Der Casta-Zyklus: Initiation

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Der Casta-Zyklus: Initiation
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Christina Maiia

Der Casta-Zyklus: Initiation

Roman

„Zwei Welten, auf geheimnisvolle Weise verbunden, zwei konvergierende Zeitlinien, nur durch einen Dimensionssprung entfernt: Für einen kurzen, fragilen Moment, der alles ändern kann, findet ein gefährliches Experiment statt, eine gewaltige, interplanetare Mission, über deren Ausgang Mut oder Angst entscheiden werden. In ihrem Zentrum: eine Handvoll Akteure, die unterschiedlicher nicht sein könnten, mit versteckten Motiven und Schicksalen, die mächtiger sind als ihr Selbst. Gelingt ihnen gemeinsam die Initiation?“

Christina Maiia lebt in München und arbeitet als freie Autorin, Schriftstellerin und Fotografin.

www.auge-und-feder.de

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Imprint

Der Casta-Zyklus: Initiation

Christina Maiia

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2013 Christina Maiia ISBN 978-3-8442-6457-9

„Heutzutage ist kaum etwas realistischer als Utopien.“

Prolog

Stille.

Kalte, einsame, verzweifelte Stille.

Kein Flackern, kein Zeichen von Restleben auf dem Display ihrer Raumkapsel, diesem im Sterben liegenden Kokon aus komprimierter, semipermeabler Energie. Nur ein letztes Pulsieren trennt sie noch von dem Nichts, das draußen bereits hungrig auf sie wartet.

Warum nur keine Antwort?

Seit Tagen versucht sie es schon auf allen Kanälen, doch nicht einmal ein zersplittertes Röcheln dringt aus dem Headphone, das unbeteiligt von der Kabinenkonsole herunter baumelt. Keine Reaktion, die ihr signalisiert, dass noch jemand da ist, der an sie glaubt, der sie nicht längst für lost in space (nette Umschreibung für tot) erklärt hat, nach den üblichen, vier definierten Tagen ohne jeden Kontakt. Jemand da draußen, in der Weite der Galaxie MX, von Zuhause auf Casta 3, von diesem friedlichen, langweiligen, himmlischen Planeten, den sie nicht schnell genug verlassen konnte und den sie jetzt, das erste Mal in ihrem Leben, schmerzlich vermisst.

„Mist!“, schreit eine seltsame Stimme in das sterbende Display, das noch einmal aufglimmt, bevor es sich erneut dem Ableben hingibt. Sie hört sich fremdartig und hoch an in ihrem schnell verklingenden Echo, diese Stimme, doch es muss ihre sein, sonst ist niemand hier.

Bilder sind in ihrem Kopf, ungefragt, schnell, aber so mächtig und ameisenhaft wie die Todesangst, die bedrohlich ihre Adern hinauf kriecht. Nonna mit ihrem verschmitzten Lächeln, ihr übliches Spiel, als habe sie nicht bemerkt, wenn sie heimlich ein Stück von dem Kuchen stibitzt, dieses simple Ritual, das sie jeden Sonntag zusammen zelebrieren, wenn Kisha von der Sternenakademie nach Hause rauscht und übermütig ihre Tasche in die Ecke wirft, um in epischer Breite von ihrer Woche auf Luna 5 zu berichten. Nonna. Wenn sie mich nur hören könnte. Ein letzter Versuch einer Transmission, doch die Schwingung erfährt kein Echo.

Seit Tagen ist schon dieses seltsame Gefühl in ihrem Bauch, ein harter Kloss aus Schmerz und ein Brodeln, das wie eine dickflüssige, beißende Suppe darüber liegt. Sie spürt es so heftig wie sie es noch nie zuvor in ihrem Leben gespürt hat, nur hier, an diesem fremden, seltsamen, unwirtlichen Ort, der alles so verwirrend macht und in gigantischem Ausmaß verzerrt. Wie kann das sein, wie kann er nur solch eine Wirkung auf sie haben?

