Ausgerastet!

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© 2021 Sonya Mosimann und Claudia Dübendorfer

ISBN XXX-X-XXXXXXX-X-X

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorinnen reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhalt

Über die Autorinnen

Visualisierungscoaching?

Lasst die Spiele beginnen!

Fuck the System!

Raus gekickt!

Das große Maul

Nur perfekt ist gut genug!

Der Vulkan bricht aus!

Alles Bullshit!

Die Echse beißt!

Sechs praxiserprobte Tricks gegen Wutgefühle

Nachwort

Über die Autorinnen

Sonya Mosimann ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Als Dyslexikerin hat ihr heutiger Werdegang bereits in der Kindheit begonnen. Schon in der Schule musste sie alles, was sie hörte, fühlte oder las visualisieren, damit sie die Informationen verarbeiten und speichern konnte. Diese ausgeprägte Visualisierungsfähigkeit und das Denken in 3D machte sie später zu ihrem Beruf.

Sonya entwickelte ihre eigene Methode, die auf reiner Visualisierungsarbeit aufgebaut ist: mindTV. Sie hat mittlerweile über 600 Visualisierungscoaches ausgebildet, ist eine nationale und internationale Sprecherin und arbeitet an zahlreichen anderen Projekten auf diesem Gebiet.

Am meisten schlägt ihr Herz aber weiterhin für ihre kleinen und grossen Klienten, die sie in ihrer Praxis im Einzelcoaching unterstützt. Dort passiert die „Magie“. Dort geschehen die „Wunder“, die das Fundament für alle anderen Projekte bilden.

Claudia Dübendorfer ist verheiratet und Mutter einer Tochter und eines Pflegesohnes, Head of Training der mindTV-Visualisierungsmethode und begleitet in ihrer Praxis für Visualisierungscoaching täglich Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Dabei begegnen ihr Wut-Johnnys, Angst-Hasen, Traum-Fänger, Trauer-Klößchen, Duck-Mäuschen und Puber-Tierchen, die in ihren Gefühlen gefangen sind. Ihre Klienten aus dieser Falle zu locken, hinein in ein freieres, selbstbestimmteres und widerstandsfähiges Leben, ist ihre Spezialität.

Mit viel Humor, Bodenhaftung, Spürsinn und Engagement begleitet sie ihre großen und kleinen Klienten zu ihrem Ziel. Aus ihrem großen Erfahrungsschatz schöpft sie auch in ihrer Tätigkeit als Head of Training der mindTV-Methode, um Visualisierungscoaches in ganz Europa auszubilden.

Visualisierungscoaching?

Wir sind keine Kinder-Reparaturwerkstatt. Ab und zu ist es notwendig, diese Ansage zu machen, wenn eine genervte Mutter ihr Kind in unsere Praxis bringt. Natürlich haben wir viel Verständnis für solche Mütter, wenn sie die alltäglichen Kämpfe mit ihren Kindern an die Grenze bringen – aber wir mögen keinen Zauberstab schwingen, der bewirkt, dass das Kind brav jeden Abend pünktlich und ohne Geschrei ins Bett geht.

Kindererziehung ist kein Spaziergang. Nicht jedes Hindernis im Alltag ist es wert, das Kind zu uns in die Praxis zu bringen. Die meisten Herausforderungen gehören zum Elternsein dazu. Wenn du magst, stehen wir dir mit Rat zur Seite, aber wir verstehen unsere Aufgabe nicht darin, Kinder «funktionstüchtig» zu machen. Eltern, die uns kennen, wissen, dass wir jederzeit unsere ehrliche Einschätzung kundtun, ob es sich um (d)eine Erziehungsgeschichte oder eine echte Not des Kindes handelt.

Jedes Kind ist eine kleine Schatzkiste. Sie zu öffnen, darin zu stöbern, Talente und Potential zu entdecken, das ist unser tägliches Brot. Wir respektieren die Einzigartigkeit jedes Kindes, lassen sie scheinen und brillieren, ungeachtet davon, ob diese Einzigartigkeit in irgendeine Schublade passt. Denn jedes Kind darf seinen eigenen Weg finden und gehen. In dieser Funktion geht es uns auch darum, zuerst die Schatzkiste überhaupt auszugraben, denn oft weiß ein Kind nicht, dass es eine hat. Sie ist verschüttet durch einschränkende Beurteilungen, Ängste, Selbstzweifel und blockierende Gefühle. Diesen Ballast Schicht für Schicht abzutragen, um an das eigene Potential zu gelangen, das ist unsere Antriebskraft und Leidenschaft.

