Read the book: «Paulus und die Anfänge der Kirche», page 6

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2.2.1.2.4
Ein Zeltmacher

Die Apostelgeschichte ergänzt das Leben des Paulus durch einige weitere Details. So gibt sie seinen Beruf mit «Zeltmacher» an (Apg 18,3). Auch dies wurde in der christlichen Paulusrezeption weithin übernommen. Paulus selbst benennt in seinen Briefen keinen speziellen Beruf; doch macht er mehrmals deutlich, dass er seinen Lebensunterhalt – im Unterschied zu anderen Aposteln – mit seiner eigenen Hände Arbeit verdiene und dies sogar ganz bewusst tue (1 Kor 4,12; 9,6–18; 1 Thess 2,9).

Wie so viele Einzelheiten im Leben des Paulus ist auch die Berufsbezeichnung nicht ganz eindeutig zu interpretieren.98 Die ältere Forschung verstand das Zeltmacherhandwerk des Paulus zumeist als das Weben von Zeltbahnen aus Ziegenhaar (cilicium), für das die Provinz Cilicia bekannt war. Doch wurde Ziegenhaar nur selten für Zelte verwendet. Ins Spiel gebracht wurde auch das Herstellen von Lederzelten, als dessen erster Abnehmer das Militär gelten muss.99 Doch wurden Militärzelte vor allem von Sklaven und Freigelassenen des kaiserlichen Hauses hergestellt. Peter Lampe hält nach einer gründlichen Auswertung von Inschriften und literarischen Texten folgende Lösung für wahrscheinlich:

«Paulus nähte Leinenzelte zusammen, die von Privatleuten als Sonnenschutz oder von Händlern als Marktstände benutzt wurden. Der Zeltmacher |68| Paulus gehörte zu einem weiterverarbeitenden Erwerbszweig der Leinenindustrie seiner Heimatstadt Tarsos.»100

In der Tat wurde in Tarsus in grösserem Masse Leinen hergestellt und verarbeitet.101 Jedenfalls ermöglichte es dieses Handwerk, dass Paulus es an verschiedenen Orten ausüben und seinen Lebensunterhalt damit verdienen konnte. Ein konkretes Beispiel erwähnt die Apostelgeschichte für den Aufenthalt des Paulus in Korinth: Hier habe Paulus im Betrieb von Priska und Aquila mitgearbeitet, die den gleichen Beruf hatten wie er (Apg 18,2–3).

2.2.1.2.5
Familienangehörige

Zur Familie des Paulus erwähnt die Apostelgeschichte im Zuge der Verhaftung des Paulus in Jerusalem, dass sich in Jerusalem ein Neffe, ein Sohn seiner Schwester, befand, der zu seinen Gunsten aktiv geworden sei und dadurch eine Intrige gegen Paulus vereitelt habe (Apg 23,16). Weitere Angaben zu Familienangehörigen erhalten wir auch in seinen Briefen nicht; doch können wir seiner Korintherkorrespondenz entnehmen, dass er unverheiratet geblieben war (1 Kor 7,7; 9,5).

2.2.2
Ein Erlebnis, das alles verändert: die Berufung

Es ist schon fast sprichwörtlich geworden: Im Leben des Paulus gab es ein Widerfahrnis, das seinen bisherigen Lebensentwurf von Grund auf veränderte. Spuren dieses Erlebnisses sind sowohl in seinen Briefen wie auch in der Apostelgeschichte zu finden, und nach beiden Zeugnissen lässt sich das, was da passiert ist, wohl am besten als eine «Christusbegegnung» charakterisieren, wie auch immer dies noch weiter präzisiert wird. Bekannt geworden sind vor allem die ausführlichen Erzählungen der Apostelgeschichte, die in ihrem Verlauf sogar dreimal darauf zu sprechen kommt und das Ereignis vor den Toren der Stadt Damaskus lokalisiert (Apg 9,1–9; 22,6–11; 26,12–20). |69| Zwar sind diese drei Darstellungen bei genauerem Hinsehen in ihren Einzelheiten keinesfalls deckungsgleich; doch haben bildende Kunst, Literatur und Musik die Ereignisse einprägsam zusammengeführt.

