Read the book: «Gestillt»
Daniel Zindel
Gestillt
Nachtgespräche mit David
Zu diesem Buch
Reinhold, ein junger Marketingplaner mit Führungsverantwortung in einem dynamischen Unternehmen, hat Probleme beim Einschlafen. Da entdeckt er in nächtlicher Stunde die Möglichkeit, mit König David in Briefkontakt zu treten. Für Reinhold, der ein abgebrochenes Theologiestudium hinter sich hat, ist das ein faszinierendes Unternehmen. Der Familienvater von drei Kindern erzählt David von seinem Arbeitsalltag, aber auch von der eskalierenden Not in seiner Ehe.
David seinerseits gibt Reinhold Einblick in sein bewegtes Leben damals auf Erden und öffnet überdies auch einen Spalt breit die Himmelstüre. Er erzählt von den regelmäßigen Treffen im Café Paradiso. Einer seiner Freunde ist Paulus, mit ihm führt er besonders oft engagierte Gespräche, meist auf einem Bummel in der goldenen Stadt oder auf Spaziergängen dem großen Strom entlang. Asmus, ein Volksschriftsteller aus der Aufklärungszeit, gehört ebenso zur Stammtischrunde wie E., die gescheite und charmante Philosophin.
Immer wieder kreist der Briefwechsel um die Frage nach dem wahren Stillen der innersten Bedürfnisse. Durch die Nachtgespräche verändert sich Reinholds Familienleben; der junge Karrierist lernt von David, dass weder Macht, Reichtum noch Sex seinen inneren Mangel ausfüllen können. David zeigt Reinhold einen weit besseren Weg.
Die fiktiven Nachtgespräche mit David sind unterhaltsam geschrieben und machen zugleich seelsorgerlich Mut.
Über den Autor
Daniel Zindel, Jahrgang 1958, ist Theologe und leitet die Stiftung „Gott hilft“, ein christliches Sozialwerk in Graubünden, Schweiz. Er ist verheiratet mit Käthi Zindel-Weber. Die beiden sind Eltern von vier erwachsenen Kindern und auch in der Beratung von Ehepaaren tätig.
Daneben ist Daniel Zindel Autor von Büchern und Zeitschriften-Artikeln.
Bücher von Daniel Zindel:
•Daniel Zindel, Geistesgegenwärtig führen – Spiritualität und Management (3. Auflage)
•Daniel Zindel & Käthi Zindel-Weber: Lieben, leiten, leben – Das Ehebuch für Führungskräfte (2. Auflage)
Impressum
Dieses Buch als E-Book:
ISBN 978-3-86256-748-5, Bestell-Nummer 590 051E
Dieses Buch in gedruckter Form:
ISBN 978-3-86256-051-6, Bestell-Nummer 590 051
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar
Lektorat: Dr. Thomas Baumann Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson Umschlagbild: LilKar/ShutterStock.com® Satz: Neufeld Verlag
© 2014 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des Verlages
Eine erste, vergriffene, Auflage dieses Buches erschien
2007 im Scesaplana Verlag, Seewis, Graubünden
www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch
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Inhalt
Zu diesem Buch
Über den Autor
Impressum
Anstelle eines Vorwortes
Lieber David ...
Über den Verlag
Unseren vier Kindern Rachel, Joel, Sarah, Maria – wir haben uns gegenseitig erzogen.
Anstelle eines Vorwortes
Lieber Reinhold,
Du fragst, ob Du unseren Briefwechsel veröffentlichen dürfest. Du kannst Dir vorstellen, dass das Beispiel der Gesundung Eurer Ehe für andere Paare ermutigend sein könnte. Das kann es ohne Zweifel. Aber ob unsere Briefe für Außenstehende auch sonst interessant sind?
Ich besprach mich gestern am Stammtisch im Café Paradiso mit den anderen (fand das einfach angemessen, sie in die Entscheidung mit einzubeziehen). Alle waren anwesend. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, dass du deine Briefe, in denen auch wir vorkommen, veröffentlichst«, sagte Paulus eifrig und strich mit seiner Rechten viel sagend über seinen pechschwarzen Bart. »Historisch ist in eurem Briefwechsel nicht alles hieb- und stichfest und darüber hinaus: Die da unten gehen himmlische Einzelheiten noch nichts an. Die wandeln im Glauben, nicht im Schauen.«1 Er geriet beim Sprechen wie meistens in ein Feuer: »Wenn die merken, wie wunderschön wir es hier haben, wer steht dann noch mit aller Kraft unten im ›guten Kampf‹?2 Ich weiß selber, wie das ist, wenn man sich am liebsten Richtung Himmel verabschieden möchte.« Und dann erzählte er, dass er sich damals nur wegen seiner Liebe zu den Gemeinden nicht aus dem Kampf des Lebens in die Fülle der Ewigkeit habe davonschleichen wollen.