Es ist so viel Wut in ihr. Wut über ihre eigentlich typische Hartnäckigkeit, diesen Auftrag unbedingt alleine ausführen zu müssen, und über ihren Stolz, diesen manchmal absurden Stolz. Doch sie musste sich einfach melden, war völlig besessen von der Chance, es allen zu zeigen, ganz besonders der Clique, den Konformen, die sie von Anfang an wie selbstverständlich ausgeschlossen haben. „Mist“, hallt die fremde Stimme ein weiteres Mal durch die Kapsel hindurch und verpufft an ihrer Hülle, „sollen sie doch an ihrer Arroganz ersticken!“

Selbst Doc T hat sie zunehmend ignoriert. Lieber, gutmütiger, genialer Professor Todd. Er hatte ursprünglich Kevin schicken wollen, ausgerechnet diese Nummer von den Konformen, no way in hell. Sicher würde Doc jetzt seine Augenbrauenbüschel hochziehen und sich über ihren Temperamentsausbruch wundern, über das Ei, das sie sich selbst ins Nest gelegt hat, für das sie ihn so lange bearbeitet hat, bis er nicht mehr nein sagen konnte, und an dem sie jetzt offensichtlich erstickt. „Kisha“, hallt es in ihrem Kopf detailgetreu wider, „Sie rauben mir noch den letzten Nerv.“ Lieber, brillanter, wohlmeinender Doc T. Hätte ich nur auf ihn gehört, nur dieses eine, einzige, verfluchte Mal!

Ihr ist bewusst, dass sie etwas unternehmen muss, losziehen und einen riskanten, vielleicht allerletzten Versuch wagen muss. Aufgeben ist keine Alternative. Doch zuerst muss sie sich irgendwie beruhigen und Kontrolle über dieses innere Chaos erlangen, das ihr völlig verrückt vorkommt. Was ist nur verdammt nochmal mit ihr los?

Die kleine, silbrige Apparatur, die neben ihr auf der Display-Ablage ruht, flackert leicht unter der energetischen Spannung, die ihr die Bereitschaft für einen letzten Außengang signalisiert. Sorgfältig streift sie sich den Ring über den Arm und beobachtet, wie er eine leicht fluoreszierende Hülle aufbaut, die sich wie eine zweite Haut um sie schmiegt. Dann aktiviert sie die Echtzeit-Verbindung zur Raumkapsel. Als der Portable Suit die gewohnte Schwingung kreiert, atmet sie erleichtert auf. Der unsichtbare Kontakt zur Kapsel ist noch in Funktion und die Anzeige des Lebenserhaltungs-Chips zeigt 12,5 Standard-Stunden, bei sparsamem Verbrauch und nicht zu viel Gedankenmüll. Die Sphäre ist zunehmend instabil und welche Systeme überhaupt noch funktionieren werden, steht unüberprüfbar in den Sternen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denkt sich Kisha besorgt, weitere Transmissionen nach Casta 3 fallen jetzt flach, wenn ich es noch irgendwie schaffen will, wenn ich noch eine Chance haben will, die Quelle aufzuspüren und diesen Schrott von einer Raumkapsel flugfähig zu bekommen. Und ich muss es einfach schaffen.

Noch ein tiefer Atemzug, ein und aus, ein und aus, immer langsamer, tiefer, ruhiger. Ganz so wie Misses K es ihnen im Meditationskurs beigebracht hat, ein Universum von diesem Drecksplaneten entfernt. Nein, ermahnt sie sich erneut, nicht fluchen, nicht denken, nicht wegdriften. Beruhige dich, konzentriere dich, lass es fließen, einfach nur fließen, ein uns aus, ein und aus, ganz ruhig.

Das Display flüstert leise, ihr Herzschlag verlangsamt sich stetig und der Portable Suit summt beruhigend in seinem künstlichen Klima. Ihre Bewegungen und ihr Geist werden endlich wieder leicht und mit einem einzigen, beherzten Schritt tritt sie durch die Energiehülle der Raumkapsel nach draußen.

