Sie träumte von Liebe

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Sie träumte von Liebe
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Christina Bartel

Sie träumte von Liebe

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

Erstes Kapitel

Sie träumte von Liebe

Der leuchtend, weiße Mond stand hoch am Himmel über Los Angeles, Kaliforniern. Eine sternenklare Januarnacht neigte sich ihrem Ende zu. In wenigen Stunden würde die Sonne am Horizont aufgehen und den neuen Tag willkommen heißen.

In dieser wunderschönen Nacht folgten Steve und Joan in ihrem blauen Cabriolet dem Pacific Coast Highway, der kilometerlangen, kurvenreichen Küstenstrasse entlang des Pacific. Die meterhohen Felsen der Santa Monica Mountains auf der einen, der atemberaubende Blick auf den Ozean auf der anderen Seite.

Um drei Uhr in der Früh hatten sie die Party ihres gemeinsamen Freundes Tony verlassen und befanden sich inzwischen auf dem Rückweg von Ventura nach Los Angeles, wo sie ein neuer Studientag an der University of California at Los Angeles erwartete. Während Joan Ende des Monats das fünfte Semester ihres Marketingstudiums beendete, würde Steve im Sommer seinen Abschluss in Medizin machen.

Der kühle Januarwind wehte durch das heruntergekurbelte Fenster der Fahrerseite herein, wobei Joans lange, blonde Haare bei jedem Windzug flatterten. Sie hatte ihren Kopf gegen die Scheibe des Seitenfensters gelehnt, die Augen geschlossen und lauschte der Musik.

„Der Song ist Klasse“, sagte Steve und drehte das Radio lauter. Vergnügt stimmte er in das Lied ein. Lächelnd sah Joan ihren Freund an und obwohl sie den Text nicht einwandfrei konnte, begann sie ebenfalls zu singen.

Your Beautiful! Your Beautiful!”, sangen sie albern zu der lauten Musik und zum ersten Mal seit langer Zeit war Joan einfach nur glücklich. Die Anspannung, das Einsiedlerleben der vergangenen Monate fiel erstmals von ihren Schultern. Seit zwei Jahren kannten Steve und sie sich und vor eineinhalb Jahren waren sie als Paar in eine der Studentenbuden auf dem Campus gezogen. Obwohl Joan immer häufiger die Decke auf den Kopf fiel, was daran lag, dass Steve sich im letzten Studienjahr fast ausschließlich für seine Bücher zu interessieren schien, liebte sie ihn nach wie vor. Erst in der Neujahrsnacht vor einer Woche hatten sie gemeinsame Pläne für das neue Jahr geschmiedet. Es gab keine Zweifel daran, dass Steve sein Medizinstudium im Sommer bestand und wer wusste schon, was diesem jungen Mann wirklich im Kopf herumging? Er hatte immer gesagt, eine Hochzeit käme für ihn erst nach dem Studium in Frage, erinnerte Joan sich in diesen Minuten lächelnd...

„Ist der irre?“, rief Steve plötzlich inmitten der lauten Musik und stieg augenblicklich auf die Bremsen, als die grellen Scheinwerfer des entgegenkommenden Autos ihnen direkt in die Augen strahlten. Mit hoher Geschwindigkeit hielt das Auto auf ihrer Spur auf sie zu. Reifen quietschten, hinterließen schwarze Bremsspuren auf dem Asphalt. Steve riss das Lenkrad herum, doch in dem Moment änderte das andere Auto ebenfalls die Richtung und sie stießen mit voller Wucht zusammen. Die Motorhaube verschob sich in den Innenraum, quetschte ihre Körper ein. Wie Stoffpuppen wurden sie vor- und zurückgeschleudert, als ihr Auto auf Steves Seite gegen die Felsen krachte. Binnen Sekunden verloren sie die Besinnung.

Wo eben noch laute Musik zu hören gewesen war, herrschte nun eisige Stille. Wie ein Schleier hing die Ruhe über den Fahrzeugen. Es verging eine Viertelstunde, ehe ein Auto die Strasse entlanggefahren kam. Den beiden männlichen Insassen bot sich ein schreckliches Bild. Die Unfallwagen waren übel ineinander verkeilt, überall lagen Glassplitter und Teile der Autos herum.