E.s Blick ruhte nachdenklich auf Paulus. »Fass diese Briefe als Phänomene einmal vorurteilslos ins Auge«, sagte sie und nippte an ihrem Grüntee, bevor sie fortfuhr: »Fühlst du dich denn mit deinen Anliegen in diesen Briefen so schlecht erfasst? Mir geht das anders, und im Übrigen werden die Leserinnen und Leser sowieso ›alles prüfen und das Gute behalten‹3.« Dieses Argument saß und Paulus kam nicht umhin, E. einen anerkennenden Blick zuzuwerfen. (Ich bin immer wieder fasziniert, wie wir hier oben miteinander ringen können, ohne dass es dabei zu Verletzungen kommt!)
»Ich bin auch dieser Ansicht«, meldete sich Asmus und er strahlte dabei wie der Vollmond, wenn er aufgeht. »Ich fühle mich gar nicht so schlecht dargestellt. Zudem, Freunde – entschuldige E., das weibliche Geschlecht ist bei der männlichen Ausdrucksweise immer mitgemeint –, gehören wir doch zur ›Wolke der Zeugen‹4. Die da unten können durchaus etwas von uns ›Pionieren‹ lernen. Zum Beispiel, wie man seine Bedürfnisse richtig stillt, ohne dabei abzustürzen. Findest du das nicht auch, David?«
Früher wäre ich bei einer solchen Anspielung errötet, aber Scham, im Sinne von Schande, kennen wir hier ja nicht. So sagte ich: »Auch ich stehe zu unserem Briefwechsel. Wir sprachen darin über wichtige Themen: wie man seine Berufung erkennt, ein gelingendes Leben vor Gott führt, als Mann und Frau zusammen lebt und vor allem, wie wir unsere innersten Bedürfnisse stillen.« »Und du findest es also gut, dass dein Leben bis hin zu peinlichen Details ausgebreitet wird?«, meinte Paulus, schon sichtlich milder gestimmt. Ich entgegnete ihm gelassen: »Erstens wissen die das alles sowieso und zweitens kämpfen sie mit den gleichen Problemen wie ich damals. Ich bin also in guter Gesellschaft. Auch geht es letztlich gar nicht um mich oder um Reinhold oder um euch alle, sondern um Gott, gepriesen sei er. Er ist die Quelle, an der wir uns stillen können.« Paulus gab schließlich seinen Widerstand ganz auf und sagte, es sei von ihm aus in Ordnung, dass Du die Briefe veröffentlichst: »Was soll’s, wenn nur Christus gepredigt wird«5, sagte er und fügte noch bei, dass Du für das, was Du von Dir selbst preis gebest, die alleinige Verantwortung tragen müssest.
Also Reinhold, ich gebe Dir grünes Licht. Für Deinen bzw. Euren Teil im Briefwechsel musst Du selbst die Verantwortung übernehmen. Ist Eure Beziehung heute stabil genug? Leserinnen und Leser werden Euch Fragen stellen. Mein Wunsch für die Ausgabe unserer Briefe ist es einfach, dass alle, die sie lesen, in ihrer Liebesbeziehung zu Gott gestärkt werden oder gar zum ersten Mal das Abenteuer eingehen, an seiner Hand durch das Leben zu gehen.
Sei herzlich gegrüßt Dein David
P. S.: Vergiss bitte nicht, mir vier Exemplare zuzustellen. Paulus wird der Erste sein, der das Büchlein verschlingen wird, und mit Bestimmtheit wird er trotz des exzellenten Lektorats durch Dr. Walter Lerch, Schiers, einige Stil- oder Druckfehler (wenn nicht gar eine falsch zitierte Briefstelle) finden.