12,5 Stunden. Nur noch winzige 12,5 Stunden.

Teil 1 - Die Mission
Casta 3

Die holografische Bedienleiste surrt, als sie die Zeit auf 12 Standard-Minuten einstellt. Es ist ein altes, fast schon antikes System, eigentlich längst überholt von tonlosen und mental gesteuerten Geräten, doch Eve hängt noch an diesen Dingen wie sie noch an manch schönen Erinnerungen festhält.

Das Haus liegt heute ungewohnt still, es schimmert und schläft wie der klare, unberührte See, der sich direkt an die schlichte, holzverkleidete Terrasse anschließt, um sich dann in einem für das Auge unendlich scheinenden, milchigen Horizont zu verlieren. Die hohen, durchsichtigen Fronten schenken einen ungetrübt weiten Blick, der nur ab und zu von einem gleitenden Flügelschlag oder einem fallenden Blatt durchschnitten wird. Ein ockerfarbenes Schilf wiegt sich im Wind, der sanft über dem grüngelblichen Grasland weht. Aus der Ferne ist eine leichte Vibration zu spüren, wahrscheinlich aus einem der Generatoren, die ihre Speicher für die dunkleren Tage voll saugen, doch das ist kaum Eves Sorge in diesem Moment.

Vier Tage ist es her, vier quälende Sternenzeit-Tage, während denen selbst ihr Gespräch mit Professor Todd und dem Ältestenrat von Casta 3 nichts Neues bringen konnte. Der Professor hat sicher sein Bestes versucht, sie von der Normalität der Situation zu überzeugen: „Alles läuft wie geplant, ...der Geheimbericht des Gesandten ist positiv“, und mit mehr Nachdruck noch: „es muss so laufen, Eve, wenn wir Erfolg haben wollen“. Doch in ihrem Bauch hat etwas nicht gestimmt und sie hat mit der Sicherheit einer Großmutter begriffen, dass es in Wirklichkeit sehr viel Grund zur Besorgnis gibt. Auch wenn sie selbst nie eine Akademie von innen gesehen hat, war doch zwischen den Zeilen für sie eindeutig erkennbar, dass hier etwas gründlich schief läuft.

Als sie heute Morgen zu ihrer eigenen Beruhigung damit begonnen hat, Kishas Lieblingskuchen zu backen, ganz so als würde sie gleich um die Ecke gehechtet kommen, um ihren Schwall an Geschichten aus der Akademie loszuwerden, wurde Eve plötzlich von einem seltsamen, intensiven Gefühl überfallen, von einer eindeutigen, aber nicht begründbaren Ahnung, dass es ihrer Kleinen nicht gut gehen kann. Sie hat gespürt, dass ihr geliebter, schlauer, eigensinniger Schützling sich dieses Mal in ernsthafte Gefahr manövriert hat und sie, Eve, nicht das Geringste dagegen wird tun können.

 

Das rote Signal leuchtet auf. Mechanisch und geistesabwesend zieht Eve das fertige Gebäck aus dem System, während in ihrem Kopf der Film der letzten Tage abläuft, bevor Kisha auf ihre „ist streng geheim, Nonna!“-Mission aufgebrochen ist, überschäumend vor Vorfreude und stolz wie die Jahrgangsbeste über diese so hartnäckig erkämpfte Chance. „Du wirst schon sehen, denen zeige ich es richtig!“, hat sie getönt vor Begeisterung. An diesem Tag hat Eve unwillkürlich an Kishas Vater denken müssen, an Martins identische Art, vor dem holografischen Display zu sitzen und die Mundwinkel nach unten sinken zu lassen, als würde ihn das Programm zutiefst langweilen oder ihm bestenfalls zu einem entspannten Wegdösen genügen.

