Read the book: «Traumprotokolle»

Font:

Christof Wackernagel

Traumprotokolle

1978 bis 1989

Band 1


© 2020 zu Klampen Verlag • Röse 21 • 31832 Springe • zuklampen.de

Korrektorat: Miriam Marie Hirschauer • Schladen

Satz: Christof Wackernagel • München

Miriam Marie Hirschauer • Schladen

Umschlaggestaltung: Germano Wallmann • Gronau • geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH • Rudolstadt

ISBN 978-3-86674-778-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

VORBEMERKUNG

6. SEPTEMBER 1978

AB 11. NOVEMBER 1980

AB 22. DEZEMBER 1982

AB 23. FEBRUAR 1983

AB 6. JUNI 1983

AB 21. JUNI 1984

AB 5. SEPTEMBER 1985

AB 31. JANUAR 1986

AB 18. MAI 1986

AB 11. NOVEMBER 1986

AB 9. NOVEMBER 1989

PERSONENREGISTER

AUTORENVITA

Vorbemerkung

Träume sind flüchtig. Sie gleichen einer vorbeiwehenden Frau, die ahnen lässt, was für erregende Unterwäsche sie trägt, aber keine Chance gibt, sie auch nur zu grüßen. Träume sind ungreifbar, man kann sie nicht festhalten, selbst die Erinnerung an sie ist allein identisch mit der durch sie erzeugten Stimmung. Diese Tatsache stellt eine Herausforderung dar.

Träume sind Kunstwerke – Traumprotokolle sind die Plots dieser Kunstwerke, Skripts, Anhaltspunkte, nicht die Kunstwerke selbst. Selbst als solche bedeutet es eine sisyphosartige Anstrengung, sie zu erstellen: je näher man an den Traum heranreicht, desto weiter rückt er weg; die Frau mit der erotischen Unterwäsche ist nicht zu kriegen. Warum ich es trotzdem versuche, ist in meinem Buch »Politik des Traums«1 nachzulesen.

Die Veröffentlichung dieser Protokolle soll die Leser dazu einladen, Träume nicht nur individualpsychologisch zu interpretieren, sondern in ihnen Gesellschaftsbilder zu sehen.

Ein Beispiel: Ich rede mit einer Freundin über die Kommune, in der wir zusammen gelebt hatten, das Scheitern dieser Idee. Das drückt individualpsychologisch aus, dass uns dies bis heute beschäftigt.

Als Bild der Gesellschaft aufschlussreich an diesem Traum ist, dass wir dieses Gespräch in einem Automobil geführt hatten, das in einer stehenden Masse von Autos steckte.

In einer globalen Gesellschaft, in der das Auto wirtschaftlich wie psychologisch eine vorherrschende Rolle spielt, erinnert das stehende Auto daran, dass die meisten Autos die meiste Zeit sinnlos herumstehen. Da Autos aber zum Fahren da sind, erinnert diese Tatsache daran, dass die Landschaften so zubetoniert werden, dass Überflutungen überhandnehmen, die Ozonschicht zerstört wird, das Artensterben beschleunigt wird etc., also die Gesellschaft als solche, und zwar die globale, wegen des Automobils sinnlos stehen geblieben ist.

Dies erweitert die individualpsychologische Interpretation um eine gesellschaftliche Dimension: So könnte man die Erinnerung an die stehen gebliebene Kommuneutopie mit der an die stehen gebliebene Gesellschaft konstruktiv verbinden, indem man feststellte, dass kollektive gesellschaftliche Umgangsformen den Autowahnsinn überflüssig machten: Traum als Schlüssel zur Utopie.

Ein aktuelles Beispiel (die Pandemie 2020) verdeutlicht dies besonders eindringlich: Ich träumte von einem gläsernen Bus, in dem, in voneinander abgetrennten gläsernen Kabinen, Kinder mit Kopfhörern vor Laptops saßen, und auf diese Weise einen Kindergeburtstag feierten.