12. Korinther 5,7
21. Timotheus 6,12
31. Thessalonicher 5,21
4Hebräer 12,1
5Philipper 1,18
Lieber David,
ich kann nicht schlafen. Wie so oft. Ich durfte heute im Verwaltungsrat unsere neue Marketingstrategie vorstellen. Habe mit meinem Team pausenlos drei Wochen lang darauf hingearbeitet. Nach längerer Diskussion hat der Rat die Pläne zur nochmaligen Überarbeitung an mich zurückgegeben. Die Zielgruppe für unser Produkt müsse noch deutlicher herausgearbeitet werden, die Visualisierung sei in Ordnung, aber wir müssten noch griffiger texten. Jetzt bin ich müde, ausgelaugt, frustriert.
Als ich nach Hause kam, habe ich mich über die Unordnung bei der Eingangstüre furchtbar aufgeregt. Ich musste wie ein Hürdenläufer im Olympiastadion über Schulsachen, ein Rollbrett und den Einkaufskorb meiner Frau springen. Meine Frau sagte, ich sei überreizt. Aus heiterem Himmel brach ein Gewitter los und ich fragte sie, wer da wohl überreizt sei: »Ich lasse mir das einfach nicht mehr bieten, dass du deine miese Laune an der Familie auslässt«, schrie sie halb hysterisch. In Fahrt gekommen, fuhr sie mit einem der Monologe weiter, bei denen ich jeweils weghöre. Sie hätte mir jetzt lange genug wie eine Sklavin gedient. Dann schwafelte sie noch etwas, sie sei nicht mehr die Frau, die ich geheiratet hätte; ich verstand nicht genau, was sie damit meinte. Natürlich hat sie die ersten grauen Haare, die stehen ihr gar nicht so schlecht, aber sie ist doch immer noch die gleiche Frau, außer dass sie in den letzten beiden Jahren immer ungenießbarer wurde.
Während des Abendessens waren die Kinder furchtbar laut. Ich riss mich zusammen und sagte nichts, hörte nur halbherzig zu, holte mir nach dem Essen ein Bier und ließ mich vor dem Fernseher nieder. Hier konnte ich zum ersten Mal am Tag ein bisschen ausspannen. Meine Frau ging grußlos ins Bett.
Ich ging dann auch bald nach oben. Wenig später drehte ich mich nach ihr um, begann ihre Schulter zu streicheln und gurrte zärtlich: »Wir wollen uns versöhnen.« Sie jedoch nahm meine Hand von ihrer Schulter weg – wies sie richtiggehend zurück, als wäre sie vergiftet – und sagte: »Sex ist kein Versöhnungsmittel.« Ich war perplex. So hatte sie noch nie geredet. Wo hatte sie das her? Ich faselte etwas von ehelicher Pflichterfüllung und so, ich hätte auch einen intensiven Tag gehabt und schließlich müsse man ja seine Batterien wieder aufladen. Ich stand wieder auf und ging nach unten.
Nun sitze ich im Wohnzimmer vor dem zweiten Bierchen und einem großen Salamibrot. Eben lese ich in einem Deiner Lieder: »Fürwahr, ich habe meine Seele gestillt«6. Was genau meinst du mit dem Ausdruck Seele? Kannst Du mir sagen, wie Du das geschafft hast, Deine Seele zu stillen? Du gebrauchst in Deinem Lied sogar das Bild des entwöhnten Säuglings, der entspannt am Herzen seiner Mutter liegt, ohne unruhig nach Nahrung zu suchen. Du hast Deine Seele gestillt und »beruhigt«.
Wie macht man das, dass in der Seele Ruhe einkehrt? Wie geht das vor sich, wenn man seine Seele stillen will? Muss ich mir das als eine Art »seelische Selbstversorgung« vorstellen? Hast Du damals Psalmen gedichtet, um Dich aufzubauen? Hast Du jeweils die Harfe vom Nagel genommen und mächtig in die Seiten gegriffen? Oder ging es bei Dir viel kreatürlicher zu, auch wenn Du den Griff zum Kühlschrank noch nicht kanntest? Pflegtest Du Dich bei einer Deiner vielen Frauen zu stillen? Auf Deine Antwort bin ich gespannt. Ich merke nämlich, dass das für mich ein Thema ist. Und für meine Mitarbeitenden auch. Viele sprechen von »Burnout«.
Dabei müsste es nur zu Hause rund laufen, dann wäre man den Dauerstress los. Wieso hat meine Frau Familie und Haushalt so schlecht im Griff? Das ist doch keine große Sache!
