Read the book: «Sie träumte von Liebe», page 2

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„Ich hoffe, du hast Recht...“

Matthew nickte und umschloss ihre Hand mit der seinen. Er wusste, wie sehr sie die Ankunft im Krankenhaus herbeisehnte. Seit Brians Anruf herrschte eine angespannte Stimmung zwischen ihnen, da Isabelle noch am selben Tag nach L. A. hatte fliegen wollen, Matthew jedoch aufgrund wichtiger Firmenverhandlungen verhindert gewesen war. So hatte Matthew ihren Flug um einen Tag verschoben. Obwohl er diesbezüglich keine andere Wahl gehabt hatte, waren seine Gedanken beinahe ununterbrochen bei Joan gewesen. Ebenso wie Isabelle sorgte Matthew sich um das Leben seiner einzigen Tochter. Gleich nach Brians Anruf hatte er im Schwesternzimmer des Krankenhauses angerufen und die Krankenschwestern angewiesen, ihn stündlich einmal telefonisch über Joans Zustand zu unterrichten.

Schwester Claire verließ mit dem neuen Verbandsmaterial gerade das Schwesternzimmer, als ihr zwei unbekannte Gesichter am Ende des Ganges entgegengelaufen kamen. Sie schätzte den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann auf Ende Vierzig. Selbst in diesem Moment, in seiner wachsenden Sorge um einen nahen Angehörigen, sah er für sein Alter noch ungeheuer attraktiv aus; wobei sein volles, schwarzes Haar nur das I-Tüpfelchen war. Beim näher kommen sah sie, dass er einen perfekt geschnittenen schwarzen Anzug trug, der dazugehörige lange, schwarze Wintermantel hing über seinem linken Arm. An seinem anderen Arm hatte sich eine etwas kleinere Frau untergeharkt. Auch ihr sah man sofort an, dass sie nicht mit ihrem Geld sparen musste. Ihr weinrotes Kostüm war schlicht, doch allen Anschein nach nicht sehr preisgünstig gewesen. Es passte hervorragend zu ihren kurzen, braunen Haaren und rundete ihren sanftmütigen Körper ab, der über den Gang zu schweben schien. In ihrem ganzen Wesen strahlte die fremde Frau eine vertrauenswürdige, sehr warmherzige Aura aus. Sie gehörte eindeutig zu den wenigen Menschen auf dieser Welt, die man auf Anhieb sympathisch fand.

„Mr. und Mrs. Farley?“, fragte Schwester Claire, als sie einander gegenüberstanden und sah Matthew darauf kurz nicken.

„Wie geht es unserer Tochter?“, fragte er die Schwester. In seinem Blick lag etwas Seltsames, etwas, das ganz und gar nicht zu seinem Erscheinungsbild passte: Furcht. Es war der sorgenvolle Blick eines Vaters.

„Unverändert. Sie liegt auf der Intensivstation. Ich bringe Sie hin“

Schweigend folgten sie Schwester Claire den Gang hinunter zur Intensivstation. In einem Durchgangszimmer erhielten sie die grüne Schutzkleidung, dann wurden sie an geschlossenen Türen mit Glasfenstern vorbeigeführt, hinter denen die Patienten lagen. Schließlich blieb die Schwester vor einer der Türen stehen. Als Matthew und Isabelle durch die Glasscheibe ins Zimmer blickten und ihre Tochter auf dem Krankenbett inmitten der Geräte und Schläuche sahen, erschraken sie zutiefst. Die zitternde Hand vor dem Mund sah Isabelle zu ihrem Sohn auf, der am Bett saß und die Hand seiner Schwester hielt. Rachel stand etwas abseits mit dem Rücken zu ihnen am Fenster.

Schwester Claire spürte ihr zögern und ließ sie gewähren. Wenn sie sich an den Anblick gewöhnt hatten, würden sie von selbst ins Zimmer ihrer Tochter gehen. Leise öffnete Schwester Claire die Tür und trat ans Bett ihrer Patientin, um die Monitore zu überprüfen. Diesen Kontrollgang wiederholten die Schwestern alle fünf Minuten. Falls sich in der Zwischenzeit ihr Zustand veränderte, würden die Geräte sofort Alarm schlagen.

Als die Schwester das Thermometer in die Hand nahm, um Joans Temperatur abzulesen, hob Brian den Kopf und sah sie fragend an. „Es ist ein wenig gesunken“, sagte sie lächelnd und schrieb eine kurze Notiz in die Akte. Dann legte sie zwei der mitgebrachten, weißen Mullbinden auf den kleinen Tisch neben dem Bett und nahm die übrigen mit, ehe sie das Zimmer wieder verließ.