Der psychoanalytische »Tagesrest« war das Zoom-Pfadfindertreffen meines Sohnes am Laptop alleine in seinem Zimmer, meine mitfühlende Trauer über diese Entfremdung vom Pfadfindergedanken.

Gesellschaftlich könnte es keine beklemmendere künstlerische Ausdrucksform für die Traumatisierung der folgenden Generation, die Zerstörung urmenschlichster Ausdrucksformen durch das Herunterfahren gesellschaftlicher Aktivität aufgrund einer Pandemie geben: Albtraum als Warnung vor gesellschaftlicher Realität.

Dasselbe gilt für alle menschlichen Grundbedürfnisse und Tätigkeiten von Essen und Trinken über Politik bis zur Sexualität: jeder Mensch verarbeitet sie jede Nacht und kann daraus Schlüsse nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch auf die Gesellschaft, in der er lebt, ziehen.

Damit werden die über einen Zeitraum von vierzig Jahren festgehaltenen Traumprotokolle zu einer neuen Art von Geschichtsbuch. Die Nachtseite der Geschichte, ihr – mitunter grelles – Vexierbild. Die nicht sichtbare, die unbekannte, die verdrängte Seite der Geschichte und der sie gestaltenden Menschen im Großen wie im Kleinen: the Dark Side of the Moon.

So viele Leser diese Traumprotokolle haben werden, so viele verschiedene gesellschaftliche Schlussfolgerungen können aus diesem historischen »Entwicklungsroman« aus der Perspektive des Unbewussten gezogen werden.

Damit möchte ich die Leser anregen, ihre eigenen Träume in diesem Sinne anzunehmen und, so weit es geht, festzuhalten.

PS – technische Verständnishinweise:

1 Mit dem Zeichen: • voneinander getrennte Texte bezeichnen verschiedene Träume in derselben Nacht.

2 Nicht verständliche oder unlogische Wort- oder Satzkonstruktionen, meist in Anführungszeichen zitiert, sind erinnerte Wort- oder Satzbildungen aus dem Traum. Diese »Traumsprache« − eine Kreation der »Werkmeister des Traums« Verdichtung, Vermischung und Verschiebung − ist Vorbild der in meinem Roman »es. Traumtrilogie«2 in seiner mittleren Spalte geschriebenen Übersetzungen von Träumen in Halluzinationen.

In geschwungene Klammern gesetzte Textpassagen beziehen sich auf Träume, an die ich mich während des Aufschreibens erinnerte, weil sie die gleiche Stimmung ausdrückten. Diese Erfahrung ist Grundlage meiner in der »Politik des Traums« ausgeführten These, dass Situationsgebundenheit und Bildlichkeit der Träume austauschbar und damit für eine Interpretation nur bedingt verwendbar sind: entscheidend am Traum ist die durch ihn erzeugte Stimmung.

6. September 1978

− mit Fidel Castro im Hubschrauber über den Niederlanden; wir sitzen an einem kleinen Tischchen, fast wie im Flugzeug, und er redet auf mich ein, ernst und eindringlich, es geht ganz eindeutig um etwas sehr Wichtiges, etwas Grundsätzliches, aber ich begreife ums Verrecken nicht, was er sagen will; er redet und redet, aber ich verstehe kein Wort, es scheint sinnloses Blabla, und je mehr ich es verstehen will, desto weniger begreife ich – bis ich mit Schrecken entdecke, dass er keinen Bart mehr hat –

