Read the book: «Der Staubwedel muss mit»
Über dieses Buch
Ein Altersheim, unzählige Einzelzimmer. Im Sessel vor dem Fenster träumt Herr Strub von seiner Zeit als Fremdenlegionär in Saida. Frau Zürcher legt sich nach dem Frühstück gleich wieder ins Bett, liest einen Kioskroman nach dem anderen und lebt von Liebe, Linzertörtchen und Lindenblütentee. Mit dem Leben längst abgeschlossen hat Frau Herger; zum Glück hat sie ihren Kummer. Womit sollte sie sich sonst den ganzen Tag beschäftigen? Frau Knobel sagt über sich selbst: Gearbeitet habe ich immer, meistens im Büro, verheiratet war ich nie, bin also immer noch zu haben. Und Sepp kann es nicht fassen, dass ihm dieses Weib vom Verein Frohes Alter zu seinem Neunzigsten keine Flasche Wein geschenkt hat. – Nur eines scheint gewiss: Widersprüche und Sehnsüchte, Heiterkeit und Trauer gehören zum Leben. Und erst mit dem Tod endet die Suche nach jener besseren Welt.
«Dieser Autor weiss um die Kraft seiner Geschichten, und er vertraut ihrer unmittelbaren Wirkung.» Luzerner Zeitung

Foto Paul Joos
Christoph Schwyzer, geboren 1974, lebt mit seiner Familie in Luzern. Er war Lehrer, Altersheimseelsorger und Journalist. Heute ist er vor allem als Herausgeber und Rezitator tätig.
Im Limmat Verlag sind erschienen «Chasch dänkä! Lina Fedier. Über Schneestürme, Schmetterlingskinder und Gottvertrauen» und «Valendas. Die Welt im Dorf», mit Fotografien von Paul Joos.
Christoph Schwyzer
Der Staubwedel muss mit
Prosa
Limmat Verlag
Zürich
Sepp
Jetzt stellen Sie sich das einmal vor: Ich habe Geburtstag, ich werde neunzig, und dann kommt die da, dieses Weib vom Verein Frohes Alter, kommt also in mein Zimmer, tut so saufreundlich, schüttelt ständig meine Hand, zieht ein buntes Geschenkpäckli aus ihrer Tasche und legt es neben mein Weinglas. Ich reisse das Päckli auf – und wissen Sie, was zum Vorschein kommt? Nein? Ein Schuppen-Shampoo! Rausch-Anti-Schuppen-Shampoo! Das müssen Sie sich jetzt einmal vorstellen: Sie werden neunzig, neunzig Jahre alt und kriegen ein Schuppen-Shampoo geschenkt. So eine ist doch nicht normal, die spinnt! Wenn einer neunzig wird, schenkt man ihm eine Flasche Wein, eine Flasche Schnaps oder meinetwegen halt eine Schachtel Kirschstängeli, aber doch sicher nicht ein Schuppen-Shampoo!
Frau Bebier
Frau Bebier muss gehen. Der «Sturm der Liebe» kommt. Täglich, von Montag bis Freitag, um fünfzehn Uhr auf ZDF. Sie bezahlt ihren Kaffee, löst sich aus der Plauderrunde, fährt von der Cafeteria mit dem Lift in den fünften Stock, eilt in ihr Zimmer und sinkt, während sie auf den roten Knopf der Fernbedienung drückt, in ihren Sessel. Die fünfzig Minuten nachmittags vor dem Fernseher sind für ihr Herz genauso überlebenswichtig wie die Pillen am Morgen zum Frühstück. Mit Leib und Seele nimmt sie Anteil am stürmischen Liebesleben und erkennt im schwarzhaarigen Hauptdarsteller ihren Franz, der schon lange tot ist, aber noch immer ihr Herz zum Hüpfen bringt.
