezepte. Wir Schwarzen können nichts mit einem Buch anfangen, das Tricks anbietet, wie man besser vögelt, da wir bei unserer Geburt schon in den Zaubertrank gefallen sind (oh ja!). Wir geben keinen Cent für ein ziemlich einfältiges Werk aus, das erzählt, wie ein Schwarzer sich durch diesen Dschungel kämpft. Wir beklatschen nur den gelungenen Coup und Schluss.“ Ich hatte ziemlich sicher so ein langes Palaver unter dem Baobab erwartet, nicht mehr und nicht weniger. Aber ich habe mich gründlich getäuscht. Ich erinnere mich an die Zeit, als Cham und ich junge Schwarze ohne Geld waren, die vorhatten, die Welt zu verändern, um ein größeres Stück vom Kuchen zu bekommen. Wir sagten immer, die Bücher, die die Weißen über die Schwarzen schrieben, seien alle zu zahm vor lauter Rücksichtnahme. Eingeschmiert mit der ganzen Vaseline des jüdisch-christlichen Schuldgefühls, gingen diese Bücher den Dingen nie auf den Grund, in einem Wort, diese Bücher waren MistMistMistMistMistMistMistMistMistMist. Die von Schwarzen geschriebenen waren noch schlimmer. Immer dieser alte Blödsinn von der „Verteidigung und Darstellung der Rasse“. „Und das, Alter“, sagte Cham immer mit seiner dünnen, hohen Stimme, „hat nichts mit Literatur zu tun, rein gar nichts … Literatur ist Enthüllung und sonst nichts. Sagen, was nicht gesagt werden darf.“ Jedenfalls sprachen wir damals so, Cham und ich, als es für uns nicht immer gut lief. Wir unterhielten uns ein bisschen darüber (mit Eleganz und Coolness, du weißt schon), bis ein Mädchen (ich glaube Jenny) eines Abends verkündete, Adam sei dabei, ein Buch zu schreiben. Sie habe ein Kapitel gelesen und es sei eine Bombe. Keiner hat einen einzigen Moment geglaubt, dass Adam etwas Explosives schreiben könnte. Das Mädchen (ich bin nicht mehr sicher, ob es Jenny war) ließ durchblicken, dass wir von Adam keine Ahnung hätten, dass sie sich mit Männern ganz gut auskannte und dass sie Adam für den Typ Mann hielt, der das Zeug zum Serienmörder hatte. Er sei ein frustrierter Träumer. Schweigen um den Tisch. (Ach ja! Wir waren bei Jenny, aber ich weiß nicht mehr, wer dieses Mädchen war.) Für sie war Adam jedenfalls der Prototyp des Schriftstellers. Ein Perverser, der im Trüben fischt. Ein Impotenter. Ein Voyeur. Ein armseliger Träumer. So beurteilte sie also Autoren. Es hatte mir einen harten Schlag versetzt. Schriftsteller? Impotente Spanner, bereit, sich selbst zu verkaufen, nachdem sie ihre Freunde schon drangegeben haben. Eigentlich müssten sie büßen für die Schläge und Verletzungen, für die Erniedrigungen, die sie ihren Figuren zufügten, für die Gerüchte, die sie verbreiteten oder für die alten Klischees, die sie unter der Asche wieder aufrührten. Die Leser sahen in den Schriftstellern feige, lüsterne und gemeine Menschen, obwohl sie ihnen zuvor für dieselbe Bespitzelung und denselben Verrat Beifall gespendet hatten. Unbewusst war das vielleicht auch ein Grund, weshalb ich an diesen Ort zurückgekehrt war. Ich wollte mich von denen beurteilen lassen, die in meiner Vorstellung zu Figuren geworden sind, nachdem sie meine Freunde waren. Auch deshalb hatte ich mich mit Charlie geprügelt. Für die Berufsehre.