Wir arbeiten mit Gefühlen. Davon gibt es viele, in allen Schattierungen, schwere und leichte, geliebte und ungeliebte. Es sind meist die schweren, belastenden und ungeliebten Gefühle, weswegen unsere Klienten den Weg in unsere Praxen finden. Dennoch sehen wir unsere Aufgabe nicht nur darin, Klienten, ob groß oder klein, von ihren ungeliebten Gefühlen zu befreien. Denn schwere, belastende und unerwünschte Gefühle gehören zum Leben, genauso wie die tollen, schönen Gefühle. Gerade in der Arbeit mit Kindern ist es uns wichtig darzulegen, dass Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, Enttäuschung und Frust genauso erlebt werden dürfen wie Freude, Glück und Liebe. Jedes Gefühl, ob angenehm oder unangenehm, hat seinen Grund und seine Zeit und insofern seine Berechtigung.

Wir schauen uns negativ empfundene Gefühle genau an. Nicht jedes negative Gefühl ist per se schädlich. So kann Angst eine wichtige Schutzfunktion haben. Und auch Wut – unser Thema in diesem Buch– ist erlaubt, denn auch sie hat oft eine Schutzfunktion. Ein Kind, das Wut empfindet, weil es ungerecht oder schlecht behandelt wurde, hat offensichtlich schon gelernt, für sich selbst und sein Befinden einzustehen und zeigt deshalb, wenn auch lautstark, schon ganz viel Eigenverantwortung.

Auch wir beide sind Mütter und wie alle Mütter hatten und haben wir bei der Begleitung unserer Kinder die besten Absichten: Wir wollen ihnen eine unbeschwerte, glückliche Kindheit bescheren. Wir unterstellen, dass dies auch deine Absicht ist. Aber als Erwachsene wissen wir auch, dass das Leben seine eigenen Regeln hat, dass die Wege mal nach oben, mal nach unten führen. Es ist nicht nur unvermeidbar, sondern geradezu wichtig, dass auch Kinder mit unangenehmen, schweren Gefühlen konfrontiert werden und lernen dürfen, diese Gefühle anzunehmen und auszuhalten.

Jetzt kommen wir unserer Arbeit als Visualisierungscoaches schon näher. Im Visualisierungscoaching kümmern wir uns um Gefühle, die unsere Klienten davon abhalten, sich zu entfalten. Gefühle, die blockierend wirken, erniedrigend, schwächend, die klein halten und die verhindern, dass Ziele erreicht werden. Gefühle, die das Familienleben stören und in manchen Fällen ruinieren. Gefühle, die es unmöglich machen, das Kind so zu sehen, wie es wirklich ist, weil nur seine Wut gesehen wird. Es ist Teil unseres Coachings genau hinzusehen, woher solche Gefühle rühren. Gemeinsam finden wir heraus, was geschehen ist, um solche Gefühle zu nähren und welche Strategie für den Klienten zukunftsweisend ist. Sind im Coaching die Gründe für dieses Verhalten entdeckt, Hürden überwunden, Blockaden niedergerissen, schädliche Glaubenssätze erkannt und neutralisiert, dann darf der Klient an seiner Resilienz arbeiten: die Fähigkeit, widerstandsfähig durchs Leben zu gehen. Den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen, sie zu akzeptieren und sich davon nicht aus der Balance bringen zu lassen, ist heutzutage wichtiger denn je. Je früher Resilienz entwickelt wird, desto stabiler ist ein Mensch im Leben unterwegs. Wir arbeiten daran, das Fundament des Kindes zu stabilisieren, damit es zu einem gefestigten Erwachsenen heranwachsen kann. Dies kann viele Schwierigkeiten in der Zukunft verhindern.

In diesem Buch sprechen wir über Wut. Wut kann sich schrecklich anfühlen. Sie kann explosiv wirken, lähmend, sie kann zerstörerisch sein oder die Kontrolle rauben. Genauso kann sie enorm wichtig und aktivierend sein, denn wer Wut darüber empfindet, ungerecht behandelt zu werden, darf dieser Wut nachgeben. Dies ist ein Teil des Erwachsenwerdens, ein Teil davon, seinen Platz in der Familie zu finden und der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Seiner Wut in diesem Fall Ausdruck zu geben kann zwar unangenehm sein, ist aber dennoch wichtig – und erlaubt! Wie alles im Leben hat auch Wut ihre zwei Seiten. Beim Lesen dieses Buches wirst du erkennen, dass es Wutausbrüche gibt, die du gutheißen und aushalten solltest, aber auch Wut, die von einer tiefen Ohnmacht oder einem unkontrollierbaren Reflex zeugen.