Ohne Zögern sprangen beide Männer aus ihrem Fahrzeug und rannten zu dem näher liegenden Unfallwagen, einem Jeep, in dem ein etwa vierzigjähriger Mann eingeklemmt hinter dem Steuer saß. Aus tiefen Platzwunden in seinem Gesicht rann Blut heraus, die Augen standen weit offen. Vermutlich war die merkwürdige Verrenkung des Kopfes Schuld an seinem Tod.

„Dem können wir nicht mehr helfen“, sagte der Eine, nachdem er zur Sicherheit nach dem Puls des Verletzten gefühlt hatte. Derweil hatte sein Freund den Rettungsdienst informiert.

Eilig liefen sie um den Jeep herum, um nach den Insassen des zweiten Wagens zu sehen, doch das Gewirr von Blech war so schwer ineinanderverkeilt, dass die Männer an keine der Autotüren gelangen konnten.

„Die hat es arg erwischt“, sagte der Mann, der bereits nach dem Puls des Toten getastet hatte, als er im Schein der Scheinwerfer ihres eigenen Autos aus einigen Metern ins Wageninnere blickte und Steve in einem fürchterlichen Zustand über dem Lenkrad gebeugt liegen sah. Aus dessen Gesicht klafften tiefe Wunden. Joan dagegen hing seitlich in ihrem Sitz. Sie war sowohl von der rechten Autoseite als auch von der Motorhaube eingequetscht, die sich durch den Aufprall auf die Felsen in den Innenraum verschoben hatte.

„Denkst du, sie leben noch?“ Beide Männer starrten auf die zwei jungen Menschen.

Sein Freund zuckte mit den Schultern. „Sieht nicht gut aus...“

In dem Moment hörten sie Sirenengeheul näherkommen und innerhalb weniger Minuten hielten Krankenwagen und Polizei. Augenblicke später traf auch die Feuerwehr ein. Während die Polizisten die Männer befragten, die den Unfall gemeldet hatten, rannten die Sanitäter und der Notarzt zu den Unfallautos, um sich ein Bild von den Verletzungen der Insassen zu machen und bestätigten den Tod des Jeepfahrers.

„Von hier aus kommen sie nicht heran. Wir müssen erst den Jeep wegschaffen“, sagte der Leiter der Feuerwehr zum Notarzt und gab seinen Leuten ein Handzeichen.

Der Notarzt nickte. „Denken Sie, die Motorhaube hält mir stand?“

„Was schlagen Sie vor?“

„Wenn es mir gelingt nach dem Puls der beiden zu fühlen, kann ich Ihnen sagen, wie schnell Sie arbeiten müssen“, erklärte der Notarzt nüchtern.

„In Ordnung, aber sobald sich das Auto nur ein Stück rührt, kommen Sie sofort zurück“, sagte der Leiter der Feuerwehr im bestimmenden Ton, da er aus Erfahrung wusste, dass die kleinste Erschütterung den Zustand der Verletzten verschlimmern konnte. Noch waren sie sich nicht darüber im Bilde, wie schwer die beiden eingequetscht waren. Sie konnten gravierende Beinquetschungen oder Arterienverletzungen davongetragen haben, sodass sie innerhalb von Minuten verbluten würden, wenn sich der Druck veränderte.

Während die Feuerwehrmänner mit schwerem Geschütz herankamen, um den Jeep zur Seite zu heben, kletterte der Notarzt vorsichtig auf die Motorhaube von Steves Wagen. Er bewegte sich langsam und gleichmäßig voran, bis er vor der gerissenen Windschutzscheibe hockte. Dort beugte er sich vorsichtig vor, quetschte den Arm dicht an den Felsen vorbei ins zersprungene Seitenfenster und legte die Finger an Steves blutenden Hals.

„Der Junge ist tot!“, rief er zu den wartenden Männern hinüber.

„Und das Mädchen?“, fragte der Sanitäter, worauf der Notarzt seinen Arm aus dem Fenster zog und sich abermals langsam über die Motorhaube bewegte. Als er an der linken Autoseite angelangt war, hielten die Feuerwehrmänner mit ihrer Arbeit inne, sodass er auch dort seinen Arm durch das Seitenfenster strecken konnte. Mit angespanntem Arm legte er die Finger an Joans Hals.

