Read the book: «Sie träumte von Liebe», page 9

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Viertes Kapitel

Was war es?“, fragte Joan zwei Tage darauf den Arzt an ihrem Bett leise. Mittlerweile war sie auf Station verlegt worden.

„Ein Junge. Er war völlig gesund“, fügte der Arzt mitfühlend hinzu. Er hatte selbst zwei Kinder und wollte sich den unerträglichen Schmerz über ihren Verlust nicht vorstellen.

Mit erröteten Augen sah sie ihn irritiert an. „Aber warum hat er dann nicht überlebt?“

Nach seiner langjährigen Erfahrung stellte der größte Teil der Eltern in vergleichbaren Situationen diese Frage und er wusste, dass vielen von ihnen die ehrliche Antwort beim Verarbeiten der Trauer half.

„Beim Abgang des Fruchtwassers hat sich die Nabelschnur um den Hals des Fetus gelegt und abgedrückt“, erklärte er mit sanfter Stimme.

Joan schloss die tränenerfüllten Augen. Er ist erstickt, dachte sie erschüttert. Erst nach einem Moment schlug sie die Augen wieder auf. „Wo ist er?“

„Hier im Krankenhaus. Mrs. Farley, es sind noch einige Fragen offen“, begann ihr Arzt unsicher, da er nicht wusste, ob der Augenblick gut gewählt war. Andererseits musste dieser Punkt sehr bald geklärt werden. „Der Fetus war bereits überdurchschnittlich groß“, setzte er an, als er ihre Aufmerksamkeit hatte. „Nach dem Gesetz entscheiden die Eltern in solchen Fällen, ob der Leichnam beigesetzt oder mit anderen Extremitäten verbrannt werden soll...“

„Ich möchte ihn sehen.“

„Das würde ich Ihnen nicht empfehlen, Mrs. Farley. Sie sollten sich den Anblick ersparen“, sagte er vorsichtig.

„Bringen Sie mich zu meinem Sohn!“

Der Anblick ihres toten Babys zerbrach Joan das Herz. Es fühlte sich an, als würde ihr jemand wieder und wieder mit einem Messer ins Herz stechen. Es blutete und blutete und starb irgendwann.

Im Beisein von Joan, Rachel und Brian wurde Andrew Farley, der Tapfere, neben anderen Babys und Kindern auf demselben Friedhof beigesetzt, auf dem auch Steve beerdigt worden war. Für Joan war es wichtig, dass sie an einen Ort gehen konnte, an dem sie sich ihrem Sohn nahe fühlte - zudem war er dort nicht allein.

Nach der Beisetzung blieb Joan eine Weile allein vor dem Grab ihres kleines Babys stehen und erinnerte sich mit Tränen in den Augen an die Bewegungen ihres Sohnes, die sie noch vor einer Woche gespürt hatte. Als der Schmerz schier grenzenlos wurde, sank sie schluchzend auf den grasbedeckten Boden vor dem Grab ihres Sohnes.

Tagelang lag Joan in ihrer Wohnung im Bett und weinte in ihr Kopfkissen. Sie befand sich in einer Zeitschleife. Wieder und wieder durchlebte sie ihren Sturz im Treppenhaus, hörte nachts ihre eigenen Hilferufe und sah das viele Blut an ihren Beinen. Die Tage, die Stunden, selbst die Minuten vergingen so langsam wie nie zuvor. Nur der grausame Schmerz in ihrer Brust war immer da. Er ging, wohin Joan ging.

Brian und Rachel besuchten sie abwechselnd und brachten ihr Lebensmittel vom Supermarkt mit, Joan aß jedoch kaum etwas. Sie verbrachte die Tage und Nächte in ihrem Bett und stand nur auf, wenn sie zur Toilette musste. Weinend lag sie zwischen ihren Kissen und hielt das Ultraschallbild ihres ungeborenen Sohnes in den Händen. Sie sprach nicht, denn kein Wort konnte den Schmerz beschreiben, den sie durchlitt. Ihr war das Herz entrissen worden. Die zurückgebliebene Wunde war tief und blutete stark.

„Ich habe Joan gegenüber schreckliche Schuldgefühle, weil wir zwei so glücklich sind“, sagte Rachel wenige Tage nach der Frühgeburt, als sie in Brians Armen lag. Soeben hatten sie miteinander geschlafen. „Wir erleben eine so schöne, bedeutende Zeit miteinander. Unsere Hochzeit...“

„Ich weiß, Liebling“, sagte Brian mit ebenso gemischten Gefühlen, denn auch er hatte sich sehr auf das Baby seiner Schwester gefreut. „Joan hatte ihr Leben gerade erst in den Griff bekommen. Es ist unbegreiflich, warum sie so hart bestraft wird.“

„Ich verstehe nicht, warum Gott das tut“, erklärte Rachel mit Tränen in den Augen. Da spürte sie, wie Brian ihr liebevoll den Kopf küsste.