Wir möchten dich ermuntern, dich der Wut deines Kindes zu stellen. Ja, auch sie auszuhalten. Wie oft hört man Mütter, die zu ihren Kindern sagen: «Deshalb musst du nicht gleich wütend werden!» Wie, wenn man anderen Menschen per Befehl sagen könnte, was sie gerade zu fühlen haben. Das Kind ist wütend und Punkt. Wir laden dich ein dich zu fragen: Ist die Wut deines Kindes gerade berechtigt? Ist es okay wütend zu sein, wenn es gerade von seinem Schulfreund gedemütigt wurde? Ja – es ist okay! Wut ist nicht gleich Wut, wie du im Verlaufe dieses Buches erkennen wirst. Wut kann gesund und wichtig sein, sie kann aber auch energieraubend und destruktiv sein. Wut kann eine versteckte Botschaft haben, sie kann ein Weg sein, um zu bekommen, was man will, oder sie kann ein Hilfeschrei sein. Es ist daher wichtig, die Form und Bedeutung der Wut deines Kindes zu erkennen.

 

Im Folgenden findest du acht Formen der Wut und ihre dazu gehörigen Fallgeschichten aus unseren Praxen. Sie dienen als Stellvertreter für viele, viele Sitzungen, die wir beide mit solchen Wut-Johnnys schon erlebt haben. Vielleicht erkennst du dein Kind in der einen oder anderen Geschichte wieder. Du findest Antworten auf deine Fragen und wichtige Ansätze, um deinem Wut-Johnny zuhause zu begegnen, versprochen.

Viel Spaß, deine

Sonya & Claudia

Lasst die Spiele beginnen!

Wut ist eine Superkraft, mit der ich bekomme, was ich will.

Claudia erzählt aus ihrer Praxis

Denise, 11 Jahre

Die zarte, blonde Denise sitzt mir gegenüber und lächelt freundlich. Kaum vorstellbar, dass dieses hübsche Mädchen wie eine Furie ausrasten kann. Aber sie kann – und wie! Wie schrieb mir die Mutter im Datenblatt: «Denise ist äußerst beliebt im Freundeskreis und hat viele Ideen. Wehe aber, wenn sie ihren Willen nicht kriegt! Da flippt sie komplett aus, knallt Türen, schreit, weint, wirft Gegenstände an die Wand und ist überhaupt nicht ansprechbar. Sie tobt, bis sie erreicht hat, was sie wollte.» Beim Lesen dieser Zeilen muss ich grinsen: Da setzt sich jemand aber lauthals durch! Doch der Leidensdruck in der Familie ist groß. Die Mutter erzählt im Vorgespräch, dass sogar schon die Nachbarn an der Haustüre geklingelt haben, um zu erfahren, was hier los sei. Das Geschrei und Gezeter der kleinen Denise durchdringt also mehrere Wände. Für die Eltern ist dieses Verhalten verständlicherweise nicht nur äußerst anstrengend, sondern ab und zu auch peinlich: «Die Leute denken ja, wir hätten unsere Tochter überhaupt nicht im Griff!»

Neuerdings zeigt Denise dieses Verhalten auch in der Schule. Die Mutter fiel aus allen Wolken, als sie eines Nachmittags einen Anruf der Schulleitung bekam: «Mir wurde mitgeteilt, dass Denise sich gegenüber Schulkollegen und Lehrern oft sehr fordernd und laut verhält. Das führe schon dazu, dass sich Freundinnen abwenden und Lehrer sie hart sanktionieren müssen. Der Schulleiter empfahl mir, mit Denise einen Kinderpsychiater aufzusuchen, aber das will ich nicht.»

Denise hört unserem Gespräch zu und lächelt etwas verschämt. Ich spüre, dass ihr durchaus bewusst ist, dass es ihr eigenes Verhalten ist, das ihr immer wieder Steine in den Weg legt. Ich zwinkere ihr zu und sage: «Was meinst denn du zu dem Ganzen? Weshalb brichst du so heftig aus?» Sie zuckt nur mit den Schultern und meint: «Ich weiss es nicht.» Genau diese Antwort habe ich erwartet, denn ich höre sie oft im Vorgespräch. «Wollen wir es zusammen herausfinden?»