„Sie lebt!“, rief er. „Aber ihr Puls ist kaum noch zu spüren.“

Von da an arbeiteten die Feuerwehrmänner zügig, doch mit größter Vorsicht, um Joan nicht noch mehr zu verletzen. Nachdem man den toten Mann aus dem Jeep geborgen hatte, trennten die Männer der Feuerwehr das Gewirr der beiden Autos und hoben mit Hilfe der Greifarme des Rettungskrans den Jeep einige Meter zur Seite. Daraufhin legte einer der Feuerwehrmänner eine Decke über die Reste des zersplitterten Seitenfensters, sodass sich der Notarzt nicht selbst die Arme aufschnitt, während er sich durch das Fenster ins Innere des Wagens lehnte und seine Patientin mit einer Infusion versorgte. „Beeilt euch, sonst stirbt mir das Mädchen hier weg!“

 

Die Feuerwehrmänner taten was in ihrer Verfügung stand, dennoch vergingen weitere zwanzig Minuten, ehe sie das Dach vollständig abgetrennt und die Seitentür herausgeschnitten hatten. Danach kam der schlimmste Teil; die Befreiung von Joans eingeklemmten Beinen.

Mit Sirenengeheul wurde Joan schließlich in das nächstliegende Krankenhaus nach Malibu gebracht, wo ein Ärzteteam für sie bereitstand und man schnell entschied, sie sofort zu operieren. Sie durften keine Zeit verlieren, da ihre Patientin neben dem hohen Blutverlust auch schwere innere Verletzungen davongetragen hatte.

Mitten in der Nacht wurden Brian und Rachel durch das Läuten des Telefons geweckt. Müde blickten sie auf den Wecker: Es war kurz nach fünf Uhr.

„Entschuldigen Sie meinen frühen Anruf, aber spreche ich mit Mr. Brian Farley?“, fragte eine junge Frauenstimme in einer geräuschvollen Kulisse.

„Ja, der bin ich“, sagte Brian noch im Halbschlaf.

„Sir, es geht um Mrs. Joan Farley.“

Augenblicklich setzte Brian sich im Bett auf. Er war hellwach. „Wer sind Sie? Was ist mit meiner Schwester?“

„Was ist mit Joan?“, fragte Rachel leise, doch Brian hob die Hand und brachte seine Freundin zum Schweigen.

„Mrs. Farley hatte einen Autounfall. Ein Rettungsteam hat sie aus dem Autowrack geborgen und zu uns ins Krankenhaus gebracht. Derzeit wird sie operiert“, sagte die Krankenschwester voller Anteilnahme.

Oh mein Gott. „Wird sie durchkommen?“, würgte Brian hervor.

„Sie hat sehr viel Blut verloren und schwere innere Verletzungen erlitten“, erwiderte die Krankenschwester. „Ich versichere Ihnen, die Ärzte werden alles für Ihre Schwester tun, Sir.“

„Ich komme, so schnell ich kann.“

Sowie das Gespräch beendet war, sprang Brian aus dem Bett und erzählte Rachel vom Unfall seiner Schwester, während er sich eilig anzog. Er hatte sich von der Krankenschwester die Adresse in Malibu geben lassen und wollte sofort losfahren.

„Warte einen Augenblick... ich fahre mit dir“, sagte Rachel geschockt.

Eine halbe Stunde später trafen sie in der Notaufnahme des Krankenhauses ein und fragten sich bei den Krankenschwestern durch, bis sie endlich eine Schwester fanden, die von dem Unfall gehört hatte.

„Mrs. Farley wird noch operiert. Der behandelnde Arzt wird zu Ihnen kommen, sobald die Operation beendet ist“, sagte sie freundlich.

Voller Anspannung warteten Brian und Rachel eine Stunde lang auf dem Gang vor dem OP-Bereich. Alle fünf Minuten stand Brian auf und ging ungeduldig den Gang auf und ab, bis Rachel ihn abermals bat, sich zu setzen.

„Ich halte diese Warterei nicht aus!“, sagte er plötzlich und sprang erneut auf. Verzweifelt fuhr er sich mit der Hand über seine kurzen Haare, den Hinterkopf hinunter in den Nacken.

„Es wird sicher nicht mehr lange dauern, Liebling“, versuchte Rachel ihn zu beruhigen und legte die Arme um seine Hüfte. Brian schloss die Augen und küsste zärtlich ihre Stirn.