Frau Christen
Verzweifelt suchte Frau Christen nach dem Sinn des Lebens. Die Tiere, dachte sie eines Tages, die haben es gut: Der Ameisenbär sucht Ameisen, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Die Eierschlange sucht Eier, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Der Mäusebussard sucht Mäuse, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Und ich? Ich bin doch angeblich ein Homo sapiens, ein weiser Mensch. Mehr Weisheit essen, hat der Arzt einmal gesagt. Oder hab ich ihn falsch verstanden: mehr Eiweiss essen?
Frau Sommer
Mit einer Giesskanne tränkt Frau Sommer ihre in Torferde gepflanzten Plastikblumen. Und einmal pro Woche bekommen sie Dünger. Das heisst, Frau Sommer nimmt den Deckel vom Grünkübel, holt eine Bananenschale heraus, vertrocknet und schwarz, schneidet sie auf einem Küchenbrett in Streifchen und drückt mit dem Zeigefinger in jeden Topf drei Streifchen. Schauen Sie, wie grün und gesund und kräftig die Blätter sind. Und erst die Blüten: die Farben satt, ein einziges Leuchten. Plastikblumen hätten eben den Vorteil, dass sie lebenslang blühten. Jedoch nur bei guter Pflege, guter Luft – und viel Liebe. Pflanzen spüren, was wir über sie denken, erklärt sie. Feinstoffliche Wesen. Wenn ich wolle, könne ich ein Töpfchen meiner Wahl mit nach Hause nehmen. Aber Achtung, sagt sie, machen Sie es bloss nicht so wie mein Exmann: War ich hin und wieder ein paar Tage weg, dachte er sich: Meine Frau, die spinnt. Plastikblumen braucht man nicht zu tränken. Aber wissen Sie was – noch jedes Mal erlebte er sein graues Wunder. Kam ich nach Hause, waren die Blumen schlaff, die Stängel gummig, die Blätter fast vertrocknet. Welk.
Ich ergebe mich. Ja, ich glaube daran, dass Plastikblumen lebende Wesen sind. Ich deute mit der Hand auf eine Pflanze mit schneeweissen, pingpongballförmigen Blüten; sie steht auf dem Fernsehgerät: Die möchte ich, die würde mir gefallen! Frau Sommer nickt, ein überlegenes Lächeln im Gesicht. Sie wickelt die Pflanze vorsichtig in Zeitungspapier ein, stellt sie in einen Papiersack, überreicht mir das Geschenk mit gütig strengem Blick.
Sie schaffen das, sagt sie zum Abschied. Wissen Sie, auch ich hatte lange Zeit keinen grünen Daumen. Aber seit ich Pflanzen aus Plastik entdeckt habe, blüht alles! Und nicht vergessen: einmal die Woche düngen.
Anna I
Sie freute sich, im Postfach lag ein Brief. Es war seine Schrift. Im Brief stand:
Hallo Mutter!
Wie geht es Dir?
Mir geht es gut. Brauche dringend Unterhosen. Drei Stück.
Ansonsten alles wie immer.
Ich liebe Dich.
Dein Patrik
Ihr konnte es nur recht sein, wenn er auch weiterhin nicht in der Lage war, in einen Kleiderladen oder in einen Supermarkt zu gehen und die dringend benötigten Unterhosen einzukaufen. So blieb sie auch Jahrzehnte nach seiner Volljährigkeit seine persönliche Unterhosenlieferantin. Ein kleines Briefchen genügte, hören konnte sie nur noch sehr schlecht, und schon zwei oder drei Tage später traf ein Paket mit weissen Calida-Qualitätsunterhosen mit Durchgriffschlitz bei ihm ein. Dasselbe Modell, wie es Vater immer getragen hatte.