Wie immer, wenn die Mutter den Raum verlässt, bespreche ich mich nochmals mit dem Kind. «Sag mal, möchtest du denn deine Wutausbrüche in den Griff bekommen? Magst du mir mal erzählen, was geschehen ist, als du das letzte Mal so explodiert bist?» Denise erzählt: «Ich wollte nach der Schule unbedingt was Süßes haben. Im Küchenschrank steht eine große Tüte Gummibärchen, die wollte ich haben. Aber ich durfte nicht.» «Aha, und dann bist du ausgeflippt?» «Genau.» Ich spürte, dass ich hier mehr erfahren musste.

«Manchmal muss ich ganz lange schreien und toben, bis sie nachgibt.»

«Was passiert denn, wenn du so ausflippst?» frage ich. «Meine Mama brüllt zurück.» «Und dann?» «Brülle ich weiter. Manchmal knalle ich Türen zu und schimpfe ganz laut mit ihr. Oder ich werfe was zu Boden oder an die Wand. Bananen zum Beispiel, manchmal auch ein Glas oder so.» Hoppla. «Okay, und was passiert dann?», bohre ich weiter. «Dann packt mich meine Mutter am Arm und versucht, mich ins Zimmer zu bringen.» «Und das klappt?» «Nein. Ich wehre mich. Und ich bin schneller und wendiger als Mama. Dann schließe ich mich im Bad ein.» «Und was machst du dort?» «Ich schreie und brülle und schlage gegen die Tür. Manchmal drücke ich das Shampoo aus der Flasche in die Badewanne. Oder räume den Schrank aus und werfe alles zu Boden. Und Mama schreit mich an, dass ich sofort die Türe wieder aufschließen soll.» «Und das machst du dann auch?» «Irgendwann schon. Aber erst, wenn Mama sagt, dass ich Gummibärchen kriege.» «Aha. Und das funktioniert?» «Irgendwann immer. Aber manchmal muss ich ganz lange schreien und toben, bis sie nachgibt.»

Die Wut loslassen? Schön blöd!

Aha, denke ich, hier liegt der Hund begraben. Sie hat herausgefunden, dass ihre Wut stärker ist als die Disziplin ihrer Eltern. Sie fand ein Schlupfloch in der Erziehung und nutzte dies zu ihrem Vorteil. Ihre Wut wurde zu einer Superkraft, die es ihr erlaubt, alles zu bekommen, was sie wollte. Denises Wut führt also zum Ziel! Zu einem blöden und ungesunden zwar, aber sie kommt damit ans Ziel. Und damit ist klar: Denise wäre schön blöd, wenn sie ihre Wut nicht mehr ausleben würde! Keine Gummibärchen! Was also jetzt?