„Ich werde meine Eltern anrufen.“

Rachel nickte. „Ich warte hier.“

Matthew und Isabelle Farley wollten soeben von Zuhause aufbrechen, als ihr Sohn sie in New York anrief und ihnen von dem schrecklichen Unfall ihrer Tochter erzählte, doch es war nicht viel, was er ihnen mitteilen konnte, sodass er versprach, sie wieder anzurufen, wenn er selbst Näheres von dem behandelnden Arzt erfahren hatte.

„Dr. Cooper“, stellte sich der Arzt eine halbe Stunde später mit festen Händedruck vor. Dr. Cooper war ein mittelgroßer, rundlicher Mann Mitte Vierzig, aus dessen schmalem Gesicht die viel zu große, schwarze Brille hervorstach.

„Doktor, wie geht es meiner Schwester?“

„Es grenzt an ein Wunder, dass Miss Farley den Unfall überhaupt überlebt hat.“ Er seufzte und rückte seine verrutschte Brille auf der kleinen Nase zurecht. „Neben drei gebrochenen und einigen angeknacksten Rippen, mehreren schweren Prellungen, einer Platzwunde am Kopf und dem gebrochenen linken Handgelenk, wurden ihre Leber, Lunge und Milz arg in Mitleidenschaft gezogen. Die Milz mussten wir entfernen, Leber und Lunge konnten wir vorerst ausreichend versorgen.“ Rachel drückte Brians Hand noch fester. Es schien, als sei kein Körperteil von Joan verschont geblieben, doch wenigstens lebte sie noch. „Zudem kommt, dass Sie noch immer im Koma liegt.“

Im Koma! Oh mein Gott!“ Rachel hielt sich die Hand vor den Mund und begann leise zu weinen. Brian, der neben ihr stand, legte seinen Arm um sie und zwang sich selbst zur Ruhe, was ihm erhebliche Mühe beriet.

Brian sah dem Arzt an, dass ihm solche Szenen zuwider waren. Er schien einer dieser Ärzte zu sein, die sich nur sehr wenig Zeit für die Angehörigen ihrer Patienten nahmen und ihnen kurz und bündig die Art der Verletzungen aufzählten.

„Wird... wird sie wieder aufwachen?“, fragte er mit glasigem Blick.

„Ihr Zustand ist nach wie vor kritisch. Wir müssen die nächsten Tage abwarten, dann kann ich Ihnen vermutlich genaueres sagen.“

„Dr. Cooper, Sie werden in Zimmer 32 benötigt“, sagte eine Schwester, worauf der Arzt nickte, ihr aber zu Brians Verwunderung nicht folgte.

„Mr. Farley“, fuhr Dr. Cooper an Brian gewandt fort. „...derzeit können wir nicht genau sagen, auf welche der Verletzungen das Koma zurückzuführen ist. Die Wahrscheinlichste ist die schwere Gehirnprellung, die ihre Schwester bei dem Unfall davongetragen hat. Der Neurochirurg hat das EEG geprüft und geht von keiner dauerhaften Schädigung des Gehirns aus, sodass Hoffnung besteht, wenn Mrs. Farley überlebt. Dennoch hat er eine zweite Operation erwogen, um den Gehirndruck zu lindern.“

„Warum haben Sie nicht gleich operiert?“, fragte Brian verständnislos.

„Wir befürchten, dass Ihre Schwester den Eingriff in Ihrem momentanen Zustand nicht überleben würde. Sobald die Werte stabil sind, werden wir uns nochmals über die Notwendigkeit einer Operation beraten.“

„Ich möchte, dass meine Schwester in ein Krankenhaus in L.A. verlegt wird, wo Ärzte sie behandeln, die derartige Operationen häufiger durchführen“, forderte Brian den Arzt auf.

„Mr. Farley, ich verstehe durchaus Ihre Bedenken, aber eine Verlegung wäre zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich. Auf dem Weg hierher hatte Ihre Schwester einen Herzstillstand und während der Operation hätten wir sie ebenfalls beinahe verloren. Ich betone nochmals, wie kritisch Ihr Zustand ist. Einen Transport nach L.A. würde sie vermutlich nicht überleben.“