Frau Herger
Zum Glück hat Frau Herger ihren Kummer. Sie wüsste nicht, worum sie sich hier im Heim sonst kümmern könnte. Nach dem Frühstück wackelt sie zusammen mit dem Kummer in ihr Zimmer. Frau Herger ist schmächtig und klein, so dass der grosse Kummer problemlos neben ihr auf dem Sofa Platz findet. Der grosse Kummer legt seinen fleischigen Arm um ihre schiefen Schultern, drückt kräftig zu, presst den knochigen Körper an seine Brust. Frau Herger erschrickt, schmiegt sich dann aber vertrauensvoll an seinen Oberarm und lauscht, was der grosse Kummer ihr diesmal ins Ohr diktiert. Sie greift nach dem auf dem Beistelltisch bereitliegenden Notizblock und dem Bleistift – das Kurzzeitgedächtnis! –schreibt auf, worüber sie sich heute ärgern könnte: schlechte Verdauung, Zahnschmerzen, brennende Augen, Regenwetter; die neue, unfreundliche Praktikantin, ein eingebildeter Tischnachbar, zu schwacher Kaffee und ein Sohn, der selten zu Besuch kommt. Nach einer halben Stunde löst der Kummer seine Umarmung, verabschiedet sich freundschaftlich, eilt ins nächste Zimmer. Denn gar mancher würde ohne seine Hilfe vollkommen verkümmern.
Alfred
Mit Kühen konnte Alfred besser umgehen als mit Menschen. Und auch heute bleibt er lieber in seinem Stall und schaut Tiersendungen. Einige Frauen sagen, der Fredu sei ein Söineggu. Er wasche sich nie und trage, wenn er in die Cafeteria komme, nur ein Unterleibchen, lange Unterhosen und Wollsocken. Andere wollen gehört haben, wie Fredu im Gang mehrmals hintereinander laut gerülpst hat. Doch Alfred hört nicht auf diese Weiber. Und so holt er unerschrocken in der Cafeteria kurz nach elf Uhr seine erste Flasche Bier; schlurft, ohne auch nur einmal den Kopf nach ihnen umzudrehen, an den Milchkaffee nippenden Frauen vorbei, öffnet den Bügelverschluss und beginnt, während er auf den Lift wartet, in grossen Zügen zu trinken.
Herr Strub
Das Tram brachte mich nach Saint-Louis, der Alkohol nach Algerien. Gegen Mittag erwachte ich und dachte: Heimatland, wo bin ich hier? Ich polterte, tobte und schrie, schlug mit den Fäusten gegen die Wand. Ta gueule!, brüllte der Gendarm. Etwas später öffnete er die Tür zur Zelle, warf mir einen roten Rucksack vor die Füsse, meinen Rucksack. Verflucht, dachte ich, ich war also wieder einmal nach der Arbeit in diesen Spunten nach Saint-Louis gefahren und nach einer durchzechten Nacht in der Ausnüchterungszelle gelandet. Nach und nach kam mir alles in den Sinn. Im Rucksack steckte mein Übergewand, aber nicht nur mein Übergewand, sondern auch ein Couvert, und in diesem Couvert steckte ein Vertrag mit meiner Unterschrift: Dieser spendable, braungebrannte Agent mit Bürstenschnitt und kantigem Kopf, der mein Weinglas nie leer werden liess, hatte mich also, Heimatland noch mal, kurz bevor ich meinen Verstand verlor, rumbekommen. Mein Chef schimpfte mit mir, schnauzte mich an, als er hörte, dass ich schon bald nicht mehr in Basel Blumen setzen und jäten würde, sondern als Fallschirmspringer in Algerien kämpfen und schiessen. Ich ging nach Strassburg zur Musterung, fuhr mit dem Zug nach Marseille, wurde dort mit einer abenteuerlustigen Meute in einen alten Kahn gepfercht, betrat im Hafen von Oran erstmals algerischen Boden, rumpelte auf der Ladefläche eines Lastwagens nach Sidi bel Abbès, wurde ein zweites Mal gemustert und gefragt, welchen Beruf ich erlernt hätte. Jardinier, war meine Antwort. Sie nickten, brachten mich in eine grosse Kaserne nach Saida. Dort bekam ich weder einen Fallschirm noch ein Sturmgewehr, sondern Schaufel und Hacke; und die ganze Zeit tat ich nichts anderes als auf dem Kasernenareal Unkraut jäten, Blumen setzen und Rasen mähen. Nach drei Jahren verliess ich die Fremdenlegion als Pazifist.