Schon nach Steves Tod hatte Brian bemerkt, wie Joan sich von Tag zu Tag ein Stück mehr aus dem Leben zurückzog. Erst Paolo war es gelungen, die Mauer, hinter der sie sich verbarg, zum Bröckeln zu bringen. Nun war diese erneut aufgebaut, wahrscheinlich höher denn je.

„Joan?“, fragte Brian sanft vom Ende ihres Bettes aus, seine Schwester reagierte jedoch nicht. Es war Morgen, sie hatte die Augen geschlossen, aber er wusste, dass sie nicht schlief. Die Tränen an ihrer Wange waren noch nicht getrocknet. „Kleines, ich kann mir vorstellen, wie sehr du unter der Frühgeburt leidest, aber du musst allmählich wieder unter Menschen gehen. Niemand verlangt von dir, dass du zur Universität oder ins Cafe gehst...“ Er beobachtete sie, vernahm aber keine Reaktion. Leise seufzte er. „Morgen ist Heiligabend“, begann er ohne große Feierstimmung. „Rachel und ich haben beschlossen, dieses Jahr auf keine Party unserer Freunde zu gehen. Stattdessen werden wir bei uns daheim feiern und möchten, dass du dabei bist.“ Er hielt es für angebrachter, ihr die Anwesenheit von ihren engsten Freunden Lynn und Georg zu verschweigen. Und auch, dass Nicholas kommen würde behielt er besser für sich. „Ich werde dich Morgen um sechs Uhr abholen“, sagte er entschlossen, wandte sich um und verließ ihre Wohnung. Allmählich war er es leid ständig gegen eine Wand zu reden. Das Baby war tot. Eine Tatsache, an der weder sie noch er etwas ändern konnte.

Es sollte das erste Weihnachtsfest werden, das Isabelle und Matthew nicht gemeinsam mit ihren Kindern feierten. Joan hatte seit ihrer Krankenhausentlassung nur einmal mit ihren Eltern telefoniert und ihnen erklärt, dass sie dieses Jahr mit Freunden feiern würde. In Wahrheit, so wusste nur sie selbst, würde sie die Feiertage jedoch im Bett verbringen.

Brian und Rachel sagten ihren Flug nach New York ab, da sie Joan nicht allein in Los Angeles zurücklassen wollten, und erzählten Isabelle und Matthew von einer sehr "wichtigen" Feier, die sie auf keinen Fall verpassen durften. Ihr Angebot, dieses Jahr nach Los Angeles zu kommen, lehnte Brian schnell ab, weil er wusste, wie wichtig ihnen Schnee zu Weihnachten war. Zudem behauptete er ihnen gegenüber, dass sein privater Terminkalender randvoll sei und sie somit wenig von ihm hätten.

Es war bereits Mittag des Heiligabends, als Joan die Augen öffnete und auf einen kleinen Stapel Post blickte, den jemand neben sie auf ihr Bett geworfen hatte. Joan, die auf dem Bauch lag, drehte sich schläfrig auf die Seite herum und nahm den obersten Brief in die rechte Hand. Eine Rechnung - was sollte es sonst sein? Sie schob die übrigen Briefe auseinander, sodass sie die Absender lesen konnte und hielt plötzlich inne. Die Post enthielt einen Brief aus Mailand. Erwartungsvoll setzte sie sich im Bett auf, öffnete das Kuvert und hielt ein Schreiben vom Polizeirevier in ihren Händen. Sie überflog die ersten Worte, bis sie den bedeutenderen Teil erreichte. Aufgrund unzureichender Beweismittel wird die Anklage auf Vergewaltigung gegen Herr Raphael Santo fallengelassen... Mit zittrigen Händen ließ Joan den Brief neben sich auf das Bett sinken. Langsam legte sie sich auf die Seite und zog ihre Beine an den Bauch hinauf. Raphael hatte gesiegt...