Als sie sich daraufhin von dem Arzt trennten und wenige Minuten später die Intensivstation betraten, wurden sie von einer Krankenschwester in einen separaten Raum geführt, wo sie in spezielle Kittel schlüpften. Brian versuchte sich vorzustellen, in welcher Verfassung sie Joan vorfinden würden, doch Joans Anblick stellte seine schlimmsten Vorstellungen weit in den Schatten. In einem Gewirr aus Verbänden, Schläuchen und Monitoren hätte er seine Schwester beinahe nicht wiedererkannt. Langsam, nicht ohne den Blick von Joan abzuwenden, ging Brian durch den Raum zu ihrem Bett und setzte sich auf den Hocker. Mit Tränen in den Augen betrachtete er seine jüngere Schwester, deren leichenblasses Gesicht aus dem dicken, weißen Verband heraussah. Eine lange Schürfwunde, die mittlerweile nicht mehr blutete, zierte die rechte Schläfe bis hinunter zur Wange, ihr gebrochenes Handgelenk war gestützt und in Verbände gehüllt worden. Die inneren Verletzungen waren von außen nicht ersichtlich, aber Brian wusste, dass sie einen erheblich Anteil an dem Zustand seiner Schwester beitrugen.

Brians Blick glitt zu dem Beatmungsgerät hinüber, das Joans Lungen mit dem lebenswichtigen Sauerstoff versorgten. Sein Herz verengte sich vor Schmerz... und Selbstvorwürfen. Er hatte die Verantwortung für seine Schwester gehabt. Er hatte seinen Eltern versprochen, auf sie Acht zu geben und nun lag sie mit schweren Verletzungen im Krankenhaus und kämpfte um ihr Leben. Brian schloss die tränenverschleierten Augen und ließ den Kopf auf das Laken neben Joans Hand sinken.

Rachel hatte sich bisher in den hinteren Teil des Zimmers zurückgezogen, doch als sie bemerkte, wie Brians Körper nach einem Moment kaum spürbar zuckte, trat sie zögernd hinter ihn und legte die Hand auf seine rechte Schulter.

Warum? Warum ausgerechnet sie?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

„Ich weiß es nicht“, sagte Rachel mit Tränen in den Augen leise. „Aber sie wird es schaffen. Sie ist sehr stark.“

Brian nickte und legte seine Hand auf die ihre. Die Sorgen, die er sich Joans wegen machte, standen ihm nur allzu deutlich im Gesicht geschrieben. Er hatte furchtbare Angst, seine geliebte Schwester zu verlieren. Sein Ein und Alles - seine Seelenverwandte. Sie war ein Teil von ihm; eine Tatsache, die Rachel am Anfang ihrer Beziehung zu Brian nicht hatte akzeptieren wollen. Doch schon nach kurzer Zeit war ihr klargewesen, warum die beiden Geschwister ein so inniges Verhältnis zueinander hatten. Bereits in ihrer frühesten Kindheit hatten Brian und Joan sich einzig aufeinander und nicht auf ihre selbsternannten Freunde verlassen können, die zumeist nur aus zweierlei Gründen die Nähe der Geschwister suchten: der Ruhm und das Geld, in beides waren die Farleygeschwister hineingeboren worden. Während unzählige New Yorker Jungendliche sie darum beneideten, die einzigen Kinder - und damit Erben - von Matthew Farley, dem angesehenen Geschäftsmann und Gründer der Modekette Farleys, zu sein, sahen Brian und Joan ihr so genanntes Glück eher als unabwendbares Schicksal, dass sie ihr Leben lang begleiten würde.

Matthew Farley hatte mit einer handvoll Menschen und einem bescheidenen Budget das Modehaus Farleys in New York eröffnet und war seitdem unzähligen Steinen ausgewichen, die ihm zwischen die Füße geworfen wurden. Nun, fast dreißig Jahre später, war Farleys eines der drei größten Modehäuser in Amerika. Mit Filialen in London, Paris, Rom und Madrid waren sie in Europa noch ein Name unter vielen; ein Zustand, den Matthew Farley beabsichtigte in den nächsten Jahren zu ändern.

Bereits vor Brians Geburt gehörten Matthew und Isabelle Farley zur obersten Gesellschaft New Yorks. Die Anfangsjahre waren schwierig gewesen, da sie beide aus normalen Arbeiterfamilien stammten und sich erst in der High Society zurecht finden mussten, aber im Laufe der Zeit hatten sie sondiert, wer ihre wahren Freunde waren und wer nur hinter ihrem Geld her war. Nicht nur einmal hatte man versucht, Matthew geschäftlich auszuboten, doch er war noch heute mit dabei. Erst kürzlich wurde er von einer Journalisten eines angesehenen Magazins nach dem Grund dafür gefragt und er hatte geantwortet: "Niemand sollte den Ergeiz und das Durchhaltevermögen eines einfachen Arbeiters unterschätzen. Nur wer ein Unternehmen aufgebaut hat, die Höhen und Tiefen kennt, der weiß um die Existenz seines Lebenswerkes wirklich zu kämpfen."