Elvira und Arnoldo I
Elvira steht vom Tisch auf und schliesst, obwohl es Spätsommer und draussen angenehm warm ist, die beiden gegenüberliegenden Fenster. Die Fliegen, sagt sie. Sie mag es nicht, wenn diese Viecher hineinschwirren und sich aufs Essen setzen. Ein Essen, das allen schmeckt und vorerst keinen Anlass zu Beanstandungen gibt. Aber die Fliegen, die bereits im Speisesaal drin sind, sie stören die von Schmatz-, Hust- und Besteckgeräuschen untermalte Mittagessensstille. Die Fliegen fallen als schwarzblaue Flecken auf den Kartoffelstock. Oder sie versuchen überhängend, vom Schüsselrand aus, an die Sauce zu kommen. Elvira wedelt mit ihren Händen über dem Teller. Sie kann sich nicht mehr aufs Essen konzentrieren, Gabel und Messer bleiben auf dem Tellerrand liegen. Die Fliegen, die furchtlosesten Tiere überhaupt, kann nichts davon abhalten, immer wieder an den Tisch zurückzukehren. Eklig, wie eklig!, ruft Elvira. Und Arnoldo, ihr Tischnachbar, den sie eigentlich sehr mag, haut auf den Tisch und ruft: Fliegen tun keinem Menschen etwas zuleide; wir hatten auf unserem Hof Tausende davon! Doch, sagt Elvira, doch: Sie sind Krankheitsüberträger! An ihren Füssen klebt Dreck, Hundedreck, Strassendreck, Kadaverdreck. Und im «Drogistenstern» habe ich neulich auch gelesen, dass sie durch ihren Rüssel Magensaft auf die Nahrung erbrechen, damit diese sich auflöst, um sie danach mit ihrem Rüssel aufsaugen zu können. Elvira hält es nicht mehr aus, sie rollt die Serviette zu einer Fliegenklatsche. Sie lauert, auf dem äussersten Stuhlrand sitzend, den Fliegen auf. Arnoldo isst und schweigt. Und schöpft sich sogar demonstrativ nochmals vom Kartoffelstock und von der Sauce. Plötzlich holt Elvira zum Schlag aus, schafft es aber, im Gegensatz zum tapferen Schneiderlein, nicht, auch nur eine einzige Fliege zu töten. Arnoldo schaut zu und beginnt zu fluchen: Jetzt leg diese blöde Serviette weg! Herrgott, kann man denn nicht einmal in Ruhe essen! Arnoldo schüttelt den Kopf. Elvira wischt sich Tränen ab, während eine Fliege friedlich auf den Zinken ihrer Gabel sitzt.
Frau Liechti
Nein, ich kann meinen Kindern nicht böse sein. Sie haben doch nach dem Tod meines Ehemannes alles so gut und gründlich geregelt: das Haus verkauft, die Möbel zum Trödler gebracht, die Katzen ins Tier- und mich ins Altersheim.
Viola
Viola liebt Taschentücher. Natürlich nicht jene aus Papier, die man in schnellem Tempo aus dem Hosensack zieht und ebenso schnell wieder wegwirft, sondern nur jene aus feinstem Baumwollstoff; Taschentücher, die zum Teil so alt sind wie sie selbst – aber die, im Gegensatz zu ihr, noch immer wie neu aussehen, makellos. In den beiden Nachttischschubladen hütet sie ihre Sammlung. Öffnet sie eine Schublade, breitet sich über der bunten Taschentuchlandschaft ein Duft nach Lavendel aus. Manche Taschentücher sind aufwendig mit Katzen oder Schmetterlingen bestickt, andere mit Blumen und Pflanzengirlanden. Auch mit Bibelsprüchen. Wieder andere sind bedruckt mit Sehenswürdigkeiten: Eiffelturm, Kapellbrücke, Matterhorn, Schlösser und Wappen. Einige besonders kostbare haben eine gehäkelte Umrandung. Und alle werden gut gepflegt und mit dem Bügeleisen geglättet.