Ab 11. November 1980

− in Boston, USA, spiele ich mit einem Paar in einer Gesellschaftskomödie ein Dreiecksverhältnis, und nachdem die Vorstellung abgebrochen wurde, weil der letzte Zuschauer aus Langeweile gegangen war, nehmen mich die übers Weekend mit zu sich in ihr Penthouse, das im fünfundzwanzigsten Stockwerk liegt und in dem noch ein zweites, älteres Paar wohnt; die Wohnung hat eine merkwürdig verschachtelte Architektur, auf verschiedenen Ebenen, mit Vorräumen, Treppen, Aufzügen, riesigen Blumen und Sträuchern in Töpfen, und irgendetwas findet statt, das man nicht sieht, aber spürt − und man ahnt, dass es um große Mengen Drogen oder Spionage geht −, während vordergründig Tee getrunken wird, Joints herumgereicht werden und absichtlich belangloses Zeug geplappert wird; die Freundin meiner Theaterkollegen, eine Frau in den besten Vierzigern, hat alle und alles in der Hand, regelt alles, checkt alles, wickelt alle ein, vor allem wenn ihr Mann weg ist, der nichts von dem Ganzen weiß; sicher weiß es mein Theaterkollege, während dessen Freundin wahrscheinlich nicht alles weiß, aber langsam eingeführt werden soll in das Verbrechen; da klingelt es, und ein Bulle steht vor der Tür und fragt nach einem Mann mit Hut und Tasche, aber die geheimnisvolle Fadenzieherin – sie ist wunderschön, in voller Blüte – wickelt den Bullen so ein, dass der gesuchte Mann mit Hut und Tasche, sogar mit einem Tuch vor dem Mund, aus einem der hinteren Zimmer kommend an den beiden vorbeigehen und verschwinden kann, ohne dass der Bulle das Geringste merkt, aber kaum ist das überstanden, taucht schon wieder ein Mann mit Hut und Tasche auf, und es wird kurz äußerst gefährlich, jeden Augenblick kann alles hochgehen, kann es Tote geben, aber sie, die große Allesreglerin, regelt die Situation, und mein Theaterkollege verlässt mit dem Neugekommenen die Wohnung, aber ich kann vorher noch einen Blick in die Tasche werfen, und aus dem Fenster sehe ich, wie er aus der Tiefgarage des Hochhauses mit einem großen braunen amerikanischen Kombi hinausfährt, woraufhin es sofort zu einer heftigen Liebesszene zwischen mir und seiner Freundin kommt, auf der Couch in einem der Vorräume streicheln und lecken wir uns nackt zwischen den riesigen Blumentöpfen, und hinterher bade ich in einem Pool im Hof der Hochhausanlage, die hypermodern mit Einkaufsarkaden, Musik und allem Drum und Dran angelegt ist, das Schwimmbad mit mehreren Becken in geschwungenen Formen, zwischen denen mit bunten Klinkern belegte Steinhügel sich schwingen; außer mir nur Kinder, die baden, bis die Hauptfrau, die große Checkerin von oben kommt, neben das Becken geht, und sogleich alle Kinder sich in einer Reihe aufstellen und an ihr vorbeidefilieren, um sie einmal kurz aus der Nähe sehen zu können; sie ruft mir etwas zu, das ich nicht verstehen kann, woran ich aber klar erkenne, dass sich unter Umständen eine Katastrophe anbahnt, und ich sage: »Ich kann sofort gehen, wenn du willst«, aber sie antwortet: »Bleib, ich kann dich brauchen, du bist helle«, was sie eiskalt sagt, während sie sonst sehr sympathisch redet mit ihrem einnehmenden Wesen – und wie ich wieder auf das Haus zugehe, kommt meine neue Geliebte heraus und sieht mich erschreckt an, sie scheint Bescheid zu wissen oder zumindest etwas zu ahnen und sie kommt mit mir wieder hoch, und wie wir oben durch die Tür zu dem ersten Vorraum treten, steht die altägyptische Königin am oberen Ende der Treppe zum Eingang des Penthauses und im selben Moment öffnet sich die Aufzugtür und drei graue Mannsbilder, einer davon mit Knarre, springen heraus, sie haben brutale Fressen, könnten die konkurrierende Dope-Gang sein, eher aber Kerle vom Geheimdienst, und der, der das Sagen zu haben scheint, sagt: »so«, während ich, meine Geliebte an der Hand haltend, ins Durcheinander rufe: »was ist los?«, aber der Anführer, auf Die Große Allesbestimmerin zeigend, antwortet: »Sie rein, die beiden anderen können gehen, haben nichts damit zu tun«, woraufhin jedoch einer der drei »nein« schreit, seine Knarre zieht und sie auf mich richtet, woraufhin der Anführer ihn anbrüllt: »Knarre weg, du Arschloch, wir brauchen nur die eine« und versucht, ihn wegzudrängen, wodurch ein Gerangel entsteht, währenddessen die Aufzugtür sich wieder öffnet und alle erstarren, der Anführer sagt: »ich hab’s doch gewusst«; nur der Lauf einer Maschinenpistole ist durch die leicht geöffnete Tür zu sehen, und ich reiße meine Freundin mit mir zur Tür hinaus, schlage diese zu und renne panisch die Treppe hinunter und brülle, bis alle Geräusche im Haus verstummen, sich nichts mehr tut und von oben nur noch leises Maschinengewehrgeknatter zu hören ist, aber als wir unten ankommen, ertönt Der Ewigen Gnädigen Stimme im Hauslautsprecher: »du hast mich enttäuscht, uns so zu denunzieren«, und unter den Arkaden der Hochhausanlage sehe ich sie mit ihrem Mann zwischen Möbeln spazieren gehen, und er sagt: »siehst du, die Möbel sind schon da, ich habe auch einen neuen Schrank für den Vorraum bestellt«, woraufhin er allein in den Aufzug geht und auf meine Frage, ob ich auch mit hinein kann, nur abweisend den Kopf schüttelt –