Am frühen Abend wartete Brian mit seinem Auto vor dem Santa Monica Hospital auf seinen Freund, der jeden Moment Feierabend hatte. Dr. Nicholas Blake war Krebsspezialist im Santa Monica Hospital, das die größte Anerkennung auf dem Gebiet der Onkologie an der gesamten Westküste genoss. Nachdem Nicholas in kürzester Zeit sein Medizinstudium in Boston mit Auszeichnung beendet hatte, war er nach Los Angeles gegangen, um dort am Santa Monica Hospital sein letztes Jahr als Arzt im Praktikum zu verbringen. Sein unerbittlicher Ehrgeiz und sein Engagement für seine Patienten führte letztendlich dazu, dass man ihm im Anschluss an sein Praktikum eine Stelle als Stationsarzt auf der Onkologie anbot. Seither waren fünf Jahre vergangen. Fünf Jahre, in denen er sich neben der Behandlung seiner Patienten mit der gleichen Begeisterung in die Forschung gestürzt hatte. Mittlerweile war er Oberarzt, führte neu erforschte Therapien an seinen Patienten durch und erzielte zudem als Chirurg im Operationssaal unglaubliche Erfolge, die ihm große Anerkennung über seinem Fachbereich hinaus verschaffte. Die Kombination aus Chirurg und Onkologe in einer Person war selten und umso mehr wurde er geschätzt.

„Hast du lange warten müssen?“, fragte eine ihm bekannte Stimme aus einiger Entfernung.

Brian, der mit dem Gesäß an der Motorhaube seines Autos lehnte, wandte sich um und sah Nicholas mit einem beigefarbenen Jackett in der rechten Hand geradewegs auf ihn zukommen. Die schwarzen, kurzen Haare waren das Einzigste, was an ihm dunkel war. In seiner lässigen, hellen Kleidung entsprach er eher dem typischen Kalifornier, als Brian es in Anzug und Krawatte tat. Privat mied Nicholas weitgehend elegante Anlässe. Anders sah es aus, wenn er seinen Verpflichtungen als Oberarzt nachging und sich nach seinen Vorträgen auf den anschließenden Partys zeigte, auf denen er zumeist interessante Gesprächspartner fand.

„Nicht der Rede wert“, antwortete Brian, als sein langjähriger Freund vor ihm stand und begrüßte ihn mit einem Schulterklopfen. „Komm, steig’ ein. Wir müssen Joan noch abholen“, meinte er und fuhr vom Parkplatz.

„Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Vier Jahre?“, schätzte Nicholas. Ohne den Blick von der Strasse abzuwenden, nickte Brian. „Wie kommt es, dass ich in all den Jahren deiner Schwester noch nie begegnet bin?“

„Vermutlich, weil du zuviel arbeitest“, erwiderte Brian grinsend. Obwohl er selbst ein Arbeitstier war, so nahm er sich im Gegensatz zu seinem Freund auch Zeit für seine Verlobte und seine Familie. Nicholas dagegen hatte niemanden.

„Ich lebe für meine Patienten und bin bereit für sie meine Freizeit zu opfern. Und es ist gewiss kein großes Opfer.“

„Jetzt wird mir klar, warum du Single bist. Du bist für fremde Menschen da, doch für dein eigenes Glück tust du nichts.“

„Ich hätte eine deiner Kandidatinnen heiraten sollen?“ Nicholas zog die Brauen hoch. „Ich konnte mit keiner ein vernünftiges Gespräch führen.“

„Wer hat gesagt, dass du mit ihnen reden sollst?“

Nicholas schüttelte lächelnd den Kopf. „So etwas brauche ich nicht, Brian. Wenn ich mit einer Frau zusammenlebe, dann sollte sie vor allem meine Arbeit verstehen und respektieren. Ich möchte meinen Patienten helfen, doch dieser Weg ist nicht immer einfach. Ich kämpfe mit ihnen gegen den Krebs und das braucht seine Zeit. Aber oftmals lohnt sich mein Einsatz und ich kann nicht in Worte fassen, welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, wenn wieder jemand überlebt.“

„Es ist kostbare Zeit, die du mit einer Frau verbringen solltest, mein Freund“, riet Brian ihm, obwohl er die Aufopferung seines Freundes aufgrund seiner Vergangenheit nachvollziehen konnte. „Wie war das mit Betty, Angela und Susanne? Alles tolle und intelligente Frauen, aber keine ist länger als drei Monate bei dir geblieben. Du bist siebenundzwanzig Jahre. Lass dir von einem Ehemann in spe einen Rat geben. Wenn du nicht ewig Single bleiben willst, dann ändere deine Taktik.“

„Mein Vorsatz für das neue Jahr?“, fragte Nicholas lächelnd.

„Zumindest ein Anfang“, erklärte Brian und bog in die Strasse ein, in der Joan wohnte. Einige Minuten darauf hielt er seinen Wagen vor ihrem Haus. Wie Brian erwartet hatte, stand Joan nicht am Eingang, sodass sie ausstiegen und ins Haus gingen.