„Ich hole mir einen Kaffee. Soll ich dir eine Tasse mitbringen?“, fragte Brian seine Freundin und erhob sich von seinem Stuhl.

„Das kann ich doch machen“, erwiderte Rachel und drehte sich zu ihm um. „Bleib’ du bei...“ Sie verstummte, als sie Brians Eltern in der Tür stehen sah.

Augenblicklich wandte Brian sich um. „Mom!... Dad!“ Erleichterung stand in seinem Gesicht geschrieben. Er war froh, seine Eltern endlich in L. A. zu wissen. Hier bei ihrer Tochter, die noch immer nicht über den Berg war.

„Mom...“ Mit einer langen Umarmung begrüßte er seine Mutter, der Tränen in den Augen standen, und umarmte Matthew mit einem Schulterklopfen. „Schön, dass ihr da seid“, sagte Brian und trat näher ans Fenster, damit Rachel mit einer Umarmung und einem sachten Kuss auf die Wange seine Eltern ebenfalls begrüßen konnte.

Isabelle trat ans Bett und strich mit zittrigen Fingern über das leblose, vom Unfall gezeichnete Gesicht ihrer Tochter. Matthew stand neben seiner Frau und berührte Joans Hand.

„Die Schwester sagte, ihr Zustand sei unverändert“, kam es Matthew leise über die Lippen.

Brian nickte zustimmend. „Sie liegt noch immer im Koma.“

„Hast du mit dem Arzt sprechen können?“

„Dr. Cooper sagte, wir müssen abwarten, wie sie die nächsten Tage übersteht. Es ist ungewiss, wann sie aufwachen wird.“ Über Einzelheiten des Gesprächs mit Dr. Cooper hatte Brian seine Eltern am Telefon noch nicht aufgeklärt.

„Wird sie durchkommen?“, fragte Isabelle schluchzend.

Brian tat der kummervolle Blick seiner Mutter im Herzen weh. „Ihr Zustand ist kritisch. In der Nacht hatte sie hohes Fieber.“ Bemüht seine Fassung nicht zu verlieren, wandte Brian seinen Eltern den Rücken zu. „Ich weiß es nicht, Mom...“, sagte er mit feuchten Augen und blickte aus dem Fenster.

„Ich möchte mit dem Arzt sprechen. Ist er noch im Haus?“, wollte Matthew von seinem Sohn wissen.

Brian drehte sich zu seinem Vater um. „Soweit mir bekannt ist, ja.“ Doch er klärte ihn darüber auf, dass Dr. Coopers Zeit zumeist knapp bemessen war.

„Nun, er wird sich für mich Zeit nehmen müssen“, sagte Matthew mit bestimmter Stimme, da er nicht vorhatte, sich mit wenigen Worten abspeisen zu lassen.

„Wisst... wisst ihr schon, wie der Unfall geschehen ist“, fragte Isabelle, während sie sich die Augen mit einem Taschentuch trocken tupfte.

„Wir haben vorhin mit der Polizei gesprochen“, begann Brian. „Der Fahrer des anderen Wagens war betrunken und hat wohl immer wieder die Fahrspur gewechselt. Sie hatten keine Chance...“

Sie?“, fragte Matthew verwundert.

„Joan und Steve.“

„Steve war bei ihr im Auto?“

Brian nickte. „Die Polizisten sagten, dass er nur Sekunden zum Reagieren gehabt hätte, ehe die beiden Autos frontal aufeinander fuhren.“

„Ist er schwer verletzt?“, fragte Isabelle und bemerkte den merkwürdigenden Blick ihres Sohnes, den er mit Rachel wechselte. „Brian, wie schlimm ist es?“

„Mom“, sagte Brian leise und sah den leblosen Körper seines Freundes wieder vor sich, als er sich im Krankenhaus von ihm verabschiedet hatte. „Steve hat den Unfall nicht überlebt.“

Isabelle schloss die tränenverschleierten Augen. Unbewusst verstärkte sie den Druck auf Joans Hand, so als wollte sie ihr Kraft geben. Da spürte sie Matthews Hand auf ihrer Schulter.