– sind wir in eine Art Lagerhalle geflohen und besprechen dort das Weitere, da sehe ich vor dem Fenster, wie ein Hengst eine Stute bespringt, sehe genau, wie er seinen riesigen roten Schwanz in ihre Scheide schiebt –

– ich sitze im Jumbocockpit mit automatischer Steuerung, das aussieht wie ein normaler Busfahrerplatz, und wir landen, woraufhin ich einen Spaziergang im Wald neben der Startbahn mache und dort von malerischen, aber gefährlichen Wilden überfallen werde; ich stelle mich müde und werde nicht angegriffen, kriege sogar einen Platz zum Schlafen angeboten, aber es ist eklig alles dort, das Holz von Maden durchsetzt, und ich denke, dass die das gut finden, weil sie die Maden ja zum Essen brauchen –

– wir gehen einen Berg hoch und stoßen auf ein Haus; weil wir müde sind, klopfen wir an, und zu meiner großen Überraschung öffnet Remo, der von der KPD3 zur KPD/ML4 übergewechselt ist, »ihr hier?«, frage ich »ZK5-Sitzung«, antwortet er und zwinkert uns zu, »eigentlich kann ich euch nicht reinlassen, aber vielleicht können wir uns bei dieser Gelegenheit mal aussprechen, wir sind nämlich inzwischen auch bewaffnet«, was mir sofort ein ungutes Gefühl bereitet, weil, wenn die ML bewaffnet ist, stimmt etwas nicht, »das heißt: Spitzel im ZK, das habe ich im Urin«, sage ich zu den anderen, als wir hochgehen, »wir sollten auf jeden Fall Wachen aufstellen«, aber kaum auf dem Dach, stellen wir fest, dass das Haus tatsächlich von Bullen umzingelt ist, aber die MLer erscheinen sofort mit überdimensional großen Maschinenpistolen, knorrigen, astartigen Gebilden, und halten sich wacker, kämpfen bis zum letzten Mann in einem blutigen Gefecht ohne Ende –