«Sag mal, Denise, was glaubst du, warum dir deine Mutter nach der Schule nicht einfach Gummibärchen geben mag?» «Keine Ahnung. Sie will, dass ich einen Apfel esse oder sonst was Gesundes.» «Ach. Und wieso glaubst du, tut sie das?» «Keine Ahnung! Weil es eben gesünder ist, vermutlich.» «Vermutlich, ja. Und was glaubst du, weshalb es deiner Mutter wichtig ist, dass du was Gesundes isst?» «Weil Mütter halt so sind.» «Ach so! Mütter sind einfach so, okay. Sag mal, wie würdest du dich fühlen, wenn deine Mutter dir alles einfach erlauben würde? Wenn sie allen deinen Gelüsten einfach nachgibt, obwohl sie weiss, dass dir das schadet?» «Hm, weiss nicht.» «Denk mal einen Moment darüber nach.» Denise denkt sichtlich nach. «Okay, vielleicht würde ich mich fragen, ob es meiner Mama egal ist, wenn ich krank werde?» «Ja, das könnte sein. Wäre denn das ein gutes Gefühl für dich?» «Nein, eher nicht.» «Also glaubst du, dass deine Mama dir einen Apfel anbietet, weil es ihr wichtig ist, dass du gesund und stark bist?» «Ja, könnte sein.» «Und was glaubst du, warum es deiner Mama wichtig ist, dass du gesund bleibst?» «Ja, das ist halt einfach so bei Müttern.» «Meinst du?» «Ja, glaube schon.» «Aber deiner Mama könnte es doch egal sein, ob du dick und krank wirst, solange sie dabei gesund bleibt, meinst du nicht?» Jetzt schaut mich Denise entsetzt an. «Sicher nicht! Ich bin ja schließlich ihr Kind!» Wir kommen der Sache näher. «Aha, und was bedeutet das, dass du ihr Kind bist?» «Ja, dass sie mich liebt und will, dass es mir gut geht.» «Ach, komm jetzt! Tatsächlich? Verweigert sie dir deshalb die Gummibärchen?» Denise guckt verschmitzt: «Ja, vermutlich.» «Und denk mal darüber nach, wie würde ein Kind aussehen, wenn sich seine Eltern einfach nicht um es kümmern würden? Wenn es sich nie die Zähne putzen, duschen, pünktlich ins Bett gehen oder sich gesund ernähren müsste? Was denkst du, wie dieses Kind aussehen würde?» frage ich weiter. «Wie ein obdachloses Kind, ungepflegt, müde, ungesund und wahrscheinlich stinkend.» sagt Denise. «Eben! Weißt du eigentlich, dass es viel einfacher ist für Eltern, wenn sie ihr Kind einfach machen lassen und nie nein sagen? Es braucht viel mehr Zeit und Energie zu erziehen, Regeln aufzustellen und dafür zu sorgen, dass du gesund bleibst. Es sind die fürsorglichen Eltern, die liebevollen Eltern und eben die besten Eltern der Welt, die ab und zu nein sagen müssen. Erziehung ist Liebe - verstehst du?» Denise nickt stumm. «Was ist dir lieber? Dass deine Eltern dir alles erlauben, weil du ihnen egal bist? Oder möchtest du, dass sie ab und zu nein sagen, weil sie dich lieben?» «Lieber nein sagen» sagte Denise und grinst dabei verschmitzt.

Weil Denise durch ihre Wutausbrüche zu ihrem Ziel kam, war es nötig, ihr zu einer neuen Sicht auf die Dinge zu verhelfen – wir haben die Perspektive gewechselt. So war es möglich, die Grundlage für die Zusammenarbeit zu schaffen. Denise darf lernen, es auszuhalten, wenn sie ihren Willen nicht kriegt. Sie darf spüren, dass es Regeln gibt, die sie schützen und aus Liebe geschaffen wurden. Wir starten in die Sitzung.

Mit Visualisierung und unter Einbezug aller Sinne spürt Denise ihre Wut in beiden Händen. Wir betrachten sie genauer: Diese brodelnde Wut erscheint Denise wie zwei glühend heiße, feurige Kugeln in den Händen. Sie muss damit um sich schlagen, fuchteln und boxen, um diese brennende Hitze auszuhalten. Auch im Brustkorb spürt sie dieses heiße, aktive Gefühl: Sie erkennt einen roten Ballon, der kurz vor dem Platzen ist. Und das Gefühl muss raus! Wir erinnern uns an das vorangegangene Gespräch und Denise schafft es, ihre Wut aus dem Körper zu entfernen und durch Liebe und Gelassenheit zu ersetzen. Wir tauchen in ihrer Vorstellung nochmals in diesen Moment, wo sie getrieben vor Lust auf Gummibärchen das klare «Nein» ihrer Mutter hört. «Wie erlebst du diesen Moment jetzt, Denise?» Einige Sekunden vergehen. «Also, ich habe immer noch Lust auf Gummibärchen. Aber ich spüre auch gerade die Liebe meiner Mama, weil ich weiss, dass es ihr wichtig ist, dass ich gesund bleibe.» «Jetzt wo du weißt, dass Erziehung Liebe ist, kannst du denn jetzt gelassen bleiben, wenn du anstelle der Gummibärchen einen Apfel kriegst?» «Ja, es ist okay. Ich hätte zwar lieber Gummibärchen. Aber ich kriege ja jeweils nach dem Essen noch was Süßes. Ist okay so.»

Im Film des Lebens suchen Denise und ich gezielt nach weiteren Situationen, in denen sie explodiert ist. Jede Erinnerung wird durch einen Perspektivenwechsel neutralisiert, bis Denise erkennt, dass sie ihre Lust nach Gummibärchen durchaus aushalten und sich mit einem Apfel begnügen kann. Sie spürt ihre explosive Wut nicht mehr, sie hat erkannt, dass Mamas Regeln gut für sie sind.