Steves Verlust traf sie völlig unvorbereitet. Erst Weihnachten hatte sich die Familie, einschließlich Rachel und Steve, in New York getroffen, um die Feiertage miteinander zu verbringen. Trotz anfänglicher Abneigungen gegen die Wahl ihrer Tochter hatten Isabelle und Matthew Steve im vergangenen Jahr besser kennen gelernt und nach kurzer Zeit verstanden, warum Joan diese Wahl getroffen hatte. Steve war so ganz anders als die Männer, die sie aus New York kannte. Er lebte ein freies Leben; ein Leben, das Joan sehr schnell zu lieben lernte. Wann immer es Steves Zeit erlaubte, traf er sich mit seinen vielen Freunden oder ging abends auf deren Partys, doch dabei hatte er niemals sein Ziel, sein Medizinstudium bestmöglichst zu beenden, aus den Augen verloren. Steve, dessen Eltern ihr Leben lang für wenig Geld schwer gearbeitet hatten, kannte viele harte Seiten des Lebens und hatte sich geschworen in allen Dingen sein Bestes zu geben. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren genoss er wie kein anderer Freund von Joan den Respekt, die Achtung und das Vertrauen von Matthew Farley. Matthew hatte Steve freundlich in die Familie aufgenommen und mit der Zeit war er zum Schwiegersohn in spe geworden.

Nachdem sie den ersten Schock über Steves Tod verkraftet hatten, ließen Matthew und Isabelle ihre Tochter ein letztes Mal in Brians Obhut, um mit dem behandelnden Arzt zu sprechen. Dr. Cooper war jedoch nicht gewillt seine Zeit mit den immergleichen Fragen einer Familie totzuschlagen. Gehetzt schüttelte er Matthew und Isabelle die Hand und informierte sie mit knappen Worten über Joans Zustand. Daraufhin wollte er sich von ihnen verabschieden, aber er hatte nicht mit einem Mann wie Matthew Farley gerechnet. Einem Mann, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte. Unter Geschäftsleuten galt Joans Vater als taktischer Mann, der seine Geschäfte mit viel Scharfsinn abschloss. In diesen Minuten war es jedoch die Angst in seiner Stimme, die Dr. Coopers eigentliches Vorhaben änderte.

Wie Brian einen Tag zuvor, klärte der Arzt Matthew und Isabelle ausführlich über die schweren inneren Verletzungen und den bedenklichen Zustand ihrer Tochter auf. Des Weiteren erläuterte Dr. Cooper die möglichen Folgen des Komas, hielt aber von Spekulationen abstand, die die Verfassung seiner Patientin betraf, wenn sie aufwachen sollte. Der Hoffnungsschimmer, das dies trotz Joans schlechter allgemeiner Verfassung eintrat, war schwindend gering, doch es war das Einzige, woran sie sich in diesen Stunden klammerten.

Tagelang sah Brian zu, wie Joan um ihr Leben kämpfte. Das Fieber stieg und fiel im Wechselschritt, sodass niemand mehr eine Prognose über ihre Chancen stellen wollte. „Es liegt in Gottes Hand“, hatte die afroamerikanische Krankenschwester zu Brian gesagt und zum ersten Mal in seinem Leben bereute er, dass es ihm an Gottesvertrauen fehlte.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt einen Angehörigen gesehen habe, der Tag und Nacht am Bett einer Komapatientin gewacht hat“, sagte Schwester Claire betrübt zu ihrer Kollegin, als sie im Beobachtungsraum standen und durch die Glasfront Brian Farley am Bett seiner Schwester sitzen sahen. „Noch dazu mit solch einem Job. Ich hörte, er sei die rechte Hand des Filialleiters von Farleys in L.A. und anscheinend gefällt es einigen Leuten nicht, dass er hier ist.“

Schwester Betty zuckte mit den Schultern. „Der PR wegen wird er es nicht tun. Seit sie bei uns ist, hat sich kein Fotograf blicken lassen.“

„Ich glaube, dafür hat er gesorgt...“

Während die Krankenschwestern gegenüber Matthew und Isabelle zumeist reserviert auftraten, waren sie zu Brian und Rachel äußerst freundlich. Die beiden Schwestern, die sich um Joan kümmerten, hatten ihnen angeboten, sich jederzeit Kaffee oder Tee aus dem Schwesternzimmer zu nehmen.

Auch nach einer Woche hatte sich Joans Zustand nicht verändert. Ihre Werte hatten sich laut Dr. Cooper zwar stabilisiert, doch sie war noch immer nicht aus dem Koma erwacht. Wie der Arzt verlauten ließ, bestand weiterhin Grund zur Hoffnung, da Joan eine Woche nach dem Unfall noch immer lebte. Das Koma war eine Schutzmaßnahme des Körpers, um zu genesen. Je nach schwere der Verletzungen konnte ein Mensch über Wochen, Monate oder gar Jahre im Koma liegen. Niemand konnte voraussagen, wie lange dieser Zustand bei Joan andauern würde.