2.2.2.1
Ringen um Worte für ein erschütterndes Erlebnis

Auch in den authentischen Paulusbriefen sind einige Spuren dieses einschneidenden Erlebnisses zu finden. Doch schildert es Paulus – und das liegt gewiss in der Natur eines solchen Widerfahrnisses – nicht präzise, sondern belässt es bei einigen Andeutungen, die aber gleichwohl etwas von der Wucht dieses Ereignisses und vor allem von seinen Auswirkungen für sein weiteres Leben ahnen lassen.

2.2.2.1.1
Das Erlebnis im Spiegel des Galaterbriefs

Am ausführlichsten kommt Paulus im Kontext seines Briefes an die Gemeinden in Galatien auf dieses Erlebnis zu sprechen. Zu Beginn seiner Argumentation versucht er die Legitimität seiner eigenen Verkündigung aufzuweisen und macht dabei deutlich, «sein» Evangelium nicht von menschlichen Lehrern oder Autoritäten erhalten zu haben, sondern von Gott:

«Ich erkläre euch, Geschwister: Das Evangelium, das ich verkündigt habe, stammt nicht von Menschen; ich habe es ja nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung [apokalypsis] Jesu Christi. Ihr habt doch gehört, wie ich früher in der Treue zur Tora gelebt habe, und wisst, wie masslos ich die Gemeinde Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. In der Treue zur Tora übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem grössten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein.

Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte [apokalypsai en emoi], damit ich ihn unter den Völkern verkündige, da zog ich keinen Menschen zu Rate; ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück.» (Gal 1,11–17)

|70| Über die Art des Ereignisses wird wenig deutlich. Zweimal formuliert Paulus in diesem Abschnitt so, dass das Ereignis als ein Offenbarungs- bzw. Enthüllungsgeschehen qualifiziert wird: In V. 12 verwendet er die substantivische Form apokalypsis (Enthüllung, Offenbarung) und in V. 15 die Verbalform apokalypsai (enthüllen, offenbaren). Paulus beschreibt also das, was ihm widerfuhr, als etwas, das nicht von ihm selbst ausging, sondern von einem anderen: von Gott, der ihm etwas, das ihm zuvor verborgen war und ihn zum Verfolger der messianischen Gemeinden gemacht hatte (V. 13–14), enthüllte (V. 15). Inhalt dieser Enthüllung ist der «Sohn» Gottes selbst, zu dessen Verkündiger Paulus nun bestellt wird (V. 16).

Es sind nur wenige Worte, die Paulus hier für eine Lebenswende findet, die drastischer und tiefer greifend kaum sein könnte. Denn sie wandelte Paulus von einem leidenschaftlichen Eiferer für die jüdischen Überlieferungen und Verfolger der Anhängerinnen und Anhänger des Messias Jesus zu einem Verkündiger ebendieses Messias. Paulus wusste sich von nun an beauftragt, die Botschaft von diesem jüdischen Messias Jesus weit über die Grenzen der jüdischen Gemeinschaft hinaus «zu den Völkern» zu tragen (V. 16).

Um diesen Vorgang einzuordnen, drückt sich Paulus in einer Weise aus, wie wir sie von alttestamentlichen Prophetenberufungen kennen. So spricht nach Jer 1,5 Gott selbst zum Propheten Jeremia:

«Bevor ich dich gebildet habe im Mutterleib, habe ich dich gekannt, und bevor du aus dem Mutterschoss gekommen bist, habe ich dich geweiht, zum Propheten für die Nationen habe ich dich bestimmt.»102

Und der anonyme Prophet, der in Jes 40–55 in vier «Gottesknechtsliedern» vorgestellt wird, drückt sein Selbstverständnis im zweiten Lied so aus:

«Hört mich, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, gebt acht! Schon im Mutterleib hat der Ewige mich berufen, im Schoss meiner Mutter schon meinen Namen genannt. Und wie ein scharfes Schwert hat er meinen Mund gemacht, im Schatten seiner Hand hält er mich verborgen, |71| und zu einem spitzen Pfeil hat er mich gemacht, und in seinem Köcher hat er mich versteckt.»