Sei herzlich gegrüßt
Dein Reinhold
Lieber Reinhold,
ich danke Dir für Deinen Brief und Deine Offenheit. Da spitzt sich in Euer Ehe und Familie offenbar etwas zu, das Ihr angehen solltet. Solche Krisen sind ja eigentlich normal, doch es ist jetzt bei Euch allen ein Entwicklungsschub angesagt. Vielleicht ist gerade Deine Frage nach dem »Stillen« der Schlüssel dazu.
Ich unterscheide zwischen dem Leib mit all seinen körperlichen Regungen und Bedürfnissen und der Seele, die ich mir als sehr umfassend vorstelle: Zum Bereich der Seele gehören die Empfindungen, unsere Fantasien, unser Denken, unsere bewussten und unbewussten Strebungen, also auch der Wille. Alles, was unsere innere Lebendigkeit ausmacht, ist Seele. Gegenüber dem Leib ist sie ungetrennt und unvermischt.
Wie Du Deine Seele stillen kannst? Du gehörst zu einer Generation, die Überfluss hat und zugleich ungestillt ist. Mir kommt es so vor, als wenn Ihr einerseits verwöhnt und andererseits verwahrlost wärt. Ihr müsst Euch ständig etwas »reinziehen« und habt auch die Möglichkeiten dazu. Ihr seid ständig auf der Suche nach dem »Kick« (nennt Ihr das nicht so?). Ständig muss etwas Neues her. Der Homo sapiens mutiert zum »homo zappiens«, wie Du es mit dem Bierchen vor dem Fernseher tatest! Das hat mit dem Tempo und dem Druck zu tun, mit denen Ihr lebt. Wir hatten es da etwas einfacher. Jedenfalls war es am Anfang meines Lebens so, später am Hof war es anders.
Du fragst, wie ich mich stille. Nun, (Ehe-!)Weib, Wein und Gesang sind nicht zu verachten. Wir Alttestamentlichen konnten die leiblichen Gaben unseres Schöpfers, gepriesen sei er, in vollen Zügen genießen. Aber zur Stillung der Seele reicht das nicht ganz. Auch das, was Ihr »Psychohygiene« nennt, greift nicht tief genug. Ihr arbeitet ja nur noch fünf Tage in der Woche. »Burnout« hat auch eine geistliche Komponente.
Was mich echt wundert, ist Deine Hilflosigkeit in der Frage, wie man seine Seele stillt. Hast Du nicht bemerkt, wie ich in meinen Liedern von einer höheren Plattform aus meine Seele an die Hand nehme? Mein Geist führt Selbstgespräche mit ihr. Er fragt sie: »Was bist du so bekümmert, meine Seele, und so unruhig in mir?«7 Der Geist spricht der Seele gut zu: »Harre auf Gott, ich werde ihm noch danken, ihm, meinem Helfer und meinem Gott.« Manchmal musste ich meine schlaffe Seele auch ein wenig »puschen«, sagt Ihr, glaube ich: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.«8 Ich verstehe wirklich nicht, warum Ihr nicht viel weiter seid als wir damals. Ihr habt doch den Heiligen Geist im Übermaß!
Paulus und ich verweilten heute Morgen auf einer Sandbank am großen Strom. Er floss still dahin, die Strömung war kaum zu erkennen und doch war alles in Bewegung. Seine randvolle Ruhe, sein stetes Strömen lockte mich, einfach hineinzusteigen und mich vom Strom des Lebens tragen und treiben zu lassen. Aber es war noch nicht Zeit, unser Gespräch abzuschließen: »Die leben zuwenig vom Geist her«, sagte er mir und räkelte sich im Sand. »Da habe ich doch damals im Brief an die Thessalonicher geschrieben: ›Der Gott des Friedens selbst aber heilige Eech durch und durch, und unversehrt möge euer Geist und Seele und Leib bewahrt werden‹9. Die sind so seelengesteuert.«
Reinhold, in Euch übernimmt der Geist, der ja die Plattform des Heiligen Geistes ist, zu wenig die Führung! Dann nimmt die Seele das Heft in die Hand, oder gar der Leib mit seinen Lust- und Unlustimpulsen. Wenn Du also das nächste Mal ungestillt bist, setz Dich hin. Lass den Heiligen Geist zu Deinem Geist sprechen: »Du bist mein geliebter Sohn.« Nimm von Deinem Geist her Deine aufgewühlte, aufgebrachte, entmutigte Seele ein wenig in die Arme. Drücke sie an Dich. Sprich ihr gut zu. Befrage sie auch. Ich denke, dabei können Dir auch meine Lieder helfen. Ich habe darin manchmal mit meiner Seele einen sehr weiten Weg zurückgelegt. Gott bzw. mein Geist holte die Seele zum Beispiel bei Rachegedanken ab und führte sie bis hin zum Lobpreis. Ich muss Dir ein andermal mehr darüber berichten. Übrigens, wie Du Deinen Geist stärken kannst, verrate ich Dir das nächste Mal. Ich muss schließen, Paulus holt mich ab zu einem Bummel in die goldene Stadt.