Als Brian ihre Wohnungstür aufschloss und verärgert den kleinen Flur entlangging, deutete nichts darauf hin. Es gab keine Anzeichen für den Anblick, der sich ihm im Wohn- und Schlafzimmer bot. Joan lag mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrem Bett. Ihr rechter Arm lag in der Blutlache, die sich auf dem Bett ausgebreitet hatte. Die blutüberströmte, linke Hand hing aus dem Rand des Betts hinaus, der Teppich darunter war von Blut durchtränkt.

„Jo!” Brian stürmte zu ihrem Bett und ergriff ihre rechte Hand. „Was hast du getan!“, schrie er sie verzweifelt an.

Da sah Nicholas ins Zimmer und eilte sogleich ans Bett. Er beugte sich zu Joan hinunter und legte seine Finger an ihren Hals, um nach ihrem Puls zu fühlen. Ihr Puls war schwach. Sie mussten sich beeilen. „Sie lebt!“, rief er Brian zu. Schnell zog er sein weißes Hemd aus, zerriss es in zwei Hälften und band jeweils eine davon notdürftig um ihre blutenden Handgelenke. „Sie muss ins Krankenhaus.“ Sein Freund reagierte nicht. „Brian, komm schon!“, fuhr Nicholas ihn an und packte ihn unsanft an den Armen. „Wir dürfen keine Zeit verlieren, sonst wird sie es nicht schaffen!“

Da sah Brian zu ihm auf. „Was kann ich tun?“, fragte er hilflos.

„Öffne’ mir die Türen“, wies Nicholas ihn an, während er Joan auf seine Arme hob und Brian mit schnellen Schritten folgte.

Auf dem Weg zum Santa Monica Hospital hupte Nicholas immerzu und überfuhr etliche Warnschilder und rote Ampeln. Mit quietschenden Reifen hielt er schließlich vor der Notaufnahme und sprang mit nacktem Oberkörper aus dem Auto.

„Hey, ich habe hier eine Frau mit schweren Schnittverletzungen!“, rief Nicholas dem Pfleger am Eingang zu. „Suchen Sie einen freien Behandlungsraum!“ Er öffnete die Hintertür, hob Joan aus dem Wagen und lief von Brian gefolgt in die überfüllte Notaufnahme. „Ich bin Arzt! Geben Sie mir irgendeinen verdammten Raum“, sagte Nicholas gereizt, worauf der Pfleger sie mit schnellen Schritten durch die wartenden Menschen hindurch zu einer Tür führte und diese aufstieß.

„Dr. Shepard, eine Schnittverletzung“, sagte der Pfleger.

Nicholas drängte sich an ihm vorbei ins Behandlungszimmer und legte die Schwester seines Freundes auf die Liege. Sogleich kam Dr. Shepard zu ihm.

„Sie müssen hier warten, Sir“, sagte die Krankenschwester zu Brian und schloss vor seiner Nase die Tür.

Das Blut an Brians Hemd und seinen Händen war noch nicht getrocknet, als Rachel zwanzig Minuten darauf in die Notaufnahme gerannt kam. „Liebling, was ist passiert?“, fragte sie angesichts des vielen Blutes außer sich vor Sorge.

„Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.“ Er kämpfte mit den Tränen.

„Nicholas ist bei ihr.“ Er zog Rachel in seine Arme. „Ich habe sie in den Tod getrieben...“, sagte er verzweifelt.

„Das ist Unsinn! Niemand konnte wissen, wie sie damit fertig wird. Nicht einmal du.“ Tränen rannten aus ihren Augen und die Wangen hinunter.

Eine weitere halbe Stunde verging, ehe Nicholas aus dem Behandlungszimmer trat und eine der Krankenschwestern ansprach. „Schwester, können Sie mir ein Hemd besorgen“, bat er sie und ging dann zu seinen Freunden.

„Nick, wie geht es ihr?“, fragte Brian, dem der Schock über den Anblick seiner Schwester noch immer anzusehen war.

„Sie hat sehr viel Blut verloren und bekommt eine Transfusion, aber sie wird durchkommen“, erklärte Nicholas.

„Können wir zu ihr?“, erkundigte sich Rachel erleichtert.