– aus engen Sackgassen befreit, an deren Eingang, nachdem man wieder zum Anfang zurückging, plötzlich rutschige, gefährliche Abhänge waren und wo jedes Weiterkommen zu einer lebensgefährlichen Unternehmung wurde, gehe ich zusammen mit zwei Frauen und einem Mann einen schneebedeckten Berg hoch, fröhlich und in unaussprechlicher Übereinstimmung, der Weg ist schnurgerade, und auf der einen Seite ist alles dunkel, in der Ferne schwarz, aber nicht bedrohlich, auf der anderen Seite glänzt, unendliche Zuversicht ausstrahlend, die Sonne, und eine Flötenmusik schwingt in der Luft, in einer Schönheit und Vollkommenheit, wie ich sie noch nie gehört habe, jubilierend, triumphal, und ich denke, dass diese Situation nie aufhören dürfte, weil ich so etwas Schönes noch nie erlebt habe, wache aber in diesen Moment, dick in Decken gepackt, in der Bauernhofwohnstube einer Landkommune neben dem Ofen liegend auf, will den Traum nicht verlieren und kämpfe mit den Decken, stelle fest, dass neben mir eine Frau liegt, die meine Freundin sein könnte, die ich aber noch nie gesehen habe, und um uns herum tänzeln zwei afghanische Windhunde, ich höre eilige Schritte, besorgte Stimmen von Menschen, deren Erleichterung groß ist, weil sie uns vor dem Erfrieren gerettet zu haben scheinen, und ich frage mich, ob der Gipfel des Berges vielleicht der Tod gewesen ist –

– in einer Luxusvilla streiten sich irgendwelche exzentrischen Reichen über die Bombardierung von Landstrichen oder ganzen Ländern, vielleicht sogar Kontinenten, so erbittert, dass sie nicht bemerken, dass wir vier, Remo, Silvi, Gundel und ich, ihnen zuhören, in drei, hintereinander hoch gestaffelten Reihen sitzend; sie zerfleischen sich gegenseitig, wobei es nicht um das Ja oder Nein der Bombardierung geht, sondern um das Wo und Wann, es geht ihnen an die Substanz, sie verzweifeln beinahe, und wir hören mucksmäuschenstill zu, aber auch, als wir etwas einwerfen, interessiert es sie nicht, so sehr sind sie miteinander beschäftigt, also rauchen wir Joints und Remo bietet Brigitte, die eigentlich gar nicht hier reinpasst und hinten in der dritten Reihe sitzt, an, doch zu ihm nach vorne zu kommen, will aber dann gleich was zu trinken, weswegen ich hinter die Bar, die vor unseren Sitzreihen steht, gehe; Remo lallt übertrieben angeturnt etwas von Gin und ich suche verzweifelt nach Gin, es gibt aber nur Plastikflaschen mit Schnaps oder Fruchtsäften, da kommt eine junge Frau gelaufen und hantiert, für mich unsichtbar hinter einer spanischen Wand, die mit Raumpflanzen verkleidet ist, mit irgendetwas rum, bis ihre Mutter erscheint und sie sich geifernd streiten: die junge will den Schmuck nicht rausrücken, ist sie ein emanzipiertes Gretchen?, aber auch, als ich Remo etwas zurufe, interessiert das die beiden Frauen überhaupt nicht, und die junge kommt an mir vorbeigelaufen und lächelt mir gequält zu –