Brian, der sich in der Vergangenheit schwer in Geduld geübt hatte, saß stundenlang am Bett seiner Schwester und dachte über das Leben nach. Er hielt Joans Hand und redete mit ihr, ungeachtet dessen, ob sich eine der Schwestern im Raum befand oder sie allein waren.

„Manchmal würde ich gern die Zeit zurückdrehen. Wir hatten früher soviel Spaß miteinander.“ Brian seufzte leise und stützte die Ellenbogen auf dem Bett ab. Den Kopf lehnte er müde dagegen. Er schwieg einige Minuten und lauschte dem leisen Piepsen, das von einem der Geräte herführte. Ansonsten war es im Zimmer still. „Erinnerst du dich...“, begann er schließlich leise. „...wie wir Mom und Dad als Kinder zu Weihnachten erschreckt haben, als über Nacht plötzlich die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum verschwunden waren? Sie dachten, es wären Einbrecher gewesen, dabei hatten wir die Geschenke versteckt.“ In Erinnerung an jenes Weihnachtsfest aus seiner Kindheit musste Brian lächeln. „Sie haben nie wieder die Geschenke einen Tag vor Weihnachten unter den Baum gelegt.“ Er griff nach dem kleinen Behältnis mit Wasser auf dem Nachtschrank und tupfte Joan mit dem nassen Wattebausch die trockenen Lippen feucht.

„Mr. Farley, wollen Sie nicht nach Hause fahren? Es ist bereits nach Mitternacht“, sagte Schwester Claire bei ihrem nächsten Kontrollgang zu Brian.

„Nein... Ich möchte sie die Nächte über nicht alleine lassen“, antwortete Brian wie jeden Abend der vergangenen sieben Tage.

Voller Verständnis sah Claire ihn an. „Ich weiß, ich kann Sie nicht zum Gehen überreden. Aber dann lassen Sie mich wenigstens eines sagen“, bat sie ihn. „Ich finde es toll, dass Sie sich so um Ihre Schwester kümmern.“

„Wir sind Seelenverwandte. Sobald einer von uns leidet, leidet der andere mit ihm.“ Man sah ihm seinen Kummer in den traurigen Augen an. Die Sorge um seine Schwester beschäftigte ihn rund um die Uhr, sodass er nachts nur wenige Stunden Schlaf fand.

„Es gibt nicht viele Angehörige wie Sie...“

Vorsichtig hob er Joans Hand, in der eine Kanüle steckte, und führte sie dicht an seinen Mund hinauf. Liebevoll küsste er ihre Finger. „Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann. Bei ihr sitzen und mit ihr sprechen...“

„Es ist mehr, als die meisten Menschen in Ihrer Situation tun würden. Viele kehren in ihr eigenes Leben zurück und erinnern sich erst sehr viel später wieder an den Angehörigen“, sagte sie betrübt.

„Das ist nicht meine Art“, erwiderte Brian traurig. Niemals könnte er seine Schwester im Krankenhaus allein zurücklassen, um sein altes Leben fortzuführen. Es wäre, als würde er sie im Stich lassen, als würde er nicht mehr an ihre Genesung glauben. Er konnte sie nicht einfach so aus seinem Leben streichen, sie und ihren Zustand ignorieren und dann plötzlich wieder auftauchen, wenn sie zu sich gekommen war. Eines stand für ihn fest: Egal, wie lange Joan im Koma liegen mochte, niemand, absolut niemand würde ihn von seinen täglichen Besuchen bei ihr abhalten können.

Dennoch war ihm bewusst, dass es nicht so weiterging. Seit einer Woche saß er Tag und Nacht an Joans Bett und hatte das Krankenhaus nur verlassen, um heimzufahren, zu duschen und sich frische Kleidung anzuziehen. Außer Joan gab es für ihn nichts. Rachel beschwerte sich wegen seiner knapp bemessenen Zeit nie bei ihm, aber Brian spürte, dass sie seine nächtlichen Aufenthalte im Krankenhaus nicht mehr gern sah. Sie wollte ihn eine zeitlang für sich allein haben, selbst wenn es nur eine Stunde am Tag war.

Neben der Vernachlässigung seiner Freundin, musste Brian sich dazu zwingen an seine Verpflichtungen bei Farleys zu denken. Er konnte seinem Vorgesetzten nicht ewig mit seiner Rückkehr ins Geschäft hinhalten. Auch wenn ihm eines Tages zur Hälfte das Modehaus Farleys gehören würde, so war er wie jeder andere Mitarbeiter angestellt und konnte seinen Job verlieren.