Nicholas nickte. „Ich bringe euch zu ihr.“ Er führte sie den Gang hinunter und um die Ecke herum, wo sie nach einigen Minuten die Intensivstation er-reichten, auf die man Joan Farley zur weiteren medizinischen Beobachtung gebracht hatte. Verwundert bemerkte Nicholas, wie Brian kurzerhand die Klingel zur Intensivstation drückte, der Krankenschwester erklärte zu wem sie wollten und sich ohne Schwierigkeiten die Bänder des grünen Kittels am Rücken zusammenband. Danach half er Rachel. Es war offensichtlich, dass er eine gewisse Routine darin besaß - eine Tatsache, die Nicholas erschreckte.

Aufgrund der Narkose- und Beruhigungsmittel würde Joan die Nacht durchschlafen und erst am Morgen zu sich kommen, erklärte Nicholas ihnen, als sie an ihrem Bett standen.

Zögernd legte Brian seine Hand auf die seiner Schwester. Er glaubte, ein Déjà-vu zu erleben, als er sie tief schlafend in dem Intensivbett liegen sah. Ihre Haut war blass, was von dem hohen Blutverlust herführte, und ihre Handgelenke waren mit weißen Verbänden verbunden. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sie täglich auf einer Intensivstation besucht und nun lag sie wieder hier, nach einem Selbstmordversuch.

„Habt ihr eine Ahnung, warum sie das getan hat“, fragte Nicholas leise. Für ihn war es unverständlich, warum eine so junge Frau sich das Leben nehmen wollte. Er gab zu, er wusste nicht viel über die Schwester seines Freundes, doch eines konnte er sagen: beide hatten immer ein gutes Leben führen können. „Gab es in der Vergangenheit schon einmal Anzeichen... dafür?“ Bewusst wählte Nicholas nicht das Wort Suizidversuch.

„Das Leben hat es in letzter Zeit nicht gut mit ihr gemeint.“ Brian begegnete dem fragenden Blick seines Freundes. „Ich bin mir sicher, dass das eine Kurzschlusshandlung war.“

Nicholas nickte. „Ich hoffe, du hast Recht.“ Er spürte, dass Brian ihm nicht alles gesagt hatte und er den Grund für den Suizidversuch seiner Schwester kannte, dennoch wollte er ihn nicht heute Nacht zu einem Gespräch drängen. Morgen war auch noch ein Tag. „Ihr könnt mich jederzeit anrufen“, bot er seinen Freunden an.

„Danke für alles, Nicholas“, sagte Rachel und umarmte ihn kurz. „Tut mir sehr leid, wie dein Weihnachtsfest gelaufen ist.“

„Macht euch um mich keine Gedanken.“ Er küsste Rachels Wange und wandte sich um. Nachdenklich ging er den Gang hinunter.

„Warum hast du ihm nicht erzählt, was geschehen ist?“, fragte Rachel ihren Verlobten verständnislos. „Vielleicht könnte er ihr helfen.“

„Nicholas ist kein Psychologe, Schatz.“ Zärtlich küsste er ihre Stirn. „Sobald Joan aufgewacht ist, werde ich mit ihr sprechen und herausfinden, was wirklich in ihrem Kopf vorgeht. Und dann informiere ich unsere Eltern.“

„Sie war von Anfang an dagegen. Brian, sie wird sich von dir abwenden.“

„Das Risiko muss ich eingehen“, sagte er ruhig, aber Rachel sah ihm an, wie viel Überwindung ihn diese Worte kosteten. Es würde nicht leicht für ihn werden, sich über Joans Bitte hinwegzusetzen und dadurch vielleicht seine Seelenverwandte zu verlieren, doch wenn er ihr damit eine Chance auf ein neues Leben gab, dann würde er das Opfer ohne zögern bringen.

Nachdem Nicholas mit der diensthabenden Krankenschwester auf der Onkologie gesprochen und von ihr erfahren hatte, dass alles ruhig war, ging er in sein Büro. Eine zeitlang versuchte er sich vergeblich auf das Durchlesen einiger Unterlagen zu konzentrieren, doch immer wieder kehrten seine Gedanken zu Joan Farley zurück. Schließlich klappte er die ungelesene Akte zu und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Ein einziges Wort hallte wieder und wieder in seinem Kopf. Warum? Warum hatte Joan Farley das getan? Warum hatte sie nicht mehr leben wollen? Und warum verschwieg Brian ihm, seinem besten Freund, den Grund dafür?

Eine Weile saß er grübelnd in seinem Büro. Nicholas wusste nicht, wer oder was ihn antrieb, aber irgendetwas zog ihn zurück zur Intensivstation. Als er Minuten später an Joans Bettende stand und die Schwester seines Freundes musterte, fragte er sich, was sie erlebt hatte, dass sie so handelte. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein, dass sie ihren Tod als einzigen Ausweg gesehen hatte? Während Nicholas die junge Frau mit den zarten Gesichtszügen betrachtete, nahm er sich vor, Joan Farley zurück ins Leben zu helfen.