«Nun aber hat der Ewige gesprochen, der mich schon im Mutterleib zum Diener gebildet hat für sich, damit ich Jakob zurückbringe zu ihm und Israel zu ihm gesammelt wird. Dann werde ich geehrt in den Augen des Ewigen, und mein Gott ist meine Kraft geworden. Und er sprach: Zu wenig ist es, dass du mein Diener bist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die von Israel zurückzubringen, die bewahrt worden sind: Zum Licht für die Nationen werde ich dich machen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.» (Jes 49,1–2.5–6103)

Wie diese alttestamentlichen Propheten beschreibt sich auch Paulus als von Gott bereits «im Mutterleib» erwählt und berufen (Gal 1,15). Und wie diese alttestamentlichen Propheten erfährt auch Paulus eine Beauftragung, die über die Grenzen Israels hinaus reicht. Wie Jeremia zum Propheten für die Völker bestimmt ist (Jer 1,5) und der anonyme Prophet im Buch Jesaja über Jakob und Israel hinaus zum Licht für die Völker werden soll (Jer 49,6), so erfährt es Paulus als seinen Auftrag, den «Sohn», der ihm offenbart wurde, «den Völkern» zu verkünden (Gal 1,16). Durch diese Art und Weise, über jenes Widerfahrnis zu sprechen, stellt sich Paulus in die Tradition dieser Propheten und deutet seine Lebenswende im Licht dieser Prophetenberufungen. Auch er wurde, so ist er überzeugt, von Gott zu einem ganz besonderen Auftrag berufen.

Um das, was Paulus erlebt hat, zu beschreiben, ist die Bezeichnung Berufung also angemessener als die meist verwendete Interpretation als Bekehrung. Denn Paulus hat sich mit diesem Widerfahrnis nicht aus dem Judentum verabschiedet, um sich zu einem «Christentum» zu «bekehren», sondern er bleibt innerhalb des jüdischen Deutesystems und erfährt sich von dem gleichen Gott Israels, dem er sich seit seiner Jugend verpflichtet fühlte, nun zu einem neuen, speziellen Auftrag berufen: Den «Sohn Gottes unter den Völkern» zu verkünden.104 Es ist klar: Dieser Auftrag war kein einfacher, |72| und er würde ihn in vielfachen Konflikt bringen. Doch auch der anonyme Prophet im Buch Jesaja verwendet für seinen eigenen Auftrag die Bilder eines «scharfen Schwerts» oder eines «spitzen Pfeils» (Jes 49,2) und deutet damit die Schwierigkeiten seines prophetischen Auftrags an.

An welchem Ort Paulus dieser Auftrag ereilte, sagt er zwar nicht genau, doch lässt sich aus seiner Bemerkung, er sei nach seinem Aufenthalt in der Arabia nach Damaskus «zurückgekehrt» (V. 17), schliessen, dass er sich zum Zeitpunkt seiner Berufungserfahrung bereits dort aufgehalten haben könnte. Lukas lokalisiert in der Apostelgeschichte das Ereignis dann eindeutig auf dem Weg nach Damaskus und kurz vor den Toren der Stadt (Apg 9,3).

Im Unterschied zu Lukas schweigt Paulus selbst darüber, wie die von ihm so genannte «Enthüllung» des Sohnes genau vor sich ging.

Exkurs

Lukas hingegen lässt Paulus in Apg 9,3 f. von einem Licht umstrahlt sein; Paulus hört eine Stimme, die sich als die Stimme Jesu identifiziert (9,5), er stürzt zu Boden (9,4) und kann nach diesem Erlebnis drei Tage lang nicht mehr sehen (9,8 f.). Seine Begleiter hören die Stimme, sehen aber niemand (9,7). Die beiden anderen Darstellungen in der Apostelgeschichte sind damit nicht ganz deckungsgleich: Nach Apg 22,6 f. sieht Paulus ebenfalls das Licht, stürzt zu Boden und hört die Stimme, doch nach V. 9 sehen die Begleiter zwar das Licht, hören aber die Stimme nicht. Nach Apg 26,13 stürzt Paulus samt seiner Begleiter wegen der Lichterscheinung zu Boden, und Paulus hört die Stimme.