Einige Wochen später erreicht mich eine Mail der Mutter: «Ich war ja eher skeptisch nach der Sitzung. Wieso soll eine einzige Sitzung das erreichen, was wir schon so lange versucht haben? Aber tatsächlich sind die lauten, schrecklichen Wutausbrüche Geschichte. Denise murrt zwar, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen kann, aber sie akzeptiert es. Als ich ihr vorgestern den Schokoriegel vor dem Nachtessen nicht erlaubte, sah sie mich an und sagte: Mama, das machst du nur, weil du mich lieb hast, nicht wahr?»

Das Machtspiel

Dieser Fall zeigt eindrücklich eine Form von Wut, wie sie viele Eltern kennen: das Machtspiel. Das Kind kriegt seinen Willen nicht und so kommt die Wut und schreit: «Lasst die Spiele beginnen!» Kann man es Eltern verübeln, dass sie einknicken, wenn das Kind in seiner lautstarken, explosiven Wut schon die ganze Nachbarschaft zusammenschreit? Nein, kann man nicht. Und dennoch passiert hier was, das entscheidend für diesen Machtkampf ist: Das Kind macht eine Erfahrung. Es erfährt, dass es sich durchsetzen kann, wenn es nur lange und laut genug zetert, brüllt und schreit. Es erfährt, dass die Ansagen der Erwachsenen nur so lange gelten, wie sie es aushalten. Und es lernt, dass es mit diesem Verhalten ans Ziel kommt.

Eltern, die mit ihren Kindern in diese Situation geraten, schaffen es oft nicht, gelassen und ruhig zu bleiben. Dem eigenen (brüllenden) Kind dann in die Augen zu schauen und ihm verständlich zu machen, dass ihre Entscheidung aus Liebe passiert, ist kaum möglich. Doch genau dieser Perspektivenwechsel würde es dem Kind ermöglichen, seine Wut loszulassen und die Situation zu akzeptieren. So aber werden Eltern zu dem, was eine Grundvoraussetzung für das Machtspiel ist: zu einem Teil davon.

In dieser Sitzung war es nur durch einen stimmigen Perspektivenwechsel möglich, Denise zur Mitarbeit zu bewegen. Eine ärgerliche Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten, zu verstehen weshalb und aus welchen Beweggründen es dazu gekommen ist, bringt nicht nur Verständnis und Akzeptanz in die ganze Geschichte, sondern ist die Grundlage für eine echte Veränderung. Diesen Perspektivenwechsel zu erwirken ist ein wichtiger Kernprozess beim Visualisierungscoaching. Das Kind lernt und versteht, weshalb es gewisse Regeln im Alltag gibt. Dieses Wissen ist ein guter Grundpfeiler für das ganze Leben.

Es wäre vermessen zu behaupten, dass Kinder nach einem Visualisierungscoaching brave Lämmchen sind, die niemals wieder versuchen, ihren Willen durchzusetzen. Kinder wollen Sicherheit und auch immer wieder mal testen, ob «ihre» Erwachsenen es ernst meinen. Aus diesem Grund wirst du dich immer wieder mit deinem Kind auseinandersetzen dürfen und dir dabei bewusst sein, dass du gerade in diesem Moment deinem Kind den sicheren Rahmen gibst, in dem es sich bewegen kann. Gleichzeitig formst du die Resilienz deines Kindes: Es lernt, dass es auch Frust, Ungeduld, Langeweile oder andere, ungeliebte Gefühle aushalten kann. Wir Erwachsene wissen, dass Resilienz ein wichtiges Gut im Leben ist. Toll, wenn dein Kind das schon bei dir lernen kann!

 

Ausstieg aus dem Game

Im Folgenden geben wir dir vier Tipps, wie du aus dem Machtspiel aussteigen kannst. Erwarte bitte keinen Hokuspokus, hier bist du als Elternteil gefordert. Bisher warst du Teil des Spiels – dein Ausstieg könnte zu Beulen und Kratzern führen. Bereit?

1. Konsequenz

Das kommt jetzt nicht überraschend, nicht wahr? Und doch raten wir dir, deine Regeln konsequent durchzusetzen. Es geht nicht darum, zu beweisen, dass du am längeren Hebel sitzt. Im Gegenteil, du tust deinem Kind langfristig einen Gefallen.