Indessen saß Brian allein auf der Couch in seinem Wohnzimmer und ließ zum ersten Mal Gedanken an das Baby zu, Gedanken, denen er seit einer Woche vehement ausgewichen war. Er glitt an den Punkt zurück, an dem seiner Meinung nach alles begonnen hatte. Joans Unfall in einer gewöhnlichen Januarnacht vor nun beinahe zwei Jahren. Steves Tod hatte sie zutiefst erschüttert. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie jemanden verloren, den sie aus tiefsten Herzen geliebt hatte. Mit der Zeit war diese Wunde vernarbt, doch dann kam ihre Reise nach Mailand. Dieser Tag hatte alles ins Rollen gebracht. Hätte Brian damals geahnt, welch schreckliche Zeiten auf sie zukommen würden, er wäre niemals ins Flugzeug gestiegen.

Am Morgen stand Nicholas an Joans Bett, als sie allmählich erwachte. Leise zog er sich den Hocker an ihre Seite und beobachtete, wie ihre Augen flackerten und Joan sie schließlich aufschlug. Desorientiert sah sie sich im Zimmer um, wandte den Kopf zur Seite und entdeckte ihn. Erschrocken zuckte sie zusammen.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, Joan“, sagte Nicholas sanft. Verwirrt sah sie den fremden Mann an, dessen ruhige Stimme eine unheimliche Vertrautheit in ihr weckte. „Sie sind im Santa Monica Hospital. Ich bin...“ Ohne auf seine Worte zu achten, ließ Joan ihren Blick auf ihre verbundenen Handgelenke sinken. „In einigen Tagen kommen die Verbände ab“, hörte sie den Mann sagen. „Außer zwei kleinen Narben wird nichts zurückbleiben.“

„Wen... wen interessieren denn meine Hände“, sagte Joan gleichgültig.

„Sie sollten sich dafür interessieren“, entgegnete er und versuchte ihren Blick einzufangen, aber Joan wandte den Kopf zur anderen Seite und schloss die Augen. „Joan, warum haben Sie das getan?“, fragte er einfühlsam. Sachte berührte er ihre Hand, die sie vor Schreck sofort wegzog und unter der Bettdecke versteckte.

Ängstlich sah sie ihn an. „Wer sind Sie?“

„Brian ist ein guter Freund von mir. Ich heiße Nicholas Blake.“ Joan missachtete seine ausgestreckte Hand, sodass er sie mit einem leisen Seufzer zurückzog. „Ich möchte Ihnen helfen.“

„Ich brauche keinen Seelsorger!“, fuhr sie ihn an und wandte sich um.

Nicholas sah enttäuscht ihren Rücken an und fragte sich, was er erwartet hatte. Sie hatte sich schließlich das Leben nehmen wollen. Wenn jemand diesen Schritt gewagt hatte, dann konnte man ihn nicht von einer Minute zur nächsten davon überzeugen, wie lebenswert das Leben trotz allen Übels war. „Ich werde wiederkommen und vielleicht sprechen Sie dann mit mir.“

Mit geschlossenen Augen hörte Joan, wie er seinen Stuhl an die Seite stellte und um ihr Bett herumging. Sie spürte seinen Blick an ihr heften, öffnete ihre Augen jedoch nicht. Dann ging die Tür auf und jemand betrat das Zimmer.

„Schwester“, hörte sie ihn sagen. „Miss Farley ist soeben aufgewacht. Bitte informieren Sie Ihre Angehörigen.“

„Natürlich“, antwortete die Krankenschwester und trat ans Bett heran, um bei der Patientin den Blutdruck zu messen. Als sie die Manschette anlegen wollte, riss Joan die Augen auf und zog hastig ihren Arm unter die Decke. Da begegnete sie Nicholas’ Blick, der in der Tür stand und sie lächelnd ansah. Er würde sie nicht so schnell aufgeben, wie sie vermutlich hoffte. Joan Farley war eine harte Nuss, aber jede Nuss konnte geknackt werden. Und er war geduldig.

Am sechsundzwanzigsten Dezember wurde Joan auf die Psychiatrie verlegt. Aus medizinischer Sicht war sie stabil, aber sie sollte zur genaueren Beobachtung noch einige Tage im Krankenhaus verbringen. Während sie in den Tagen nach der Frühgeburt ununterbrochen geweint hatte, lag sie nun mit starrem Blick in ihrem Bett. Sie isolierte sich völlig von ihrer Umgebung ab und zeigte keine Reaktion, wenn man sie ansprach. Lediglich wenn man sie anfasste, zuckte sie ängstlich zurück.