Sie hat so viel von ihm, sinniert Eve, als sie den Kuchen aus seiner Form herauslöst, nicht nur die pechschwarzen Haare und diese grübelnde Stirn, auch den glasklaren Verstand und den unbeugsamen Dickschädel, wenn es um ihre Sache geht. Doch wo auch immer Martin gerade genau sein mag, um seinen Traum auszuleben, das Herz hat sie von mir, lächelt Eve, die Lebenslust und die Gutmütigkeit. „Und manchmal leider auch das Temperament“, schneidet ihre Stimme dann laut in die Stille des Sonntagnachmittags hinein.

Ein leises Klingeln wie aus einer vergangenen Welt unterbricht Eve in ihrem Gedankenstrom. Es ist ein willkommener Ton, ein Ton, der die mentale Kraft in ihr stoppt, der sie sich gerade so unkontrolliert hingegeben hat, eine Gefahr, derer man sich auf Casta 3 immer bewusst sein muss. Es ist ein besonderer Ort hier, ermahnt sich Eve, ein Ort, an dem man genau darauf achten sollte, welche Gedanken man in sich formt.

Noch einmal arrangiert sie die blasslila Blüten, die in dem ovalen, weiß lasierten Tongefäß stehen, welches sie mit ihren eigenen Händen gefertigt hat. Sie stellt den Kuchen neben zwei Tassen aus hauchdünnem Porzellan und fegt einen letzten Krümel von der transparenten Tischplatte weg. Der Duft von frisch geriebener Zitrone breitet sich wie ein Versprechen aus, und in den schlichten, lichtgetränkten Raum fällt die Silhouette einer großen, kräftigen Gestalt.

Sie wird es schaffen, denkt sich Eve, als sie den Buzzer zu ihrer Haustür aktiviert.

Doc T

„Kommen Sie doch herein, Sal“, klingt es freundlich durch die halboffene Tür hindurch, hinter der ein breiter Plexiglas-Schreibtisch unaufgeräumt steht. Deckenhohe Metallregale sind über und über mit Büchern bestückt, doch ihre zerfledderten Rücken verraten keine Ordnung irgendwelcher Art.

„Wann trennen Sie sich endlich mal von all dem Müll?“, meint ein sonorer Bass. Bei genauem Hinhören ist ein leichtes Kratzen in ihm auszumachen.

„Nicht so bald, Sal. Nennen Sie mich ruhig antiquiert, aber ich liebe es, diese alten Wälzer in den Händen zu halten und ihr Gewicht unter meinen Fingern zu spüren. Gibt mir jedenfalls einen größeren Kick als so manch ausgefeilte Animation auf dem holografischen Display.“ Unter einem dunkelbraunen Haarschopf und sehr präsenten Augenbrauen tut sich ein herzliches Lächeln auf. „Schön Sie zu wieder sehen, alter Freund. Was kann ich für Sie tun?“

„Die Moon-Sache geht mir nicht mehr aus dem Kopf, Todd. Kann ich ein paar Minuten mit Ihnen darüber reden?“

„Sicher doch, sehr gerne. Auch wenn ich nicht weiß, was ich in der Sache noch unternehmen kann. Ich habe bereits mit dem Ältestenrat und mit Eve gesprochen, und so wie ich das sehe, liegt jetzt alles im Geschick unseres Gesandten vor Ort. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, Sal. Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten? Tut mir leid, aber ich habe sonst nichts da.“

Salomon rückt sich den zweiten Armlehnstuhl an den Schreibtisch heran und lässt sich ein wenig zögerlich darin nieder. Seine ledrige Stirn verrät Spuren von Nachdenklichkeit. Eine kräftige Hand massiert für ein paar Sekunden geistesabwesend die Schläfe, die unter seinem immer noch dichten, angegrauten Haarschopf hervortritt. Das schwache Licht einer weißlichen Leuchtstoffquelle fällt von der seitlichen Wandverkleidung quer durch Todds kleines Büro. „Nein, danke, ich komme gerade von einem Essen im Observatorium. Wussten Sie eigentlich, dass ich Eve persönlich kenne? Von früher, als ich noch auf der ersten Akademie war, auf der alten Basis auf Casta 3.“