Wir laden dich ein, für einen Augenblick selbst einmal deine Perspektive zu wechseln. Stell dir vor, da wäre jemand, der für dein Wohlergehen, deine körperliche und geistige Entwicklung verantwortlich wäre. Vielleicht denkst du jetzt an deine eigene Kindheit zurück. Diese Person stellt Regeln für deinen Alltag auf unter dem Motto: «Weil ich will, dass es dir gut geht…»

Das Ziel des Erwachsenen zeugt von Fürsorge und Liebe. Wie würdest du dich fühlen, wenn du deine ungesunden Wünsche einfach durchsetzen könntest? Wenn jedes Mal dein Erwachsener von seinem Vorhaben, gut für dich zu sorgen, abkommt, weil du deinen Wunsch laut und energisch genug äußerst? Du würdest vielleicht den Schluss ziehen, dass es gar nicht so wichtig ist, gesund und ausgewogen zu essen, sonst würde dein Erwachsener sich ja durchsetzen. Spätestens dann aber, wenn du kränklich und übergewichtig durchs Leben gehst, würde sich dieser Schluss als falsch entpuppen. Ganz sicher hättest du tief in deinem Inneren einen kleinen Zweifel: «Wenn meinem Erwachsenen meine Gesundheit und mein Wohlergehen so wichtig ist, warum gibt er mir die Gummibärchen trotzdem? Bin ich ihm nicht wichtig genug? Ist mein Erwachsener einfach zu bequem, sich engagiert mit mir auseinanderzusetzen?»

Spürst du, worum es geht? Du gibst mit deinen Regeln deinem Kind die Sicherheit, dass es umsorgt, geliebt und geschützt ist – auch wenn ihm das ab und zu nicht in den Kram passt. Deine Regeln geben dem Kind den sicheren Rahmen, worin es sich bewegen kann. Natürlich darf es erfahren, was es bedeutet, über diesen Rahmen hinauszugehen. Und das wird es! Nicht nur, um zu testen, ob du es ernst meinst, sondern auch, um immer wieder auszuprobieren, ob dieser Rahmen noch groß genug ist. Und ab und zu ist es absolut angebracht, den Rahmen zu erweitern.

Die Einhaltung deiner Regeln einzufordern, bedeutet auch, dass du dir bewusst bist, wozu diese Regel gut ist. Du darfst deinem Kind begründen, weshalb du diese Regel aufgestellt hast. Begründen ja, rechtfertigen nein. Es reicht, wenn du dafür deine Gründe hast. Kinder dürfen lernen, Regeln zu akzeptieren, sogar dann, wenn sie die Regel nicht gutheißen. Im späteren Leben werden sie sich auch mit Regeln anfreunden müssen, die sie nicht selbst aufgestellt haben oder gutheißen. Es reicht, wenn du deinem Kind erklärst, warum du ihm jetzt keine Gummibärchen auftischst: «Gummibärchen darfst du nach dem Essen haben. Jetzt möchte ich, dass du was Gesundes isst.» Punkt. Schreit, zetert und brüllt dein Kind deswegen nicht? Doch. Es wird versuchen, diese Regel außer Kraft zu setzen, dich unter Druck zu setzen und so dazu zu bringen, nachzugeben. So schnell gewinnst du wahrscheinlich nicht. Jetzt musst du aushalten! Bleib dabei, egal wie dein Kind explodiert. Du machst die Regeln und das aus gutem Grund. Deshalb bleibe gelassen und lass dein Kind toben. Für dein Kind sind solche Ausbrüche ungemein anstrengend und es wird nach einigen Malen erkennen, dass es damit nichts bewirken kann. Das Machtspiel ist vorbei.

2. Ausweg anbieten

Im ganzen Frust deinem Kind einen Ausweg aus seiner Wut anzubieten, mag herausfordernd klingen. Trotzdem kann dir das gelingen. Zeige Verständnis für den Gefühlsausbruch: «Ich verstehe, dass du wütend bist, wenn ich dir deinen Wunsch verweigere. Dennoch wird sich daran nichts ändern. Lass uns einen Ausweg finden, damit du dich nicht so schlecht fühlen musst.» So zeigst du deinem Kind, dass du seine Gefühle wahrnimmst und akzeptierst. Dennoch lässt du dich nicht auf sein Spiel ein. Indem du ruhig bleibst und die Wut einfach annimmst, zeigst du, dass du kein Teil des Spiels bist, dich aber dennoch dem Gefühlszustand deines Kindes annimmst. Du erlaubst dem Kind seine Wut – und sie ist erlaubt! – und bietest ihm eine Alternative an. Je nach Grund des Wutausbruchs hast du dabei unterschiedliche Möglichkeiten. Es ist an dir, sie zu finden!