„Nicholas, warum wurde sie auf die Psychiatrie verlegt?“, fragte Brian seinen Freund aufgebracht vor dem Zimmer seiner Schwester.

„In ihrem Zustand kann sie nicht entlassen werden. Ihr Arzt befürchtet, dass sie es nochmals versuchen wird und ich bin seiner Meinung.“

Entgeistert sah Brian ihn an. „Ihr könnt sie doch nicht in die Klapse schicken! Sie ist nicht verrückt!“

„Brian, das hat niemand behauptet“, sagte Nicholas ruhig. „Aber du darfst die Augen nicht verschließen. Deine Schwester wollte sich das Leben nehmen. Ein Psychologe kann nach einigen Gesprächen mit ihr am Besten beurteilen, wie ihr psychischer Zustand ist und ob sie weitere Suizidversuche unternehmen wird.“

„Aber er kennt sie nicht!“ Unruhig lief Brian vor ihrer Tür auf und ab. Die Hilflosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er sah seine Schwester bereits in einer Zwangsjacke in einem kleinen, abgeschlossenen Raum einer Irrenanstalt sitzen. „Wie soll ein Fremder wissen, was sie denkt?“

„Lass uns das Gespräch des Psychologen abwarten.“

Am Nachmittag betrat ein Mann Anfang Fünfzig mit einer Akte Joans Zimmer. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, passend zu seinem ergrauten, lichten Haar, das an manchen Stellen die Kopfhaut durchscheinen ließ. Seine kleine Brille saß am unteren Ende seiner spitzen Nase und schien jeden Moment hinunterzurutschen. Nicholas, der schon einige Male mit dem Psychologen zusammengearbeitet hatte, schätzte ihn für seine ausgezeichneten Einschätzungen, nicht jedoch als Menschen. Für ihn gab es nur Fälle. Die lebendigen Menschen, die sich hinter diesen Fällen verbargen, ignorierte er, obwohl diese mit seinem Urteil leben mussten.

Während des Gesprächs hinter verschlossener Tür, wartete Nicholas auf dem Gang davor und fragte sich, wie die Schwester seines Freundes auf den Psychologen reagieren mochte. Er hatte mehrere Anläufe gewagt, um mit ihr ein belangloses Gespräch zu führen, doch noch immer war sie die Kratzbürste, die ihn mehr amüsierte, als aufregte. Er wusste, dass dies nur eine Fassade war. Sie versteckte sich, wollte ihr wahres ICH niemanden zeigen.

Plötzlich ging die Tür auf und der Psychologe verließ das Zimmer. Verwundert, da keine zehn Minuten vergangen waren, sah Nicholas den kopfschüttelnden Mann an.

„Ein schwieriger Fall“, erklärte der Psychologe auf ihn zukommend knapp.

„Können Sie deutlicher werden?“

„Ich kann nicht hellsehen, Dr. Blake. Die junge Lady muss mehr sagen, als Verschwinden Sie. So zieht sich die Prozedur nur unnötig in die Länge.“ Er schüttelte abermals den Kopf, rückte seine Brille zurecht und ging mit durchgedrücktem Rücken den Gang hinunter.

Nicholas seufzte. So etwas hatte er erwartet. Doch sie schadete sich selbst damit am meisten, denn wenn der Psychologe auch nach weiteren Sitzungen keine Erkenntnisse über sie bekam, würde seine Beurteilung sehr einfach ausfallen. „Sie tun weder Brian noch dem Psychologen einen Gefallen, wenn Sie mit ihnen reden“, erklärte Nicholas, sobald er ihre Tür geöffnet hatte. Langsam durchquerte er das Zimmer und blieb am Ende ihres Bettes stehen. „Selbst wenn Sie sich Wochen und Monate gegen alle Menschen auflehnen, die ihnen helfen möchten, denken Sie ernsthaft, Brian würde Sie in der Psychiatrie zurücklassen?“

Mit verschränkten Armen saß Joan aufrecht im Bett und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Sie haben einen schicken Kittel. Bekommt heutzutage jeder so einen am Eingang?“

Nicholas lächelte in sich hinein. „Ja und manche Leute haben das Glück, dass ihnen die Arme am Rücken zusammengebunden werden.“

„Und sie bekommen ein riesiges Pflaster über den Mund?“, fragte sie euphorisch.

„Nur bei guter Führung.“ Wir werden sehen, wer dieses Spiel länger von uns durchhält, dachte Nicholas.