„Nein, ich hatte keine Ahnung. Haben Sie sie kürzlich gesehen? Wie kommt sie Ihnen vor?“

„Sie ist es, die mich gebeten hat, noch einmal mit Ihnen zu sprechen. Eve und ich sind alte Freunde, müssen sie wissen, und sie hat mich wegen der Sache vor kurzem wieder kontaktiert. Sie ist außerordentlich besorgt. Nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie die einzige Erziehungsbeauftragte der Kleinen ist.“

„Ich weiß. Aber die Sache sieht schlimmer aus als sie wirklich ist. Wissen Sie, Sal, wir müssen es bis zu einem bestimmten Grad so aussehen lassen, sonst ist die Mission von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die junge Miss Moon ist ein verdammt komplizierter Fall. Wir können es ihr nicht zu leicht machen, sonst ist alles umsonst.“

„Ich verstehe. Aber es gibt doch sicher eine Möglichkeit, den Gesandten zu kontaktieren. Ohne die Geheimhaltung gefährden zu wollen, können Sie mir sagen, was für ein Typ er ist? Kann man ihm vertrauen, kann er die Mission erfolgreich zu Ende bringen und das Problem beseitigen?“

In Todds Gesicht zieht sich die Falte über der Nasenwurzel zusammen. Er setzt sich etwas aufrechter in seinen Stuhl. Eine Sekunde lang scheint er um eine Antwort verlegen. „Wissen Sie, Sal“, fährt er dann ruhig fort, „das Ganze ist von langer Hand sorgsam geplant worden und wir wollen jetzt so wenig wie möglich intervenieren. Wir müssen Vertrauen in unsere Leute haben. X ist ein ausgezeichneter, erfahrener Gesandter und die ideale Besetzung für die Mission. Und auch für Kisha ist es richtig, auf diese Weise gefordert zu werden. Sie haben ja keine Ahnung, was das Mädchen mir in den letzten drei Jahren für Kopfschmerzen bereitet hat.“

Ein Lächeln überkommt Sals Gesicht. „Ich habe schon davon gehört. Es ist kein Wunder. Sie hätten früher ihre Großmutter erleben sollen, was für ein Weib, mit einem Temperament vom Allerfeinsten. Mich hat‘s bei ihrem Anblick damals sofort erwischt.“

Die beiden Männer lachen herzlich. Die angespannte Stimmung scheint ein wenig ins Leichtere zu driften.

„Versprechen Sie mir eins, Todd“, sagt Sal plötzlich ganz ernst.

„Alles, was ich kann, das wissen Sie doch, mein Freund.“

„Passen Sie mir persönlich auf die Sache auf und überlassen Sie sie bitte nicht den bequemen Sessel-Bürokraten im Ältestenrat.“

Todd nickt nachdenklich. „Ich kann Sie beruhigen, Sal, ich bleibe dran. Allein schon aus eigenem Interesse. Vielleicht habe ich es Ihnen und auch Eve noch nicht explizit gesagt, aber ich halte Kisha für eine der begabtesten Studentinnen, die ich kenne. Besser als die allermeisten ihres Jahrgangs, soviel ist sicher.“

„Das freut mich sehr zu hören, Todd. Trotzdem, die Kleine ist noch sehr jung und darüber hinaus ohne männliche Erziehungsperson aufgewachsen. Ich traue Eve wirklich eine Menge zu und sie hat ihr ganzes Herz hineingehängt, aber Kisha hatte immer schon ihren eigenen Kopf und ich weiß nicht, inwieweit der zu einer realistischen Einschätzung ihrer Fähigkeiten neigt.“