Je ruhiger du bleibst, desto weniger Energie ist im Raum. Deine ruhige, gelassene Präsenz hilft auch deinem Kind, sich schneller zu beruhigen. Vielleicht bietest du deinem Kind eine Möglichkeit, die aktive Wut an einem dafür bestimmten Gegenstand auszulassen: ein dafür vorgesehenes Kissen, ein Boxsack oder kleine, stabile Wutbälle. Wut ist ein sehr aktives Gefühl, sie fühlt sich brodelnd an und verleiht dem Kind viel Energie. Es ist deshalb immer eine gute Möglichkeit, wenn das Kind sich in dieser Wut auch körperlich ausleben kann. Biete ihm dafür eine Lösung!

Eine tolle Idee haben wir einer Mutter mitgegeben, die mit ihren drei Kindern immer wieder mit Wutausbrüchen konfrontiert wurde: Sie bastelte aus einer Kartonschachtel einen «Familien-Briefkasten». Wenn eines ihrer Kinder sich wieder mit einem Wutausbruch über irgendeine Regel beschwerte, dann schickte sie es jeweils ins Zimmer mit den Worten: «Schreibe eine Reklamation. Schreib auf, weshalb dir das nicht passt, schimpfe und beschwere dich ausführlich. Wenn du alles aufgeschrieben hast, wirfst du die Beschwerde in den Briefkasten. Wir kümmern uns dann darum.» Der kleine Wut-Johnny war eine Weile beschäftigt, einen geharnischten Brief zu schreiben, in dem er seine Wut zum Ausdruck brachte. Am wöchentlichen Familien-Meeting wurde der Briefkasten geöffnet und die Beschwerden wurden zusammen besprochen. Der Familien-Briefkasten ist eine tolle Möglichkeit, die ganze Familie an den Tisch zu bringen, gemeinsam die eingeworfenen Briefe zu lesen und zu besprechen und zusammen Handlungsstrategien zu finden. Natürlich werden nicht nur Beschwerden, sondern auch Ideen, Wünsche und Lob dort eingeworfen. Der Familien-Briefkasten erfordert zwar einen echten, zeitlichen Einsatz der ganzen Familie, die Vorteile sind aber immens. Eine Familie, die sich wöchentlich zusammensetzt, über schwierige Momente und auch über Ideen und Vorschläge spricht – was für ein Gewinn!

3. Reagiere paradox

Die dritte Möglichkeit, den lautstarken Wutausbruch deines Kindes zu unterbrechen, hört sich vielleicht im ersten Moment etwas seltsam an: Geh zu deinem Kind, nehme es fest in deine Arme und sag ihm einfach, wie lieb du es hast. Vielleicht rufst du jetzt: «Ja, genau! Ich soll das Verhalten noch belohnen?» Nein, du sollst es unterbrechen, und zwar mit einer Reaktion, mit der dein Kind nicht rechnet. Mit Belohnen hat das nichts zu tun. Du lügst ja nicht, wenn du ihm sagst, dass du es liebhast, nicht wahr? Es ist klar, dass im Moment eines Wutausbruchs kein Kind sich beherzt in deine Arme wirft, du wirst dir das erkämpfen müssen. Mach dich also gefasst auf Gegenwehr, aber lasse nicht locker. Halte es einfach noch stärker, noch fester in deinen Armen, egal wie es sich wehrt. Streiche ihm über den Rücken und sag einfach leise und wiederholt: «Ich hab dich ganz fest lieb.» Und harre so aus. Dein Kind wird sich innerhalb kurzer Zeit beruhigen. Dieses Verhalten ist ein sanfter, liebevoller Ausstieg aus dem Machtspiel.

4. Erkenne deine eigenen Gefühle

Falls du dich und dein Kind in dieser Geschichte erkennst, solltest du darüber nachdenken, wie du im Machtspiel selbst reagierst. Vielleicht erkennst du eigene Strategien aus deiner Kindheit. Vielleicht triggert das Verhalten deines Kindes auch Gefühle, die du selber aufarbeiten solltest. Es kann nie schaden, sich selbst zu reflektieren. Denn nicht nur Wut ist ansteckend, sondern auch Gelassenheit. Wut nährt das Feuer und Gelassenheit ist das Wasser, das das Feuer löschen kann. Gelassenheit kann deinem Kind durch deine Körpersprache, Stimme oder nonverbale Kommunikation vermittelt werden.

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