„Welch ein Glück! Können Sie mir einen Gefallen tun und mich dorthin verlegen lassen?“ Ihr flehendes Lächeln war wunderschön. „Und dann entfernen Sie die Stimmen aus meinem Kopf“, sagte Joan und griff sich mit beiden Händen an ihren Kopf.

Nicholas setzte sich neben ihr Bett auf den Hocker. „Welche Stimmen?“ Sie reagierte nicht, schloss die Augen und presste die Hände gegen ihren Kopf. „Joan? Erzählen Sie mir von den Stimmen.“

„Sie quälen mich... Tag und Nacht... Die Dämonen in meinem Kopf.“

„Was sagen ihnen die Stimmen?“

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein!“

„Kommen Sie, Joan“, bat er sie einfühlsam. „Was sagen ihnen die Stimmen?“

„Dass es meine Schuld ist.“

„Was ist ihre Schuld, Joan?“, fragte er behutsam.

„Nein...“, flüsterte sie, als sie Andrews Gesicht vor sich sah. Mit schmerzerfülltem Blick sah sie durch Nicholas hindurch.

„Joan?“, drang seine Stimme zu ihr durch.

„Nein... lassen Sie mich allein“, schluchzte sie und vergrub ihren Kopf zwischen den angewinkelten Beinen und ihrer Brust.

„Joan?“ Sanft berührte er ihren Arm. Erschrocken wich sie vor ihm zurück.

„Gehen Sie!“, fuhr sie ihn aufgebracht an.

Nicholas nickte und stand von dem Hocker auf. „In Ordnung, ich lasse Sie allein. Wir reden ein anderes Mal weiter.“

„Nein, Sie sollen nicht wiederkommen!“

„Aber genau das werde ich tun.“

„Warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe?“, fragte sie mit tränenverschleiertem Blick. Sie wollte, dass er ging und nie wieder kam.

„Und Sie aufgeben?“ Er betrachtete sie eingehend und entschied, dass es sich lohnte, sie immer wieder zu besuchen. „Das ist nicht meine Art. Tut mir leid.“ Nicholas wandte ihr den Rücken zu und verließ geradewegs das Zimmer. Einen Moment blieb er vor der geschlossenen Tür stehen, dann ging er kopfschüttelnd den Gang hinunter zum Fahrstuhl.

Am selben Abend traf Nicholas sich in der Cafeteria des Krankenhauses mit Rachel und Brian. In seinem weißen Kittel kam er zu ihnen an den Tisch und begrüßte Rachel mit einem Kuss auf die Wange.

„Was sagt der Psychologe?“, kam Brian gleich zur Sache.

„Nicht viel. Joan hat ihn rausgeworfen“, antwortete Nicholas und trank einen Schluck seines Kaffees, den seine Freunde für ihn mitbestellt hatten.

„Was geschieht, wenn sie nicht mit dem Psychologen spricht?“

„Kooperiert sie nicht mit ihm, dann weist er sie zur Weiterbetreuung in eine psychiatrische Klinik ein.“ Er sah zwischen seinen Freunden hin und her, die einander an den Händen hielten. „Ich habe vorhin mit Joan gesprochen.“

„Was meinst du damit, du hast mit ihr gesprochen?“, fragte Brian irritiert, da seine Schwester bisher jeden von sich weggestoßen hatte.

„Sie erzählte mir von Stimmen in ihrem Kopf.“

„Stimmen?“ Brian schüttelte den Kopf. „Oh nein, sie hört keine Stimmen. Sie ist nicht wahnsinnig!“

„Ich glaube nicht, dass sie wahnsinnig ist“, sagte Nicholas.

Brian sah ihn überrascht an. „Nein?“

„Sie braucht fremde Hilfe und etwas Zeit. Deine Schwester leidet unter schweren Schuldgefühlen und soweit ich das nach unserem kurzen Gespräch beurteilen kann, hat sie das Vertrauen zu anderen Menschen verloren“, erklärte Nicholas und bemerkte, wie sich Brian und Rachel einen vielsagenden Blick zuwarfen. Er wünschte, wenigstens sie würden mit ihm über den Grund des Suizidversuches sprechen. Gerade als er das Thema erneut ansprechen wollte, ertönte sein Piepser. „Entschuldigt mich einen Moment.“ Er ging zum Tresen der Cafeteria, wo er sich von der Bedienung das Telefon reichen ließ und eilig die vierstellige Durchwahlnummer vom Schwesternzimmer der Onkologie eingab. Gleich darauf kehrte er an ihren Tisch zurück. „Ich werde auf Station benötigt. Wir reden morgen in Ruhe weiter, okay?“

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