Paulus umreisst in Gal 1,15 durch seine Formulierung, Gott habe seinen Sohn «in mir» offenbart, das Geschehnis als einen «inneren Vorgang»105, durch den ihm der Gottessohn enthüllt und er sich seines Auftrags gewahr wurde.

2.2.2.1.2
Das Erlebnis im Spiegel des zweiten Briefes nach Korinth

Den Charakter eines eher inneren Gewahrwerdens hat auch die Art und Weise, wie Paulus in 2 Kor 4,6 wahrscheinlich auf das gleiche Geschehen anspielt:

|73| «Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.» (2 Kor 4,6)

Ganz unumstritten ist es zwar nicht, ob Paulus hier wirklich auf seine umstürzende Christusbegegnung zu sprechen kommt. Irritierend ist die allgemeine Redeweise in der Wir-Form und die andeutende Weise, von einer «inneren Erleuchtung»106 zu sprechen. Doch kann die Verwendung der Wir-Form durch Paulus auch so verstanden werden, dass er das, was ihm selbst widerfahren ist, als modellhaft versteht. Und auch an den anderen Stellen ist zu beobachten, dass Paulus nur andeutend von dem Ereignis spricht und dabei auf verschiedene Sprachmuster zurückgreift, um das Ereignis in Worte zu fassen. Ausserdem legt auch die Verbindung mit der Evangeliumsverkündigung in 2 Kor 4,5 (vgl. Gal 1,15 f.) nahe, dass Paulus sich hier auf sein Berufungserlebnis bezieht.107

Obgleich der griechische Text des Verses sprachlich einige Schwierigkeiten birgt,108 lässt sich ihm doch entnehmen, wie grundsätzlich Paulus das Geschehen einstuft: Er nimmt – wieder in sprachlich freier Aufnahme – Bezug auf Gottes schöpferisches Handeln, das nach Gen 1,3 «Licht werden» liess. Dieser Gott ist es, der wie bei seinem Schöpfungshandeln nun auch in den Herzen der Glaubenden – und speziell im Herzen des Paulus – Licht aufleuchten liess.109 Und das Ziel: den göttlichen Glanz, die göttliche Herrlichkeit (doxa) auf dem Angesicht des Messias Jesus zu erkennen. Dass diese doxa Gottes auf dem Angesicht des Messias Jesus liegt, wird im Kontext der paulinischen Ausführungen in 2 Kor 3,4–4,6 einer anderen Vorstellung gegenübergestellt: Dass nämlich auf dem Angesicht des Mose nach seinen Gottesbegegnungen im Offenbarungszelt ein Glanz lag, der es unmöglich machte, ihn unverhüllt anzusehen (2 Kor 3,7–17; Ex 34,29–35). |74| Mose und dem von Paulus als vergänglich interpretierten Glanz des Mose stellt Paulus in seiner Argumentation den Christus gegenüber, in dem der wahre und unvergängliche Glanz Gottes aufstrahle. Und während die vergängliche Herrlichkeit auf dem Angesicht des Mose der Verhüllung bedurfte, ist die Herrlichkeit des Messias Jesus zumindest für die Glaubenden enthüllt.

2.2.2.1.3
Das Erlebnis im Spiegel des ersten Briefes nach Korinth

Ganz knapp kommt Paulus an zwei weiteren Stellen seiner Korintherkorrespondenz auf das Ereignis zu sprechen: 1 Kor 9,1 und 15,8. Wie bei den beiden bislang besprochenen Stellen befindet sich Paulus auch hier in der Defensive und fühlt sich zur Verteidigung gegen verschiedentliche Angriffe aus Korinth herausgefordert. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf jenes Ereignis für ihn offenbar von Bedeutung.