Während Brian darüber nachdachte, wie er seine zeitaufreibende Arbeit, Rachel und die Besuche bei seiner Schwester unter einen Hut bekommen sollte, legte er den Kopf auf seinen verschränkten Armen auf die Bettdecke. In seiner Grübelei versunken, schloss er die Augen und schlief bald darauf ein.

Am Morgen darauf brach auf der Intensivstation das gewohnte Treiben aus. Inmitten des Trubels schlief Brian mit dem Oberkörper auf dem Bett. In der Nacht hatte Schwester Claire ihn schlafend vorgefunden und ihm eine Decke über den Körper gehangen.

Bei ihrem routinemäßigen Rundgang betrat Schwester Betty Joans Zimmer und wechselte leise die Infusion aus, als plötzlich lautes Piepsen den Raum erfüllte. Augenblicklich schrak Brian aus seinem Schlaf hoch und sah mit angstvoller Miene zu Joan hinüber.

„Es ist alles in Ordnung, Mr. Farley“, beruhigte die Schwester ihn sofort. „Ich habe nur die Infusion gewechselt. Tut mir leid, dass ich Sie dadurch geweckt habe.“

Müde fuhr Brian sich mit den Händen übers Gesicht. „Wie geht es ihr?“, fragte er, als die Schwester die Geräte überprüfte.

„Unverändert.“ Sie beobachtete, wie Brian sich über Joans Gesicht beugte und ihr zur morgendlichen Begrüßung einen sanften Kuss auf die Stirn gab. „Ihre Verletzungen brauchen Zeit, um zu heilen. Haben Sie Geduld mit Ihrer Schwester.“

„Geduld war bisher nicht seine Stärke“, sagte Rachel lächelnd, die soeben ins Zimmer getreten war. „Hallo Liebling“, begrüßte sie Brian mit einem zärtlichen Kuss auf den Mund, während Schwester Betty sich aus dem Zimmer zurückzog.

„Schatz, hallo. Was machst du denn so früh hier?“, fragte er verwundert.

„Mein Termin wurde abgesagt. Ich dachte, du freust dich vielleicht.“

„Das tue ich, entschuldige.“ Er lächelte und stand von dem Stuhl auf. „Setz dich und sag Joan hallo.“

„Brian... ich kann das nicht“, sagte sie zögernd.

„Was meinst du?“

„Ich bin nicht wie du. Ich kann mich nicht stundenlang an ihr Bett setzen und zu ihr sprechen. Trotz alledem was die Ärzte gesagt haben, ich glaube nicht, dass sie uns hören kann.“

„Du hältst meine Gespräche also für sinnlos?“, fragte er verletzt.

„Liebling, nein... So habe ich das nicht gemeint.“ Sie stockte, wählte ihre Worte mit Bedacht. „Wenn du davon überzeugt bist, dass deine Stimme sie zu uns zurück bringen kann, dann sprich mit ihr. Bereue es nicht später.“

„Hältst du mich für verrückt, weil ich ihr immerzu etwas erzähle?“, fragte Brian ernst.

„Im Gegenteil. Ich bewundere dich dafür.“ Zärtlichkeit lag in ihrer Stimme. „Ich bewundere deinen Optimismus, deine Hoffnung...“ Tränen stiegen in ihre Augen. „Ich würde alles dafür geben, wenn ich dasselbe empfinden könnte, aber schau sie dir an“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme und sah zu Joan hinunter, deren Körper nach wie vor durch Schläuche mit den Geräten verbunden war. „Ohne das alles wäre sie doch längst nicht mehr bei uns...“

„Sag so etwas nicht, Rachel“, bat er mit brüchiger Stimme, worauf sie zu ihm aufblickte und in seinem Gesicht ihre eigene Verzweiflung wiedererkannte. Er trat zu ihr und zog sie wortlos in seine Arme. Minutenlang hielten sie sich mit den Armen umschlossen.

„Jetzt heule ich schon am frühen Morgen“, sagte Rachel schließlich lächelnd und schniefte in ein Taschentuch.

Brian lächelte schwach und fuhr ihr sanft über den Arm. „Kann ich etwas für dich tun?“ Erst in Rachels Armen war ihm wieder bewusst geworden, dass er in den vergangenen sieben Tagen kaum an sie gedacht hatte, so sehr war er mit Joan beschäftigt gewesen.