Ist ihr Sohn, nach wochenlangen Unterbrüchen, bei ihr zu Besuch, schenkt sie ihm zum Abschied jedes Mal ein Taschentuch: Man muss das hergeben, woran man selber am meisten hängt. Sie tut es feierlich, trägt das Taschentuch auf der flachen Hand zu ihm, nicht ohne vorher einige Tropfen Lavendelöl oder Franzbranntwein darauf getröpfelt zu haben, manchmal auch noch ein paar Tropfen Weihwasser. Hier, nimm, tief einatmen; das tut dir gut, das erfrischt dich! So verschiebt sich langsam, Stück für Stück, ihre Taschentuchsammlung in seine Wohnung, in seinen Schrank. Lila, lindengrün, erikaviolett. Und er glaubt, dass sie erst dann sterben wird, wenn ihre Nachttischschubladen leer sein werden.
Trudi
Gestern Nachmittag, als ich mit meinem Enkel um drei Uhr in die Cafeteria kam, sah ich meine Freundin Martha allein an einem Vierertisch sitzen. Sie stocherte mit der Gabel in einem Erdbeertörtchen – und beim Näherkommen fielen mir ihre verweinten Augen auf und die verschmierte Wimperntusche. Noch nie hatte ich Martha weinen sehen. Es musste etwas Schreckliches passiert sein. Ich musste sie aus dem Netz, in dem sie gefangen schien, herausholen. Ich setzte mich zu ihr und fragte: Martha, was hast du? Warum weinst du? Sie umklammerte meine Hand, zog mich zu sich, strich mir über mein Haar und flüsterte, um Fassung ringend: Weisst du, Liebes, heute ist mein Geburtstag. Alle haben es vergessen, selbst meine Kinder, nur ich habe daran gedacht!
Frau Jud
Frau Jud kniet vor ihrem ausgebreiteten Leben, in der Mitte ihres Zimmers, auf einem dunkelblauen Teppich. Die Vorhänge sind zurückgezogen, die Geranien auf dem Balkon verblüht, einige wenige Wolken stehen am Himmel; sie dämpfen das Sonnenlicht. Auf den vielen Fotos, alle schwarz-weiss, liegen Schatten des jetzigen Lebens. Frau Jud neigt sich nach vorne, stützt sich mit den Fäusten auf den Teppich, schaut auf ihre vergilbte Vergangenheit, seufzt, lacht leise. Hinter ihren Füssen stapeln sich Schuhschachteln; Dutzende von Fotos schwimmen auf dem Teppich. Frau Jud rutscht auf den Knien, dreht sich im Kreis. Die Bilder, die so nah sind und doch so fern, tauchen wie Inseln aus dem Meer des Vergessenen auf, ziehen in Zeitlupe an ihren Augen vorbei. So lange, bis sich auf einmal ein Bild aus der Menge in den Vordergrund drängt, Frau Jud ihre Drehbewegung stoppt, sich herabbeugt, das Gleichgewicht verliert, nach vorne kippt, sich mit einer Hand, in eine Lücke zwischen den Fotos zielend, auffängt und mit der anderen Hand zögernd, fast etwas ängstlich, das Foto, das ihr ins Auge gesprungen ist, vors Gesicht führt, das Kind auf dem Schaukelpferd grösser und grösser wird und Frau Jud klein, so klein, wie sie früher einmal war.
Laetizia
Laetizia gibt sich am Mittagstisch alle Mühe. Sie versucht eine ernste Miene zu machen. Denn sie will nicht, dass sie mit ihrer Lebensfreude den anderen den Tag noch mehr verdirbt.