Isabelle Farley hielt sich bereits seit vielen Jahren offiziell aus den Geschäften ihres Mannes heraus, beriet ihn lediglich im Hintergrund. Sie war es, die für die Presse zuständig war und somit sorgte Isabelle dafür, dass sie sich von Zeit zu Zeit auf einer der allabendlichen Partys oder Komitees sehen ließen, obwohl sie sich zumeist zu Tode langweilten. Ihr Herz gehörte ausschließlich den Benefizveranstaltungen, die die Farleys sehr gern mit ihrem Namen und einer großzügigen Spende vertraten. Dies weckte allgemein den Anschein nach einem äußerst luxuriösen Leben, doch was die wenigsten Menschen wussten, war, dass die Familie selbst eher bescheiden wohnte. Zwar besaßen sie ein Penthause mit Dachterrasse in der Fifth Avenue, das über zwei Etagen bewohnbar war, und ein Wochenendhaus in Brooklyn Heights mit direktem Blick auf den East River, doch die Einrichtungen waren längst nicht so exquisit wie es sich die meisten Leute vorstellten. Seit Jahren versuchten die hartnäckigsten Fotografen beide Domizile von innen ablichten zu können, aber Isabelles lehnte jegliche Anfragen vehement ab. Die Familie führte zwei strikt getrennte Leben und ihr Privatleben ging niemanden etwas an.

An diesem zurückgezogenen Leben, wie die Zeitungen es nannten, wollte die New Yorker Presse seit jeher teilnehmen. Vor ihrem Penthouse lauerten auch noch nach Jahren täglich Fotografen, deren Blitzlichtgewitter losging, sobald sich jemand von der Familie sehen ließ. Eine zeitlang hatte Matthew darauf bestanden, dass seine Kinder keinen Schritt ohne einen Bodyguard vor die Tür setzten, aber auch darüber gab es bald die wildesten Gerüchte. In den Klatschzeitungen erschienen die langweiligsten Bilder, dennoch erfanden die Journalisten erstaunliche Storys dazu. Unbekannterweise arbeiteten für Isabelle zwei Personen, die sich tagtäglich mit sämtlichen Zeitungen und deren Inhalt bezüglich der Familie Farley beschäftigten und wenn nötig die entsprechenden Leute zur Rechenschaft zogen. Sie waren es auch gewesen, die Isabelle vor einigen Jahren über Brians Drogenskandal unterrichtet hatten, noch ehe die Story gedruckt wurde. Es war lediglich ein getürktes Foto aufgetaucht, das Brian in einer Gruppe Junkies zeigte, und die Journalisten schrieben ihre Storys dazu, doch diese Geschichte war eine zuviel gewesen. Brian entschied sich gegen sein bisheriges Leben und beschloss sein Wirtschaftsstudium in L. A. weiterzuführen. Obwohl er seinen Eltern mit seinem Entschluss das Herz brach, mussten sie zugeben, dass sie ihren Sohn verstanden. Mit seinen zwanzig Jahren galt er als die männliche Partie New Yorks, gutaussehend und hinter seinem Namen verbürgten sich Milliarden.

 

Erst in Los Angeles hatte Brian wirklich zu leben begonnen. Es schien, als wäre er aus einem Käfig entflohen. Auf der anderen Seite des Landes kannte ihn niemand, sodass er nicht länger befürchten musste, von Fotografen verfolgt zu werden. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er tun und lassen was er wollte und es gefiel ihm. Nachdem er mit Auszeichnung sein Wirtschaftsstudium beendet hatte, bekam er im Anschluss daran bei Farleys eine Stelle. Für Matthew war seit jeher klar, dass sein Sohn eines Tages sein Lebenswerk übernehmen würde und ob er dies von New York aus oder L. A. tat, war einerlei.