„Vielleicht könntest du heute Nacht in unserem Bett schlafen.“ Sie spürte, wie Brian einen Moment lang zögerte.

„Okay.“ Zärtlich küsste er ihre Stirn.

„Danke“, hauchte sie an seiner Wange. „Ich gehe mich frisch machen. Kann ich dir etwas mitbringen? Einen Kaffee vielleicht?“

„Sehr gern.“

Eine Viertelstunde später kehrte Rachel an die Tür zu Joans Zimmer zurück und klopfte gegen die Glasscheibe, damit Brian hinauskam.

„Mhm, der tut gut“, sagte Brian nach dem ersten Schluck entspannter. „Wie geht es deinen Kindern?“, fragte er Rachel, die als Psychologin in einem Heim in Los Angeles arbeitete, das sich um misshandelte und missbrauchte Kinder und Frauen kümmerte. Vor eineinhalb Jahren war sie zur Leiterin des Heims ernannt worden und somit für die Organisation von Präsentationen und Ausstellungen sowie für die Suche nach neuen Spendern zuständig. Die Organisation „Hilfe für Kinder in Not“ hatte in allen größeren Städten von Amerika ihre Einrichtungen, in Los Angeles führten die einzelnen Fäden zusammen. Ein Team um Rachel herum verwaltete die Spendengelder und prüfte, wo diese am Dringendsten benötigt wurden.

„Ich glaube, besser als dir“, sagte Rachel ehrlich, da ihr die dunklen Ringe unter seinen Augen Sorgen machten. „Ich muss dich für einige Tage allein lassen. Wir haben eine Schenkung für San Fransisco erhalten. Der Spender ist Schauspieler und möchte die Übergabe mit Presse und Fernsehen abwickeln.“

„Eine nette Geste mit persönlichen Hintergedanken“, sagte Brian spitz.

„Brian, wir sind für jeden Dollar dankbar und nicht alle Spender wollen so geheimnisvoll wie Farleys behandelt werden.“

„Mein Vater rühmt sich eben nicht gern mit seinem Geld. Für ihn sind andere Qualitäten wichtiger.“

„Und deshalb mag ich ihn“, sagte Rachel lächelnd. „Um auf meine Reise zurückzukommen. Ich hatte vor im Anschluss an San Fransisco nach Washington zu fliegen, um mir den Umbau des Hauses anzuschauen und mit den Bauleuten zu sprechen. Meinst du, du kommst solange ohne mich zurecht?“ Sie hatte Verpflichtungen, aber in diesen Tagen ließ sie Brian nur ungern allein. Wenn sie nicht da war, würde er ununterbrochen an Joans Bett sitzen und kaum etwas zu sich nehmen.

„Ich komme klar. Wann fliegst du?“, fragte er, den Blick durch die Glasscheibe auf seine Schwester gerichtet.

„Dieses Wochenende.“ Das war in drei Tagen.

Brian trank den Rest seines Kaffees und warf den Becher in den Mülleimer neben ihm.

„Liebling, vielleicht solltest du dich nachher im Geschäft melden...“, begann Rachel vorsichtig, da sie wusste, was er davon hielt. „Brenda rief mich heute Morgen an und gesagt, dass einige wichtige Termine anstehen, die du unbedingt wahrnehmen müsstest.“

„Sie ist meine Sekretärin. Sie sollte sie umlegen können...“

„Brian, sie kann nicht alles...“

„Ich weiß, Schatz“, unterbrach er Rachel und wandte den Blick von Joan ab. Liebevoll legte er seine Hände an ihre Hüfte und sah sie sanft an. „Es tut mir Leid, Liebling. Ich weiß, ich war in den vergangenen Tagen schwer zu ertragen.“

„Du sorgst dich um Joan, das ist doch verständlich.“

„Aber beinahe hätte ich dich dabei vergessen.“ Seine Hände fuhren ihren Rücken hinauf, sein Gesicht kam dem ihren näher und dann küsste er sie zärtlich. „Ich liebe dich, Rachel.“

„Ich liebe dich auch“, flüsterte sie und genoss den Moment der Zweisamkeit. Dann löste sie sich ein wenig von ihm und sah mit betrübtem Blick zu Joan hinüber. „Mach’ dir nicht so viele Sorgen um sie. Die Ärzte tun ihr Möglichstes, damit sie wieder zu uns zurückkehrt.“

„Ich frage mich die ganze Zeit, was dann sein wird“, sagte Brian unsicher. Ebenso wie er sich darauf freute, dass seine Schwester aufwachte, so hatte er auch Angst davor. Bisher war es ihm relativ gut gelungen die Gedanken an mögliche Lähmungen, Gedächtnisbeeinträchtigungen oder Veränderungen ihres Gehirns nicht an sich heranzulassen, aber von Tag zu Tag wurden gerade diese Auswirkungen des Komas immer wahrscheinlicher. Wenn Joan aufwachte und feststellte, dass sie gelähmt war... Wenn sie ganz einfache Dinge, wie essen, schreiben oder den Gang zur Toilette neu erlernen musste. Wenn sie sich nicht mehr an ihre Familie und Freunde erinnerte. Vielleicht nie wieder mit ihm lachte. Er wollte nicht darüber nachdenken. Es schmerzte zu sehr.