Die Augenbrauen des Professors bewegen sich für einen Augenblick nach oben. Er sieht aus, als habe ihn gerade eine konkrete Erinnerung gestreift. „Ich verstehe vielleicht besser als Sie denken“, schmunzelt er, „aber ich habe Vertrauen in sie. Keiner meiner Studenten hat seine Grenzen bei mir so unerbittlich ausgetestet und ist dabei so regelmäßig gegen eine Wand gelaufen, wenn es notwendig war. Sie weiß, wo ihre Grenze liegt. Und wir werden da sein, falls sie sie erreichen sollte.“

Salomon steht langsam auf. Erst jetzt nimmt Todd das fortgeschrittene Alter seines Freundes wahr. Es ist eine Weile her. Noch immer ist Sals Physis imposant, eine muskulöse, große Erscheinung, ein Kerl wie eine unumstößliche Eiche mit immer noch äußerst wachen Augen darin, aber seine Bewegungen sind lange nicht mehr so fließend wie zu der Zeit, als Todd und er sich das letzte Mal trafen. Er streckt Sal seine rechte Hand zum Abschied entgegen und legt die andere zuversichtlich auf den Oberarm seines Gegenübers, während er ihn zur Tür geleitet.

Auf dem Gang dreht sich Sal noch einmal zu ihm um. „Ich vertraue auf Sie, Todd. Enttäuschen Sie mich bitte nicht.“

„Keine Sorge. Geben Sie meinen herzlichen Gruß an Eve.“

Gestrandet

Logbuch Mission 2036-623c, Astronautin Kisha Moon, Sternzeit 22019.03, Tag 1. Gesendet an Basis um 0:37 SRZ. Keine Empfangsbestätigung. Status: Defekt hat während vorgesehenem Flug zu ungeplantem Energieabfall geführt. Musste Raumkapsel auf nächstliegendem, geeignet erscheinendem Planeten manuell notlanden, dabei Verlust mehrerer Bordsysteme. Kapsel-Hülle ist gemäß erster Inspektion intakt. Navigatorin selbst ist unverletzt. Genaue Systemanalyse nicht möglich, jedoch klare Hinweise auf nicht ausreichenden Energiestatus betreffend erneuten Start und Verlassen der Umlaufbahn. Grund: unbekannt. Navigationseinheit außer Betrieb, demzufolge Planet nicht im System identifizierbar. Auf ersten Anschein hin Terra-konform, Atmosphärendruck und -zusammensetzung gemäß Multiscanner-Analyse kompatibel, ebenso wurden Nahrungsquellen identifiziert (Scanner hat pflanzenähnlichen Struktur als brauchbar bestätigt). Weitere Hinweise auf planetares Leben: bislang keine.

Action Items: Ziehe der Sicherheit halber zunächst verbleibende Bordverpflegung vor, die für etwa zehn Tage reichen sollte. Habe mehrere Notsignale unter Angabe der letzten registrierten Position an Basis gesendet, bislang ohne Antwort. Werde in Kürze auf zweiten Erkundungstrip mithilfe des intakten Portable Suits aufbrechen. Verbindung zu Raumkapsel konnte etabliert werden. Raumkapsel selbst wurde sicherheitshalber in einer Felsformation untergebracht. Nächste Meldungen gemäß Not-Protokoll im 12 Standard-Stunden-Takt. Kommende Meldung voraussichtlich bei Sternzeit 22019.15.

So ein Mist! So ein verdammter, beschissener Mist! Endlich auf dieser lange ersehnten, hart erkämpften Mission und dann diese Pleite, bevor es überhaupt losgegangen ist. Was werden die nur Zuhause sagen? Die werden grinsen bis ihnen die Gesichtszüge gefrieren. Die werden mich häuten. In Einzelteile zerlegen. „Was mache ich jetzt nur?“ Kishas Stimme hallt verzweifelt im Inneren ihres Portable Suits. Jetzt nicht auch noch weinen, ermahnt sie sich, als sie das erste, widerspenstige Zucken an ihrem Augenlid entdeckt.