Herr Bumbacher
Ich liebe Autos. Aber dieser saudumme Audi ist schuld, dass ich mein Haus am Waldrand verlassen musste – und mitten in der Stadt in einer Alterswohnung gelandet bin. Nun gut, auch meine Tochter trug einen zünftigen Teil dazu bei. Ich erinnere mich, es war an Allerseelen, vor genau einem Jahr: Jemand klingelte an der Haustür. Ich war zu niedergeschlagen zum Aufstehen. Es klingelte wieder. Am liebsten wäre ich unters Sofa gekrochen. Die Tür ging auf. Es war meine Tochter, sie hatte ja einen Schlüssel. Sie rief nach mir, bekam keine Antwort, sie befürchtete schon das Schlimmste. Sie rannte die Treppe hoch, stürzte in die Stube und sah mich bleich und erschöpft, mit Tränen in den Augen, auf dem Sofa liegen. Weinst du meinetwegen, weil ich dich gestern nicht angerufen habe und heute nicht auf Mutters Grab gekommen bin?, fragte sie mich. Nein, gab ich zur Antwort, du bist es nicht. Aber wenn du in die Garage gehst, dann wirst du sehen, weshalb. Energisch drehte sie sich um und polterte nach unten. Ich hörte, wie sie die Tür zur Garage aufriss. Ich wusste, jetzt würden dann gleich die Neonröhren anspringen und sie würde alles sehen: Der Audi neunzig, Automat, silber metallic, fünf Zylinder, einhundertfünfzehn PS, stand schräg in der Garage. Die Fahrerseite war von vorne bis hinten zerkratzt und eingedrückt, der linke Seitenspiegel lag wie eine abgeschlagene Hand auf dem Boden. Und der rote Rapid-Rasenmäher stand nicht wie üblich einen halben Meter von der Motorhaube entfernt an seinem Platz, sondern lag umgekippt, gegen zwei Harassen mit Äpfeln gedrückt, hinten an der Betonmauer.
Als sie wieder neben mir stand, schwieg sie lange, begann dann zu schimpfen und befahl in einem Tonfall, der nicht den kleinsten Widerspruch duldete: Dein zweiter Unfall innerhalb eines Monats. Du gibst den Audi samt Ausweis ab – und ziehst zu mir in die Nähe, in die Stadt!
Anita
Nackt, so wie sie vom jahrelangen Leben im Heim geschaffen worden war, üppiges Essen, keine Arbeit, wenig Bewegung, stand sie vor dem Spiegelschrank, einzig das Haar unter einer Duschhaube versteckt. Ein pensioniertes Schneewittchen, weiss und rein, als wäre vom Hals an abwärts noch kein einziger Strahl Sonne auf ihre Haut gefallen. Es roch nach Rosenöl. Ein betäubender Duft. Sie sog ihn ein. Sie liebte ihn. Die dunkelrote Glasflasche stand auf dem Lavabo. Nach einer Verschnaufpause machte sie mit Einreiben weiter, hob den rechten Fuss, stellte ihn auf dem WC-Deckel ab, beugte ihren breiten Oberkörper vornüber. Mit weit ausholenden Bewegungen und von klatschenden Geräuschen begleitet fuhr sie mit den öligen Händen über ihren Unterschenkel bis unter die Kniekehle, Innenseite, Aussenseite. Ihr schwarzes Haar war ein wenig unter der Badehaube hervorgerutscht. Die eine Brust hing nach unten und baumelte bei jeder Bewegung in der Luft. Die andere Brust wurde von ihrem dicken Oberschenkel zusammengedrückt, so dass sich Wülste bildeten. Die Brustwarzen hatten dieselbe Farbe wie die Erlenzapfen, die sie vor ein paar Tagen unten am Bächlein gesehen hatte: dunkelbraun, fast schwarz. An gewissen Tagen packte sie eine unglaubliche Lust, Herbert zu fragen, ob er ihr beim Einreiben helfen wolle. An anderen Tagen blieb sie im Badezimmer wie angewurzelt stehen, schaute in den Spiegel und glitt mit dem Blick verstört, fast angewidert über die ihr so fremd erscheinende Frau.