Mitte Januar fand der Trauergottesdienst für Steve in einer kleinen, unscheinbaren Kirche in L. A. statt. Als Brian, in seinen schwarzen Mantel gehüllt, nach seinen Eltern und Rachel in die Kirche getreten war, sah er bekümmert den braunen Sarg auf dem kleinen Altar stehen. Sein Blick glitt zu dem großen Foto davor, auf dem Steve ihnen lächelnd entgegensah. Brians Kehle verengte sich. Unwillkürlich musste er an Joan denken. Falls sie je aus dem Koma erwachte, würde sie nie die Chance bekommen sich von Steve zu verabschieden. Bemüht nicht an den möglichen Tod seiner Schwester zu denken, folgte Brian seinen Eltern und setzte sich neben Rachel in die zweite Reihe.

Alle Freunde von Steve waren gekommen. Sie saßen schweigend und unter Tränen auf den Bänken hinter den Verwandten, hielten einander an den Händen und reichten sich gegenseitig Taschentücher. Ihren jungen Gesichtern war der Verlust des Freundes anzusehen.

Vom Schmerz gezeichnet kamen Steves Eltern den Gang entlang. Mr. Baxter stützte seine Frau, als sie langsam durch die Kirche gingen und ihre Plätze in der ersten Reihe einnahmen. Voller Trauer um ihren Sohn weinte Mrs. Baxter während des gesamten Gottesdienstes. Jeder der Anwesenden hörte ihr lautes Schluchzen. Tröstend hatte ihr Mann einen Arm um sie gelegt, doch an seiner Haltung sah man, wie schwer es auch ihm fiel, seinen Sohn in dem Sarg vor ihnen liegen zu sehen. Der Tod seines einzigen Kindes traf ihn völlig unerwartet. Niemals hatte er geglaubt, dass sein Sohn vor ihnen die Welt verlassen würde.

Nachdem die letzten Töne von „Amazing Grace“ verklungen waren, wurden alle zum Altar gebeten, um von Steve Abschied zu nehmen. Nacheinander traten Steves Freunde vor, viele von ihnen weinten. Während sie ihre Blumen auf seinen Sarg legten, hörte man einige leise sagen: „Ich werde dich vermissen.“ oder „Du warst ein guter Kumpel.“ Bedrückt und mit gesengten Köpfen verließen sie die Kirche.

Schließlich standen Matthew und Isabelle auf und legten einen großen Strauß weißer Rosen zu den übrigen Blumen. Unter Tränen berührte Isabelle den Sarg und ließ sich von Matthew aus der Kirche führen. Sie hatten den Freund ihrer Tochter sehr gemocht und litten unter seinem tragischen Tod. In naher Zukunft wäre Steve ihr Schwiegersohn geworden.

„Joan hat dich sehr geliebt“, sagte Brian leise und blickte auf den mit Blumen bedeckten Sarg, indem sein Freund lag. „Egal, wo du bist, Steve... versprich mir, dass du sie nicht zu dir holst.“ Brian schloss einen Augenblick lang die Augen. Einzelne Tränen rannten über seine Wange. Als er die Augen wieder öffnete, spürte er Rachel dicht neben sich stehen. Er umschloss ihre Hand mit der seinen und wandte sich vom Altar ab. Seinen Arm um Rachels Hüfte gelegt, liefen sie schweigend den Gang entlang und traten hinaus an die frische Januarluft. Ein leichter Wind wehte über sie hinweg.

Am Rande des Parkplatzes erkannte Brian eine Gruppe junger Leute, die zuvor beim Gottesdienst gewesen waren. Manche rauchten eine Zigarette, während sie sich angeregt unterhielten. Worüber sie sprachen konnte Brian nicht verstehen, aber er vermutete richtig, dass Steve im Mittelpunkt stand. Vermutlich erzählten sie einander von ihren Erlebnissen mit ihm. Da er allgemein beliebt und für jeden Spaß zu haben gewesen war, gab es wahrscheinlich jede Menge zu erzählen.