Schätzungsweise 45 Prozent der geplanten Raumstrecke hat sie bis hierhin zurückgelegt. Insofern müssten die Energiereserven eigentlich für den Rückflug ausreichen. Doch infolge des Spannungsabfalls und der Notlandung muss es eine Mikro-Kollision, einen Kurzschluss oder einen Bruch im Schwingungsmodulator gegeben haben, was nun ein Leck in die Energiespeicher reißt, das sich weiter ausdehnt und langsam bis zur Hülle vor frisst. Doch was noch weitaus dramatischer ist: Sie hat nicht die geringste Ahnung, wie sie das Ding flicken soll.

Reiß dich zusammen, Kisha. Konzentriere dich. Halte dich an die Facts. Aufruf der Scanner-Messungen Erkundungstrip 1, sendet sie mental an das Display. Der Eintrag von ihrem ersten Außengang im Radius von 500-Standard-Metern wird umgehend Audio-übertragen. Atmungskompatible Atmosphäre: Check. Essbare Pflanzenvorkommen: Check. Flüssigkeitsquellen: vorhanden, Check. Wetterlage: stabil, circa 50 SGD Außentemperatur, Check. Planetenoberfläche: Fester Untergrund, keine Anzeichen von Lebensformen, keine potenziellen Gefahrenquellen identifizierbar, Check. Planet wirkt ziemlich verlassen, um genau zu sein. Brauchbare Energiequellen: Fail. Bericht 1. Messung Ende.

Keine brauchbaren Energiequellen. „Fail“, wandert ihr Echo flach durch den Portable Suit hindurch, „bestens hingekriegt, Kisha.“ Sie aktiviert das Verstärkungsmodul und setzt sich kurzerhand in Bewegung. Der Suit lässt ihre Schritte über den staubigen Grund des Planeten fast hinweg gleiten und beschleunigt ihre Motorik um den Faktor fünf. Kisha entscheidet sich, für ihren zweiten Erkundungstrip den Radius auf 4.000 Standard-Meter festzulegen. Angestrengt blickt sie in die Ferne. Auch heute offenbart sich vor ihr die karge Landschaft, dieselbe tiefschlafende Ödnis wie schon am ersten Tag ihrer Bruchlandung. Eine rötlich-gelbe, feinkörnige Schicht überzieht das ebene Gelände, das auch innerhalb des erweiterten Gesichtsfelds keine Variationen zeigt. Weite, flirrende, hypnotisierende Monotonie. Nicht einmal der Multi-Scanner kann eine Veränderung in der Geostruktur registrieren. Gelegentlich ragt ein verdorrter Halm aus den Rinnen der flachen Dünen heraus, die sich durch das Spiel von Wind und Erosion gebildet haben müssen, und nur ab und zu erscheint ein Gewächs auf der Bildfläche, das seine Arme einen halben Standard-Meter weit in die Vertikale ausstreckt. Laut Multiscanner der Lieferant von flüssiger Nahrung, verborgen in den appetitlich aussehenden Tentakeln. Nur über meine Leiche, beschließt Kisha intuitiv, eindeutiges Fail.

 

Als sie eine der wenigen, zerklüfteten Felsformationen passiert hat, fällt ihr scheinbar zusammenhanglos ein, dass sie Doc T’s Seminar in alternativer Bioenergiegewinnung vielleicht mehr Aufmerksamkeit hätte widmen können. Das hätte jetzt zumindest die Basis für einige Lösungsansätze abgegeben, doch stattdessen musste sie wieder einmal auf Konfrontationskurs mit ihm gehen. Vermutlich ein Anfall von Stolz, angesichts der Konformen und ihrem gefallsüchtigen Gehabe, analysiert Kisha selbstkritisch. Doch auch mit Doc T hat zum Ende des letzten Semesters hin etwas nicht gestimmt. Immer öfter hat er seine Augenbrauen in die Stirnfalten gesogen und sie mitten im Satz abgewürgt. Warum musste er nur so verdammt ungerecht zu ihr sein?