Frau Neuweg
Verliebt war ich nicht, geheiratet habe ich ihn trotzdem. Und ich bin unendlich dankbar dafür. Ich hätte viele haben können, sehr viele. Und als ob sie es beweisen wollte, zählt sie Namen, Berufe, Wohnorte auf. Fügt dann aber rasch hinzu: Ich kann froh sein, dass ich die vielen, die ich hätte haben können, nicht genommen habe. Ich kann wirklich froh sein, ich muss Gott dafür danken. Meine Geduld hat sich gelohnt. Denn eines Tages kam er: Ich arbeitete damals in der Bäckerei und im Café meiner Eltern, war Fräulein für alle und alles. Ich habe Brotlaibe, Pralinés und Nussgipfel verkauft. Regale aufgefüllt. Abgewaschen. Serviert. Bis er auftauchte. Per Zufall. Er war auf der Durchreise und hatte Lust auf etwas Süsses. Als er den Laden betrat, wusste ich sofort: ein Fremder, kein Einheimischer. Dieses sauber rasierte, schmale und etwas bleiche Gesicht, das im Kontrast zur schwarzen Hornbrille stand, hatte ich noch nie zuvor im Laden gesehen. Es war Frühling, Anfang Mai. Er kaufte sich eine Schlossbergkugel. Und ich musste ihm, da er diese Süssigkeit nicht kannte, in allen Einzelheiten erklären, aus welchen Zutaten sie bestand, wie sie hergestellt wurde. Während des Zuhörens schaute er mir aufmerksam und liebevoll in die Augen, ein kindliches Lächeln auf den Lippen. Danach kam er immer wieder, jeden Samstagnachmittag. Das eine Mal kaufte er sich eine Schlossbergkugel, das andere Mal ein Meitschibei. Er war ein bisschen steif, ein bisschen ein Pedant, aber seine mit einer Prise Humor gespickte Freundlichkeit strahlte etwas Sympathisches, Vertrauenerweckendes aus. Er trug bei jedem Wetter, selbst bei Sommerhitze, eine Krawatte, meistens von dunkler, unauffälliger Farbe. Seine Hemden waren weiss. Manchmal hatte er eine Ledermappe unter den Arm geklemmt oder einen Regenschirm. Bald stellte sich heraus: Er war ein Schreibmaschinenvertreter, besuchte Kunden in unserer und in angrenzenden Gemeinden. Auch am Samstagmorgen war er unterwegs. Einmal tranken wir zusammen im angebauten Kaffeestübchen einen Milchkaffee. Es war kurz nach Ladenschluss. Zum Kaffee ass er eine mit Zucker glasierte Vanillebrezel, die ich ihm spendiert hatte. Er fasste das Gebäck sehr zart und vorsichtig an, als wäre es aus Porzellan, biss ein Stückchen ab. Er kaute es mit geschlossenem Mund und blickte mich so unglaublich treuherzig und ehrlich an, dass ich mich zwar nicht gerade in ihn verliebte, sein Angebot aber, mit ihm am Sonntag einen Spaziergang zu machen, nicht ausschlagen konnte. Und während des Schlenderns dem Seeufer entlang machte er mir im Schatten einer Rosskastanie einen wohl zu Hause Wort für Wort auswendig gelernten Heiratsantrag. Weshalb lange überlegen, dachte ich, sag doch einfach: Ja! Bei ihm wirst du in sicheren Händen sein. Besser ich nehme ihn, ich gründe mit ihm bald einmal eine Familie – anstatt dass ich auch noch mit fünfzig Jahren im Geschäft meiner Eltern das Fräulein spielen muss und ewig ledig bleibe. Er wird bestimmt ein pflichtbewusster Vater sein. Und er wird dir, das war in seinen Augen zu lesen, nie untreu werden. Einen Besseren wirst du nicht mehr so schnell finden. Es war also mehr ein Kopf- als ein Herzentscheid. Aber irgendwann muss man sich entscheiden. Irgendwann muss man Ja sagen, auch wenn vieles im Unklaren bleibt. Und Liebe, mein Lieber, ist kein Gefühl; Liebe ist eine Haltung, eine Frage des Willens.