Brian hätte sich gern zu der kleinen Gruppe gesellt, um seine Geschichten über Steve auszuplaudern und ihn so in Erinnerung zu behalten, doch Mr. und Mrs. Baxters luden sie in ein ruhig gelegenes Restaurant ganz in der Nähe des Friedhofes ein. Bei Tisch wurde kaum ein Wort gewechselt. Es gab kein passendes Thema, dazu war die Stimmung zu gedrückt.

Vom Restaurant aus fuhren Isabelle, Matthew und Brian ins Krankenhaus, um nochmals nach Joan zu sehen. Bekümmert saß Isabelle am Bett ihrer Tochter und betrachtete sie mit Tränen in den Augen. Der Besuch im Krankenhaus fiel ihr an diesem traurigen Tag besonders schwer. Sie fühlte mit Mrs. Baxter und trauerte um Steve, den sie sehr lieb gewonnen hatte.

Matthew dagegen machte die lange Warterei wahnsinnig. Er konnte nicht länger zusehen, wie seine Tochter leblos im Bett lag und darauf warten, dass sich ihr Zustand veränderte. Er wollte etwas tun. Er wollte seiner Tochter helfen. Diese sinnlose Warterei brachte ihn zum Nachdenken und je mehr er grübelte, desto schmerzhafter wurden seine Gedanken. Immer wieder stürzten dieselben Fragen auf ihn ein: Wie lange würde sie wohl noch im Koma liegen? Würde er seine Tochter ebenfalls zu Grabe tragen müssen oder hatte sie Glück und überlebte ihren schweren Unfall? Doch wenn sie überlebte, in welchem Zustand befand sie sich dann? Wie sähe ihr Leben dann aus? Gedächtnisverlust? Lähmungen? Würde sie zum Pflegefall werden? Die Reihe der unbeantworteten Fragen war endlos und ließ Matthew kaum zur Ruhe kommen. Die Grübelei ließ ihn immer verzweifelter werden.

Sichtlich unwohl ging Matthew durch den Raum zu seinem Sohn, der am Fenster stand, und legte die Hand auf dessen Schulter. „Begleitest du mich in den Park?“, bat er seinen Sohn, der darauf nickte. „Wir bleiben nicht lange, Liebling“, sagte Matthew zu seiner Frau, berührte sachte ihre Hand und folgte dann Brian auf den Gang hinaus. Schweigsam verließen sie nebeneinander die Intensivstation und gingen die Gänge des Krankenhauses entlang. Am Hinterausgang traten sie durch die doppelseitige Glastür hinaus ins Freie und folgten langsam den Sandwegen des kleinen Parks.

Es war Brian, der nach einer Weile zu erzählen begann. „Gestern Abend habe ich Joan Geschichten aus unserer Kindheit erzählt. Wir hatten soviel Spaß miteinander. Ich erinnere mich an ihr frohes Lachen, an ihre leuchtend, blauen Augen.“

Matthew lächelte. Genau diese blauen Augen waren jedes New Yorker Weihnachtsfest riesengroß geworden. Neugierig hatte sein kleines Mädchen ihre Geschenke ausgepackt. Ihre Augen hatten zu leuchten begonnen, wenn sie eine Puppe in ihre Arme schloss oder ihr erstes Fahrrad aus der Packung hüllte. Stolz hatte Matthew sie dabei beobachtet.

„Es ist sehr schwer für mich, deine Schwester dort drinnen liegen zu sehen“, gestand Matthew seinem Sohn. „Zu wissen, dass ich nichts für sie tun kann... bricht mir das Herz.“

Brian verstand nur zu gut, was sein Vater meinte. „Manchmal bedrückt mich ihr Anblick so sehr, dass ich aus ihrem Zimmer fliehen muss. Dann gehe ich hier im Park spazieren und ordne meine Gedanken.“

„Ich will sie nicht verlieren...“

„Wir werden sie nicht verlieren, Dad. Sie wird wieder aufwachen.“ Davon war Brian vollkommen überzeugt. Er bemühte sich, jegliche Gedanken, die zwangsläufig mit dem Tod seiner Schwester zusammenhingen, zu verdrängen. Für ihn stand fest, dass sie aufwachte. Es war nebensächlich, wann sie ins Leben zurückkehrte und in welchem Zustand sie sich dann befinden würde. Seine Liebe zu ihr würde nie geringer werden.

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670 p. 1 illustration
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9783742750358
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