Mit lieben Grüßen Dein David
P. S.: Der Zusammenstoß mit Deiner Frau tut mir echt leid. Sie scheint sich zu verändern und abzugrenzen. Wie schätzt Du die Bausubstanz Eures Ehehauses ein?
Lieber David,
Du fragst, wie es um unsere Beziehung stehe. Wir haben es im Großen und Ganzen gut zusammen. Wenn meine Frau noch ein bisschen zufriedener wäre, ginge es uns sogar blendend. Seit ich den Job gewechselt habe, fordert mich der Beruf extrem; leider bekomme ich von zu Hause her Null Unterstützung. Im Gegenteil: Immer, wenn ich mich vom Abendessen abmelde, weil wir noch eine Nachtschicht einlegen, kriege ich an Stelle eines guten Wortes für den Sondereinsatz noch eins obendrauf. Gerade letzte Woche hatte meine Frau am Telefon einen solchen Ausbruch; sie schrie in den Hörer: »Es scheißt mich langsam an, es ist in dieser Woche schon das dritte Mal, dass du nicht zum Abendessen kommst!«, und legte dann auf.
Sie meint, die ganze Verantwortung für die Familie liege allein auf ihren Schultern. Das ist mitnichten so. Erstens finanziere ich das ganze Unternehmen. Zweitens trage ich auch praktisch meinen Teil bei. Wenn ich abends nach Hause komme, gebe ich meine Anweisungen. Meist geht es um Ordnung im und ums Haus, um die Hausaufgaben der Kinder. Manchmal helfe ich beim Zeitmanagement und frage dann, wann es endlich zu essen gebe. Ich möchte doch einfach, dass wenigstens das Geschäft zu Hause rund läuft. Nach einem zwölfstündigen Arbeitstag darf ich doch sicher erwarten, dass wenigstens das bisschen Haushalt einigermaßen gut erledigt ist.
In letzter Zeit kommt es gehäuft zu Unstimmigkeiten, wenn ich heimkehre. Meine Frau sagt dann immer, dass es bis zu meiner Heimkehr sehr gut gegangen sei: »Du bringst eine solche Unruhe mit nach Hause; du forderst und nörgelst oder dann hört man gar nichts von dir, weil du hinter der Zeitung verschwunden bist.« Dabei will ich mit meinen Anweisungen nur helfen, ein bisschen Ordnung in den Laden zu bringen. Es ist eben meine Begabung, zu sehen, was noch nicht gut ist. Anfangs hat das meine Frau sogar geschätzt. Jetzt meint sie, ich sei das Problem, dabei müsste nur sie ihren Laden besser im Griff haben.
Du siehst, uns geht es eigentlich ganz gut, wir haben uns nur ein bisschen auseinander gelebt. Schwieriger ist es vor allem darum geworden, weil meine Frau an drei Nachmittagen wieder in ihrem alten Beruf arbeitet. Sie überfordert sich dabei permanent. Auch haben ihre neuen Freundinnen im Literaturzirkel nicht den besten Einfluss auf sie. Aber wir funktionieren eigentlich sehr gut. Die Kinder merken gar nichts. (Mir fällt zwar ein, dass sie näher zu meiner Frau gerückt sind und mein Platz in der Familie immer mehr an den Rand gedrängt wird; aber das hat mit meiner Arbeitszeit zu tun!). Unser Sexualleben ist ein wenig eingeschlafen, da hatten wir früher mehr drauf.