In 1 Kor 9 wird deutlich, dass von einigen Leuten in der korinthischen Gemeinde sein Status als Apostel in Frage gestellt wurde: Konnte Paulus überhaupt als ein «richtiger» Apostel gelten? Paulus antwortet mit vier rhetorischen Fragen, deren (positive) Beantwortung zeigen soll, dass er sehr wohl als ein Apostel anzuerkennen sei:

«Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen? Seid ihr nicht mein Werk im Herrn?» (1 Kor 9,1)

Für unseren Zusammenhang ist die dritte Frage in dieser Reihe von Bedeutung: «Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen?» Damit bringt er die Dimension des «Sehens» ins Spiel, um seine alles verändernde Christusbegegnung ins Wort zu fassen, und qualifiziert sie als ein visionäres Erlebnis. Mit diesem Sehen wird wahrscheinlich auf die Visionen alttestamentlicher Propheten angespielt, die jeweils mit dem Wortfeld «sehen» verbunden sind (z. B. 1 Kön 22,17.19; Jes 6,1; Sach 1,8). Allerdings wird bei Paulus der Inhalt der Vision nicht konkretisiert, sondern mit einem einzigen Hoheitstitel zusammengefasst: Paulus hat Jesus, den Kyrios, gesehen. Dass Jesus von Nazaret hier mit dem Hoheitstitel Kyrios (Herr) bezeichnet wird, setzt eine schon fortgeschrittene christologische Reflexion voraus und macht den grundsätzlichen |75| Herrschaftswechsel deutlich, den Paulus im Gekreuzigten und von Gott Auferweckten erkannt hat. Dennoch: Wichtig ist für Paulus an dieser Stelle offenbar weniger, den genauen Inhalt seiner Vision zu beschreiben, sondern vielmehr deren Folgen aufzuzeigen: dass diese Vision ihn zum «Apostel» qualifiziert hat.110

In 1 Kor 15 steht schliesslich der Glaube an die Auferstehung auf dem Spiel. Paulus antwortet darauf zunächst mit einer Erinnerung an seine eigene Verkündigung, die er mit dem Zitat einer aus der Überlieferung stammenden traditionellen Glaubensformel legitimiert (1 Kor 15,3–5). Im Anschluss zählt er eine Reihe von Osterzeugen auf (15,6–7) und fügt sich schliesslich selbst in deren Reihe ein:

«Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der Missgeburt.» (1 Kor 15,8)

Nach der «Enthüllung» (Gal 1,15 f.), der «Erleuchtung» (2 Kor 4,6) und dem «Sehen» (1 Kor 9,1) drückt sich Paulus hier mit Hilfe der Kategorie einer «Erscheinung» aus. Im Hintergrund steht die gr. Verbform ophthe, die als «er liess sich sehen, er erschien» zu übersetzen ist. In Aufnahme der Erscheinungsgeschichten des Alten Testaments, nach denen Gott selbst oder göttliche Boten sich zum Beispiel dem Abraham, dem Isaak oder anderen «sehen liessen», wird auch von Paulus an dieser Stelle betont, dass die Initiative vom Erscheinenden selbst ausging, der aus seiner Verborgenheit heraustrat und sich «sehen liess».111 Es ist der Christos (V. 3), der Auferstandene, der sich auf diese Weise «sehen liess». Damit weist Paulus zunächst die Wirklichkeit der Auferweckung Jesu auf. Erwiesen wird sie durch die Erscheinungen des Auferstandenen vor der hier aufgezählten Reihe von Osterzeugen. Paulus geht es an dieser Stelle aber auch darum, die Bedeutung dieser Erscheinung für seinen eigenen Status aufzuzeigen. Hatte er zuvor «alle Apostel» als Osterzeugen genannt – ein Kreis, der offenbar nicht mit dem gesondert genannten Zwölferkreis identisch ist und Menschen wie Andronikus |76| und Junia oder auch Barnabas umfasst haben dürfte –, so stellt er sich nun selbst in diese Reihe der Apostel und qualifiziert sich selbst als den letzten der Osterzeugen. Wieder geht es also weniger um die genaue Beschreibung jenes Ereignisses bei Damaskus als vielmehr um die Folgen, die es für den Status des Paulus hatte.