– endlich ist das Haus gegenüber verschwunden, und ich kann erkennen, was dahinter liegt: ein Schwimmbad, in dem jetzt, mitten im Winter ein Wettspringen von kleinen Jungen stattfindet, wobei es darum geht, von einem Zehnmetersprungbrett zu springen und dabei nicht von einem über dem Becken schwebenden riesigen Schmetterlingsnetz aufgefangen zu werden, was den meisten misslingt außer einem, der vom Brett gestoßen wird und laut klatschend auf dem Wasser aufschlägt, woraufhin sie, sobald sie schreiend im Netz zappeln, mechanisch wieder in den Sprungturm eingezogen werden, bis auf einer, der es schafft, sich aus dem Netz zu befreien, aber als er gerade ins Becken springen will, taucht ein Muskelmann in Badehose auf und versucht, ihn zurückzuhalten, schafft das jedoch auch nicht, und der Kleine springt jubelnd ins Wasser, während sich Motorenlärm nähert, kein Hubschraubergeräusch, sondern ein heller, aufdringlicher, hornissenartiger Ton, der, jetzt kann ich es erkennen, von einem Motorsegler herrührt, einem Gerät, das fast nur aus ein paar Stangen besteht, in denen ein Mann hängt, der direkt auf meine Zelle zusteuert, was will er?, ich bekomme Herzklopfen, etwa mich befreien?, aber er landet im Gefängnishof und führt sein Gerät einigen Leuten vor, wobei peinlicherweise einige Startversuche misslingen, aber er kann immer noch in letzter Minute landen, bevor er an die Mauer stößt oder unter dem Dach abstürzt, und er hat keine Flügel mehr, braucht kaum Anlauf zum Starten, im Grunde ein ideales Ding, aber als ich im Hof ankomme in der Hoffnung, damit vielleicht abhauen zu können, schafft er es gerade, endlich richtig abzuheben, obwohl sich noch einer an ihn drangehängt hat und mit ihm rausschwebt, ohne daran gehindert zu werden, während ich dem Ding sehnsüchtig nachsehe, und bereits wieder von einem Wächter abgeholt werde, der mir Mut machen will, indem er sagt, wenn es meine Leute gut machten, könnten sie mich schon rausholen, aber auf meinen Einwand, dass bei uns doch scharf geschossen werde, nicht genau antwortet, woraus ich auf die Art der Bewaffnung schließen könnte, sondern nur mit großem Ernst betont, dass gezielt geschossen werde; und wir gehen endlos durch immer neue Gänge, immer neue Treppen, immer neue Türen, die er geübt aufschließt, wobei sich moderne, psychiatrieähnliche Räume abwechseln mit mittelalterlichen, gruftenartigen Höhlen, und ich vermute schon, dass ich nicht zurück in meine Zelle, sondern irgendwohin zur Bestrafung für meinen Fluchtversuch geführt werden soll, wir landen aber im Warteraum für Besucher; »aha!«, rufe ich erstaunt aus, so sieht es also bei normalen Besuchen aus, aber niemand will sich mit mir unterhalten, alle sitzen stumm da, mit Aufrufzettelchen in der Hand wie beim Zahnarzt und in einer Atmosphäre wie in der Kirche, wo nur ab und zu vorsichtig geflüstert wird, fast alle sind Frauen, die meisten alt, nur wenige jüngere, verhärmte sitzen auf unbequemen Holzbänken und halten kleine Wurstecken in der Hand, die sie ihren Gefangenen mitbringen wollen, während wenige andere, von denen eine einen protzigen Pelzmantel trägt, in silbernen, igluartigen Kabäuschen mit einem Sichtfenster in Augenhöhe sitzen, deren Vorderteile als Klapptür gebaut sind, und sie sitzen versteinert darin, Mumien mit starrem Blick, und eine Frau spricht mit leiser Stimme devot neue Nummern und Namen, entschuldigt sich, dass die Elektronik heute kaputt sei –

– ich liege am Strand, Ebby ist auch da, was mich sehr erleichtert, aber als ich die lange Menschenschlange sehe, die am Tor zum Wald ansteht, weiß ich, dass ich fliehen muss, zumal Ebby mich mit einem Blick darauf aufmerksam gemacht hat, wer da in der Schlange steht und mich auf keinen Fall entdecken darf; ich renne, ohne dass mich jemand bemerkt, an der Schlange vorbei, sogar durch das Tor und erreiche ungehindert die Bushaltestelle, aber da macht Ebby, der weit entfernt steht, mir Zeichen, dass ich aufpassen muss, also weiterfliehen, durch den Wald, bis zu einer Lichtung, in der eine Menschenmenge um etwas herum steht und eine feierlich beängstigende Atmosphäre herrscht; ich habe das Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben, bin neugierig, traue mich aber nicht näher heran, bis ein weißhaariger Mann, der am Rand steht, sich umdreht und mir winkt, mich lockt, so stark, dass ich, obwohl ich Angst habe, näher komme, und näher, und immer eindringlicher winkt er mich heran, bis ich ganz vorne in der Menschenmenge bin und es sehe: in einem Tümpel spielt ein Film, ein Flugzeug fliegt haargenau durch Straßenschluchten, ganz knapp, ohne anzustoßen und ganz dicht unter Stromleitungen hindurch, es muss ein riesiges Flugzeug sein, denn es hat mehrere Stockwerke und Treppen und Säle und Vorhallen und Pendeltüren, durch die ich irre, ohne irgendwo einen Menschen zu treffen, alles ist wie ausgestorben, irgendwo huscht eine Stewardess vorbei, ohne von mir Notiz zu nehmen, und ich verstehe: der Treibstoff geht zu Ende, und wir werden gleich abstürzen, aber ich bin ja gar nicht drin, sondern sehe es nur im Film, und es passiert niemandem irgendetwas, das Flugzeug fällt ins Wasser, und alle kriechen unversehrt hinaus, man redet angenehm miteinander –