Ein Jahr nach Brians Umzug an die Westküste lernte er Rachel Maldione bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Los Angeles kennen. Vom ersten Moment an war er von der geborenen Italienerin fasziniert, die sich mit soviel Wärme für andere Menschen einsetzte. An jenem Abend unterhielten sie sich lange und angeregt. In den darauffolgenden Wochen sahen sie sich fast täglich, sie lernten einander kennen und lieben. Diese Liebe verband sie nun seit mehr als drei Jahren.

„Brian... Schatz?“, drang Rachels Stimme leise zu ihm durch, als er für einige Minuten seinen Erinnerungen nachgehangen hatte.

„Entschuldige“, sagte er und setzte sich in seinem Stuhl auf. „Ich dachte gerade daran, wie glücklich Joan und Steve gewesen sind... und nun so etwas.“

„In solchen Situationen wird uns wieder bewusst, wie schnell das Leben vorbei sein kann.“

Brian und Rachel blieben die ganze Nacht über im Krankenhaus. Während Rachel einige Stunden schlief, saß Brian unentwegt am Bett seiner Schwester, hielt ihre Hand und sprach leise zu ihr. Joans Zustand war nach wie vor bedenklich. In der Nacht hatte sie Fieber bekommen und man bezweifelte, dass sie überleben würde.

Nach einer zermürbenden Nacht auf der Intensivstation fand Brian am nächsten Tag endlich eine Krankenschwester, die in der Unfallnacht Dienst gehabt hatte. Er erhoffte sich, von ihr mehr Informationen zu erhalten, als das wenig Aufschlussreiche von Dr. Cooper.

„Wir haben nur sehr wenige Informationen erhalten, Sir“, sagte die junge Schwester mit Bedauern zu Brian und Rachel. „An dem Unfall waren zwei Autos beteiligt und anscheinend hat Miss Farley als einzige überlebt.“

„Wissen Sie, wer die anderen Personen waren?“, harkte Brian nach.

„Soweit ich hörte, zwei Männer. Ein etwa vierzigjähriger Mann und der junge Fahrer Ihrer Schwester, aber die Namen der Verstorbenen sind uns nicht bekannt.“

Steve...“, sagte Brian leise.

„Er muss nicht mit ihr gefahren sein“, wandte Rachel ein und dankte der Schwester, die mitfühlend nickte und sich diskret zurückzog.

„Rachel, ich kann ihn nicht erreichen. Ich habe mit Freunden von Joan und Steve telefoniert, die alle bestätigten, dass sie in der Unfallnacht gemeinsam eine Party verlassen haben.“

„Vielleicht ist er in ein anderes Krankenhaus geliefert worden“, sagte Rachel, die sich weigerte, an den Tod des Freundes zu glauben. „Wir sollten uns an die Polizei wenden.“

Ehe sie das Krankenhaus verließen, gingen sie im Schwesternzimmer vorbei und informierten die Intensivschwester darüber, dass sie vermutlich erst in einigen Stunden wiederkommen würden. „Sollte sich ihr Zustand verändern, dann rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an“, bat Brian und reichte der Krankenschwester seine Visitenkarte.

„Selbstverständlich, Mr. Farley.“

„Entschuldigung“, sagte der Pfleger, der soeben ins Zimmer gekommen war. „Sind Sie die Angehörigen von Mrs. Joan Farley?“

„Ja“, antwortete Rachel.

„Ist etwas mit meiner Schwester?“, fragte Brian erschrocken.

Der Pfleger zuckte mit den Schultern. „Sie möchten bitte in Dr. Coopers Büro kommen.“

Keine zwei Minuten später klopfte Brian an die Bürotür von Dr. Cooper und trat von Rachel gefolgt ins Zimmer.

„Gibt es neue Erkenntnisse was den Zustand meiner Schwester betrifft?“, fragte Brian den Arzt, ehe er sich auf dem ihn angebotenen Stuhl setzte. Rachel nahm neben Brian Platz und musterte den Arzt aufmerksam, der ihnen gegenüber hinter seinem Schreibtisch saß.