2.2.2.1.4
Verschiedene Bilder und Vorstellungsmuster

Insgesamt zeigt sich, dass Paulus eine Reihe verschiedener Bilder und Vorstellungsmuster verwendet, um das Ereignis, das sein Leben auf so einschneidende Weise verändert hat, ins Wort zu bringen. Gemeinsam ist diesen Vorstellungsmustern, dass ihnen eine – unterschiedlich stark ausgeprägte – visuelle Dimension eignet und dass bei Paulus selbst – im Unterschied zu den erzählerischen Darstellungen der Apostelgeschichte – jeder Hinweis auf eine Audition fehlt. An keiner Stelle geht es dabei jedoch um eine genaue Beschreibung des Ereignisses an sich, sondern an allen vier Stellen ist Paulus in verschiedenen Fragen herausgefordert, er reagiert auf Angriffe und kommt deshalb auf dieses Ereignis zu sprechen. Stets geht es dabei auch um die Legitimität seiner Botschaft und seinen Status als Apostel. Um dies zu erweisen, greift Paulus auf Sprachmuster zurück, die dafür als massgeblich erachtet wurden. Dabei vereinigt er verschiedene Vorstellungen, die sich nicht leicht zusammenbringen lassen, auf seine Person. Bernhard Heininger ordnet diese Beobachtung in eine von ihm herausgearbeitete Tendenz des frühen Christentums ein, «dass sich mit zunehmender Dauer die Qualität der frühchristlichen Visionäre (und damit auch ihr Rang) an der Quantität der visionären Kommunikationsmuster misst» und bezeichnet Paulus in der Folge als einen «Supervisionär».112

2.2.2.2
Dramatische Auswirkungen

Dennoch: Auch wenn Paulus vor allem in legitimatorischen Kontexten von jenem Berufungserlebnis spricht und seine Darstellung davon geprägt ist, wird aus seinen Briefen deutlich, wie dramatisch die Auswirkungen waren: Paulus verändert sein Leben von Grund auf. Er, der zuvor aus Treue zur |77| Tora die Mitglieder der Gemeinden des Messias Jesus verfolgte (Gal 1,13 f.; Phil 3,5–6; 1 Kor 15,9), verschreibt sich mit Leib und Seele der Verkündigung eben dieses Messias Jesus. Entsprechend beschreibt er sein Leben als zweigeteilt in ein «Vorher» und ein «Nachher». Was «vorher» im Zentrum seines Lebens stand und ihn von Grund auf prägte, hat seinen Wert verloren zugunsten dessen, der nun sein Leben prägt: der gekreuzigte und von Gott auferweckte Messias Jesus:

«Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach der Tora, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie die Tora vorschreibt. Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: Ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein.» (Phil 3,5–9)

Trotz dieser «Zweiteilung» seines Lebens blieb Paulus, dies wurde bereits deutlich, innerhalb des jüdischen Denkhorizonts. Es war der gleiche Gott Israels, in dessen Namen er die Anhängerinnen und Anhänger des Messias Jesus verfolgt hatte, der ihn nun zu diesem neuen Auftrag berufen hatte. Allerdings hatte sich durch das Berufungserlebnis die Sicht des Paulus auf das Jüdischsein, die Verheissungen der Schriften und die Bedeutung der Tora in einer Weise verändert, dass sie jüdischerseits keinesfalls mehrheitsfähig war.113 Wie sehr ihn seine neue Erkenntnis in Konflikt mit seinen jüdischen Glaubensgeschwistern brachte und er in eine prekäre Minderheitenposition geriet, machen sowohl seine Briefe als auch die Darstellung der Apostelgeschichte deutlich.

Exkurs

Auch in der Erzählversion der Apostelgeschichte kommen die dramatischen Auswirkungen des Geschehens als Umwertungen, verbunden mit einem neuen «Sehen lernen» (Apg 9,8–17), zum Ausdruck. Allerdings interpretiert Lukas «seinen» Paulus anders als 1 Kor 15,8 nicht als den letzten der Osterzeugen, sondern lässt die Ostererscheinungen mit der Himmelfahrt abgeschlossen sein (Apg 1,9–11).114 |78| Entsprechend enthält er Paulus in seinem Erzählwerk auch den Aposteltitel vor, der für Paulus selbst von so grosser Bedeutung war.115 Doch auch nach der Apostelgeschichte bewirkt die Christusbegegnung vor Damaskus eine radikale Wende im Leben des Paulus und macht aus dem leidenschaftlichen Verfolger des «neuen Weges» einen ebenso leidenschaftlichen Verkündiger des Messias Jesus, dessen Weg im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte nachverfolgt wird.