Die gesetzte Radius-Grenze ist zügig erreicht, ohne dass sich etwas Verwertbares ergeben hätte. Die Anzeige des Multi-Scanners bleibt beklemmend stumm. Resignation bemächtigt sich Kisha wie ein kalter Hauch. Dieser seltsame Planet will ihr die Materialisierung all ihrer Hoffnungen verweigern. Endlose Wüste, drückend heiß, kein Zeichen von Leben und beängstigend leer. Doch zumindest der Portable Suit hält, was sich seine Konstrukteure auf Kryo versprochen haben. Eine fantastische Erfindung, stellt Kisha fest, als ihre mentalen Befehle immer zuverlässiger in Bewegung transferiert werden. In keiner der Simulationen der Trainingssequenz hatte sie je ein solches Gefühl von Leichtigkeit, Effizienz und Sicherheit erlebt, nie diesen Flow zwischen Humanoid und Portable Suit verspürt, von dem die erfahrenen Navigatoren stets begeistert berichtet hatten. Es ist, als würden der Suit und sie miteinander verschmelzen, zu einer organischen Einheit fusionieren, die intuitiv kommuniziert und sich kontinuierlich verbessert. Frequenz-Adaption, folgert sie fasziniert, dieser Erfinder ist ein verdammtes Genie. Das erste Mal seit ihrer Landung kommt etwas Pionier-Euphorie in ihr hoch. Sie beschließt spontan, den Radius der heutigen Erkundung auszuweiten.

Der Link zur Datenbank der Raumkapsel hat sich inzwischen automatisch freigeschaltet. Die Details zur Konstruktion des Suits dringen direkt in Kishas neuronales Netz: Portable Suit Modell-Typ 508/S, Entwicklung T. Kubrick; transparente, isolierte, semipermeable Außenmembran; autarkes Innenklima; waffenresistent gegen alle Modelle der Reichweite 100 SM; direkte, neuronale Verlinkung zur Raumkapsel; mentale Steuereinheit und Kontrollführung; hochauflösendes, interaktives 360-Grad-Display als Fallback-Option; reflektierende Tarnvorrichtung; Ladekapazität per Kapselverbindung 3 Standard-Tage, Standalone-Betrieb 20 Standard-Stunden; passgenaue Adaption auf Benutzer-Anatomie; Distanzeinstellung stufenlos von 0,3 bis 0,6 Standard-Meter. Kisha kappt die Übertragung an dieser Stelle. Lange Datenbankvorträge waren noch nie ihre Sache.

Als sie die Grenze des 5.000-er Radius schließlich erreicht, haben sich noch immer noch keine neuen Erkenntnisse manifestiert. Kisha entscheidet sich, lieber umzukehren und es langsam anzugehen. Gegen Ende ihres ersten Erkundungsgangs hat sie sich ungewöhnlich erschöpft gefühlt und trotz Meditation und künstlicher Abschirmung deutliche Lücken in ihrer mentalen Steuerung registriert. Dieser Fakt irritiert sie mehr als sie es sich zu diesem Zeitpunkt schon eingestehen will. Beginnt diese seltsame Atmosphäre auf sie abzufärben? Oder liegt es an der Notlandung und sie hat mehr abbekommen als es ihr bewusst ist?

Entschlossen macht sie die 180 Grad-Wende zurück zur Raumkapsel. Eine goldfarbene, frühe Planeten-Sonne wirft einen langgezogenen, giraffenartigen Schatten vor ihr auf den Grund. Die Temperaturen steigen spürbar an und hinterlassen ein leichtes Flirren am Horizont. Ein trockener Wind fegt über die Ebene und wirbelt einige Körner auf, um sie vor ihr tanzen und dann wieder verschwinden zu lassen. Die Arme der pflanzenartigen Struktur scheinen sich noch gieriger gen Himmel zu recken und in Kishas Kopf formt sich ein erster, beunruhigender Gedanke: Ich hoffe, ich werde dieses Zeug nie essen müssen. Ich hoffe, ich bin spätestens in acht Tagen hier weg.