Das mit dem Geist hat mich sehr interessiert. Ich merke, wenn Du von Geist sprichst, meinst Du nicht den Intellekt (im Sinne von: »Sie hat einen wachen Geist«). Haben wir da ein sprachliches Problem? Geist verbinden wir meist mit Denken (»Geisteswissenschaften«). Mir kommt es so vor, als ob Du mit dem Ausdruck Geist einen Teil in uns bezeichnest, der Gott zugewandt ist, sozusagen ein inneres Hör- oder Sehorgan für die göttliche Dimension. Weißt Du, wie ich mir das bildlich vorstelle? Ich stelle mir den Geist wie eine Satellitenschüssel vor, die an unserem Lebenshaus befestigt ist und die Gottes Geistimpulse aufzufangen vermag. Würde mich noch interessieren, wie Paulus darüber denkt. Habe gerade bei ihm gelesen: »Sein Geist bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.«10 Das würde ja bedeuten, dass es eine Art Kommunikationsplattform gibt zwischen dem Geist Gottes und unserem Geist.
Du schriebst in Deinem letzten Brief, dass Du mich darüber aufklären möchtest, wie wir unseren Geist stärken können. Du hast ja in Deinen Liedern vorgeführt, wie unser Geist die Seele wie an die Hand nehmen und sie einen Weg führen kann. Ich habe übrigens noch eine solche Stelle in einem Deiner Gebete entdeckt, wo Du mit Deinem Geist Deiner Seele gut zuredest: »So sei nun wieder zufrieden, meine Seele; denn der Herr tut dir Gutes.«11 Das ist doch auch so ein Ausspruch, in dem es um die Seelsorge an der eigenen Seele geht. Praktizierst Du das eigentlich immer noch? Und eben, wie stärken wir unseren Geist?
Ich schätze den Briefwechsel mit Dir. Ich habe ja mal zwei Semester Theologie studiert, bevor ich Betriebswirtschaft belegte. Geistliche Fragestellungen interessieren mich aber immer noch. Manche sagen mir auch, ich solle doch in unserer Kirchengemeinde mehr Verantwortung übernehmen, einen Hauskreis leiten oder im Gottesdienst mitwirken. Mir fehlt dazu die Zeit. Weißt du, David, Markt und Markenbildung sind meine Leidenschaft. Dabei bin ich zwar auch schöpferisch tätig, aber mein Geist bekommt so nur wenig oder gar keine Nahrung. Er ist in den letzten Jahren sogar »geschrumpft« und damit ist auch meine Seele verkümmert. Ich bin in den letzten beiden Jahren irgendwie stumpfer geworden, oberflächlicher, weniger aufmerksam; doch das könnte auch eine Folge des dauernden Gekeifes meiner Frau sein.
Mit herzlichen Grüßen
Dein Reinhold
Lieber Reinhold,
nein, bei uns in der Ewigkeit braucht es keine Seelsorge. Damit also auch nicht eine an der eigenen Seele. Gott erfüllt bei uns alles mit seiner Gegenwart. Es gibt bei uns keine Tränen, kein Geschrei, keinen Schmerz12. Ich kann mir nicht einmal mehr vorstellen, was Zahnweh ist oder ein Ehekrach.
Damals, als ich vor der Lade tanzte13, hatte ich für einen Moment einen Vorgeschmack davon, was es heißt, in der Gegenwart Gottes zu leben. Ich war so durch und durch glücklich. Gott zog in unsere Stadt ein. Ich war ganz in Gott verliebt. Im Nachhinein kann ich sogar die Reaktion meiner Frau Michal einordnen. Sie war am Königshof erzogen worden, wusste genau, was sich schickte, und fühlte sich dadurch gedemütigt, dass ich kulturloser Bauerntrampel halbnackt meiner Freude an Gott Ausdruck gab.
Habe darüber mit Paulus gesprochen. Für das damalige Verhalten meiner Frau hat er überhaupt kein Verständnis. Als »Single« – nennt Ihr das nicht so? – hat er ja auch keine Chance, Verständnis für die Komplexität einer Frau zu entwickeln. »Du handeltest damals goldrichtig«, sagte er zu mir, »›man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen‹. Das hat mir einmal ein guter Freund beigebracht, obschon er es in seinem Leben nicht immer konsequent durchgezogen hat.«14 Paulus hat mir sogar dazu gratuliert, dass ich beim Tanzen den himmlischen König wichtiger nahm als mich selbst und die höfische Etikette. Übrigens hat mir mein Schwiegervater Michal dann wieder weggenommen und einem anderen gegeben, sozusagen als Strafaktion, als ich vor ihm auf der Flucht war.