„Leider befindet sich Mrs. Farley noch immer in einem kritischen Stadium. Das Fieber konnten wir senken, doch um ehrlich zu sein...“ Er räusperte sich. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht viel Hoffnung machen. Die inneren Verletzungen sind schwerwiegend und der hohe Blutverlust lag weit über dem, was ein menschlicher Körper verkraften kann. Es grenzt an ein Wunder, dass Sie noch immer lebt.“

„Was soll das heißen, Doktor?“, fragte Brian mit zittriger Stimme. „Lassen Sie meine Schwester einfach so sterben?“

Dr. Cooper beugte sich auf seinem Schreibtisch vor. Die Hände verschränkt, sah er Brian eindringlich an. „Wir tun hier alles, um Ihre Schwester zurück ins Leben zu holen, aber nun sind wir an unsere Grenzen gestoßen. Ich kann nichts mehr für Sie tun. Jetzt liegt es an ihr zu kämpfen.“

„Sie sprachen davon, dass sie noch Tage im Koma liegen könnte...“

„Wir müssen sogar von Monaten oder gar Jahren ausgehen.“

Jahre...“, sagte Rachel leise.

„Angenommen sie wacht wieder auf. Wird sie dann wieder völlig gesund werden?“

„Das kann man im Einzelfall nicht genau sagen. Je länger ein Patient im Koma liegt, desto wahrscheinlicher sind Hirnschädigungen. Bei Ihrer Schwester kommt die schwere Gehirnprellung hinzu. Diese kann ohne schwerwiegende Folgen bleiben, oder aber häufige Kopfschmerzen, Gedächtnis- oder Verhaltensstörungen und schwere Lähmungen mit sich ziehen.“ Dr. Cooper sah Brian und Rachel mitfühlend an. „Sie müssen auf alles gefasst sein.“

Lähmungen, Gedächtnisausfall, Pflegefall.. Immer wieder hallten diese Worte in Brians Kopf umher, bis er aufspringen und laut schreien wollte.

„Mr. Farley...“, begann Dr. Cooper nach einem Moment des Schweigens. „Sie haben mich gestern nach Steve Baxter gefragt. Ich habe heute mit der Polizei gesprochen und erfahren, dass Mr. Baxter das Auto gefahren ist, in dem Ihre Schwester verunglückte.“

Entgeistert sah Brian den Arzt an. „Ist er schwer verletzt?“

„Diese Auskunft unterliegt meiner ärztlichen Schweigepflicht. Ich kann...“

„Er ist der Freund meiner Schwester“, fuhr Brian Dr. Cooper ins Wort. „Sie waren so gut wie verlobt.“

„Unter diesen Umständen sieht die Sache anders aus“, sagte Dr. Cooper im ruhigen Ton und rückte seine Brille auf der Nase zurecht. „Tatsächlich wurde Mr. Baxter in unser Krankenhaus gebracht, doch leider muss ich Ihnen mitteilen, dass er den Unfall nicht überlebt hat. Es tut mir sehr leid.“

„Oh Gott!“, sagte Rachel und schlug die Hand vor ihren Mund, als die Tränen ihr ins Gesicht schossen. Brian blickte geschockt und unfähig ein Wort zu sagen den Arzt an. Er konnte nicht glauben, was er soeben erfahren hatte. Er wollte nicht glauben, dass der junge Mann, mit dem er sich Morgen zum Joggen verabredet hatte, schon vor zwei Tagen gestorben war. Steve, fünfundzwanzig Jahre jung.

Wenige Minuten nach sechzehn Uhr rollte das Privatflugzeug von Matthew Farley über die Rollbahn. Die Limousine des Beverly Wilshire Hotels erwartete sie bereits. Es vergingen keine fünf Minuten, bis der Träger mit Hilfe des Chauffeurs die Koffer von Isabelle und Matthew im Kofferraum der Limousine verstaut hatten und sie sich zurzeit der Rushhour auf L.A.s volle Strassen begaben. Auf dem San Diego Freeway kamen sie nur stockend voran, sodass Isabelle ungeduldig auf ihre Armbanduhr blickte.

„Wie kannst du jetzt nur ans Geschäft denken?“, fragte Isabelle verständnislos ihren Mann, der in seinen Unterlagen las. Sie konnte nicht wissen, dass Matthew das Geschriebene drei- gar viermal lesen musste, da er sich nicht konzentrieren konnte.

„Die Arbeit lenkt mich von der Sorge um Joan ab.“ Liebevoll griff Matthew nach Isabelles unruhiger Hand, die soviel kleiner als die seine war, hob sie an seinen Mund heran und küsste ihre Fingerspitzen zärtlich. „Sie wird aus dem Koma erwachen“, sagte er davon fest überzeugt, als würde er ihre Gedanken kennen.