– ich sitze in einem Straßencafé in Toronto, alles menschenleer und von riesigen Wolkenkratzern umgeben, als Einziger ganz am Rand der leeren Tische, da kommen ein Mann und eine Frau vorbei, setzen sich direkt neben mich, obwohl noch viel anderer Platz frei ist, und versuchen krampfhaft mit mir anzubandeln, aber als die Frau »Christof« zu mir sagt, weiß ich, dass es Bullen sind, denn ich habe mich noch nicht vorgestellt, aber da sie nicht wissen, dass ich sie erkannt habe, spiele ich erstmal das Spiel mit, bei dem die Frau jetzt so tut, als sei sie in mich verliebt und wolle mit mir in die Ferien fliegen; ich halte das für eine gute Gelegenheit, zu entwischen, auch wenn sie gerade damit mich in die Falle locken will, aber ich versuche es, und im hundertundzwanzigsten Stock eines Wolkenkratzers mit schwindelerregendem Blick auf das Meer der Stadt stehe ich vor der Flugticketverkäuferin und verliebe mich in sie, sie kann mich retten, mit ihr kann ich einen Ausweg finden, denn sie hat einen Kassettenrecorder in der Hand, den sie nicht aufbekommt, die Kassette nicht rausbekommt, von der wir wissen, dass, wenn sie draußen ist, die Bullen mich nicht kriegen, aber da geht die Tür auf, der Mann und die Frau kommen mit noch einem Weiteren den Gang entlang gehetzt und das Spiel von vorhin ist vergessen, sie geben offen zu, dass sie Bullen sind und mich verhaften wollen, bevor der Recorder offen ist – ich knie mit der Flugtickettverkäuferin auf dem Boden und wir hantieren fieberhaft an dem Ding rum, atemlos flüstert sie mir zu, dass sie mich liebt und mit mir fliehen will und ich fließe fast über vor Freude und Glück, da haben wir es tatsächlich geschafft, das Ding aufzukriegen, aber es ist schon zu spät, wir können nur noch in den Raum daneben fliehen, wo es ein fürchterliches Blutbad in einer nicht endenwollenden Schießerei gibt, wobei meine größte Angst allerdings ist, dass die Frau aus dem Café jetzt damit auftrumpft, dass ich ja versprochen hätte, mit ihr in Urlaub zu fahren und deshalb meine wirkliche Liebe mir nicht glaubt, dass ich sie liebe und denkt, dass ich sie nur benützen wollte, um zu fliehen, und ich überlege fieberhaft, wie ich beweisen kann, dass ich schon im Café wusste, dass es Bullen waren und ich nur mitgespielt habe, um noch eine Chance zu bekommen, abzuhauen –

– mitten in der Nacht wird es plötzlich hell, so ungeheuer, dass ich glaube, den Verstand zu verlieren, vielleicht der Weltuntergang, vielleicht Gott, der sich zeigt, vielleicht eine Atombombe – eine wunderschöne, ungekannte Erwartung, eine feierliche, Versöhnung versprechende Ankündigung –

– ein englischer Doppeldeckerbus kommt bedrohlich auf mich zu, fährt aber vorbei, und erst hinterher wird mir klar, was als Ziel angegeben war: de omnibus dubitandum6