Noch kurz zur Stärkung des Geistes: Wenn Du nahe am Bibelwort bleibst und die Worte der Schrift betend in Dir bewegst, wirst Du merken, dass so etwas wie eine Trennung der Kräfte der Seele und des Geistes stattfindet. Da merkst Du plötzlich: »Aha, hier meldet sich meine Seele. Die ist jetzt wütend, traurig, neidisch, euphorisch oder frustriert, weil meine Arbeit oder gar ich selber zurückgewiesen wurde.« Aber da gibt es noch einen anderen Ort in Dir, den Geist, der ganz Gott zugewandt ist. Dort wohnt Gottes Friede. Dort hörst Du seine Stimme. Bleibe am Wort! Je weniger Du Worte der Bibel intus hast, desto mehr wird das Seelische zur Lokomotive Deines Glaubens. Weißt Du, es kann manchmal so wunderbar emotional oder religiös zu- und hergehen, aber es ist dabei nicht klar, ob der Geist wirkt oder die religiös trainierte Seele. Der innige Umgang mit dem Wort stärkt in Dir das feine Gespür dafür, von welcher Seite her Du bewegt wirst.
Habe ein Thema mit Dir zu besprechen, das wir heute im Café Paradiso diskutiert haben; Paulus war auch dabei, er bestellt meistens eine Granatapfelschorle. Wie kommen bei Euch einige Konfessionen dazu, Frauen predigen zu lassen? Wir verstehen das einfach nicht. Antworte möglichst bald!
Sei herzlich gegrüßt Dein David
P. S.: Lies Deine Bibel bitte genau. Die von Dir erwähnte Stelle stammt nicht aus meinen Gebeten. Aber sie ist trotzdem gut!
Lieber David,
man merkt, dass Du schon längere Zeit in den himmlischen Gefilden logierst. »Nahe am Bibelwort bleiben« oder »die Worte der Schrift betend in sich bewegen«, was meinst Du damit? Wir sollen mehr in der Bibel lesen und Verse auswendig lernen, damit wir sie innerlich wiederholen können, wenn wir gerade den Bus verpasst haben oder sonst warten – am Kopierer bei Papierstau? Meinst Du das?
Ihr versteht nicht, warum bei uns Frauen Pfarrerinnen werden. In der Frage der Ordinierung von Frauen zum Pfarramt bin ich befangen. Meine Nichte, deren Pate ich bin, studiert Theologie. Ich gehöre zu einer Kirche, wo das nicht nur möglich, sondern auch erwünscht ist. Ich meine nicht nur die Ausbildung zur Theologin, sondern auch die Übernahme eines Amtes. Der größere Teil der Christenheit lehnt es jedoch ab, dass Frauen einer Gemeinde vorstehen können. Die größte christliche Kirche verbietet es sogar, dass ein verheirateter Mann Priester wird bzw. dass ein Priester heiratet. Du siehst also, dass da im Laufe der Jahrhunderte in der Entwicklung der Kirchen verschiedene Ausprägungen stattgefunden haben. Sie alle berufen sich dabei auf die biblische Tradition. Die einen auf einzelne Bibelstellen, die anderen mehr auf den Gesamtzusammenhang der Bibel. Bibelstellen (an sich) finde ich nur solche, aus denen man eine Ablehnung der Ordination von Frauen herauslesen könnte. »Die Frau schweige in der Gemeinde. Zu lehren gestatte ich einer Frau nicht«15, so dein Freund Paulus im Originalton. Aber muss man denn alles so wörtlich nehmen? Dann müssten doch konsequenterweise alle Frauen Kopftücher tragen, ohne jeglichen Schmuck einhergehen und einzig als »Gebärmaschinen« ihren Job verrichten. Ich würde einiges darum geben, mit Paulus im Café Paradiso seine Begründung zu diskutieren: »Adam wurde nicht verführt, das Weib wurde vielmehr verführt und ist in Übertretung geraten. Sie wird aber gerettet werden durch das Kindergebären«.16 Gut, es war nicht Adam, der verführt wurde. Aber wo war er gerade in dieser kritischen Zeit. Tummelte er sich mit den Delphinen im Wasser? Jedenfalls war er im entscheidenden Augenblick nicht da.
Ich bin der Meinung, dass viel Unheil gerade daraus hervorgeht, dass Männer äußerlich und innerlich wegtreten. Ich muss Dir vielleicht einmal später von der Arbeitssucht und Fahnenflucht der Väter berichten. Ich bin ja jeden Sonntag zu Hause und rufe nur am Sonntagabend meine Geschäftsmails ab.
Gerade auch bei unserem Thema stellt sich eben die Frage, ob man gestützt auf einzelne, isolierte Bibelstellen in irgendeiner Sache Klarheit bekommen kann. Biblische Aussagen muss man doch in einem Gesamtzusammenhang interpretieren. Sonst müsste man ja einen ungehorsamen Sohn nach biblischen Prinzipien steinigen17 und das Leinen-Wolle-Mischgewebe meines Hemdes wäre Gott nach dem mosaischen Gesetz ein Anstoß.18
David, unsere Gesellschaft verfügt über das Internet. Wir müssen lernen, mit 70 TV-Sendern umzugehen. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Andere Zeiten, andere Sitten, wir haben uns halt entwickelt.
Grüß Paulus von mir. Wenn er das mit der »Gebärmaschine« hört, wird er sich wohl im Café Paradiso gleich einen doppelten Schnaps bestellen.
Dein Reinhold
Lieber Reinhold,
beim Lesen Deiner Zeilen habe ich mich geärgert. Dabei habe ich gemerkt, dass hier oben der Ärger anders ist als bei Euch unten. Irgendwie geläuterter, es fehlt ihm der Stachel, mit dem man sich selbst weh tun oder jemand anders verletzen kann. Aber ehrlich, der Spruch vom »mit der Zeit gehen« ist etwas vom Dümmsten, das ich je gehört habe. Beschäftige Dich ein bisschen mehr mit der Ewigkeit, dann bist Du stets modern. Wechselst Du Deine Überzeugungen wie Kleider, je nach der Mode? Die Grundfrage ist doch in allen Generationen immer die gleiche geblieben: Wie kann man vor Gott ein gelingendes Leben führen? Diese Aufgabe bleibt immer dieselbe. Es ist doch nur die Kulisse unseres Lebens, die wechselt. Die Herausforderungen für die Akteure auf der Bühne des Lebens bleiben durch die Jahrhunderte hindurch dieselben: Kampf ist doch Kampf – ob mit der Steinschleuder oder dem Sturmgewehr. Leiter sein ist doch Leiter sein – ob mit einer Krone oder einer Krawatte ausgezeichnet. Kommunikation ist doch Kommunikation – ob mit Pfeilbogen oder »Phone« (über die Freundschaft mit Jonathan muss ich Dir ein andermal schreiben). Altwerden ist Altwerden – ob mit fünfzig oder fünfundachtzig. Loslassen ist Loslassen – ob durch Krieg oder Krebs erzwungen. In all diesen Herausforderungen bleibt Er, gepriesen sei sein Name, der unerschütterlich treue Gott! Darum lade ich Dich dazu ein, unsere Texte in der Bibel sehr ernsthaft zu lesen. Sie sind geronnene Erfahrung mit Gott! Was Du über die Ordination von Frauen schreibst, habe ich verstanden. Du hast Recht, es geht ja eigentlich darum, wie wir die Bibel verstehen und auslegen sollen. Ich finde das gut, wenn Du nicht einzelne Bibelstellen aus dem Gesamtzusammenhang der Bibel herausbrichst. Jede Stelle in der Bibel muss von der Mitte her, vom Messias, den Ihr den Christus nennt, verstanden werden. Mir ist übrigens erst jetzt, von der Ewigkeit her bewusst, wie auch meine Lieder von Christus her eine neue Bedeutung bekommen haben. Weißt Du, nimm doch die Bibel nicht wie eine Ansammlung toter Buchstaben. Lies sie vor Gott mit der Bitte, dass er Dir selber durch seinen Heiligen Geist das Wort auslege.
Bibellesen mit den Augen ist Beäugen von Papier. Bibellesen mit dem Verstand »schreddert« – nennt Ihr das nicht so? – den Text durch den Apparat der menschlichen Logik. Bibellesen mit dem Herzen ist letztlich der einzige Weg, Gottes Stimme zu vernehmen. Nur noch kurz zwei weitere Bemerkungen zu Deinem letzten Brief: Erstens bitte ich Dich, den verächtlichen Ausdruck »Gebärmaschine« nie wieder zu gebrauchen. Ich mag ihn nicht hören, schon gar nicht von einem Vertreter einer Gesellschaft, die von einer allgemeinen Zeugungs- und Gebärmüdigkeit heimgesucht wird, dass es Gott erbarmt. Ist das wirklich Entwicklung (»wir haben uns halt entwickelt«) oder nicht viel mehr gar gewaltiger Rückschritt?