Bewegungswissenschaft in 60 Minuten

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Bewegungswissenschaft in 60 Minuten
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Christian Maiwald

Bewegungswissenschaft in 60 Minuten

UVK Verlag · München

Umschlagabbildung und Kapiteleinstiegsseiten: © iStock – baona

„Bewegungswissenschaft in 60 Minuten“ führt kompakt und verständlich in die Problemstellungen und Methoden dieser Teildisziplin der Sportwissenschaft ein.

Alle Titel „in 60 Minuten“: Sportpädagogik, Sportgeschichte, Sportsoziologie, Sportökonomik, Sportmedizin, Sportpsychologie, Bewegungswissenschaft und Trainingswissenschaft.

Prof. Dr. Christian Maiwald leitet den Arbeitsbereich Forschungsmethoden und Analyseverfahren in der Biomechanik am Institut für Angewandte Bewegungswissenschaften der TU Chemnitz. Seine Forschung befasst sich vorwiegend mit methodologischen Aspekten der Analyse biomechanischer Daten. christian.maiwald@hsw.tu-chemnitz.de

© UVK Verlag 2020

‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

www.narr.de · info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7398-3079-7 (ePDF)

ISBN 978-3-7398-8079-2 (ePub)

Inhalt

  Bewegungswissenschaft in 60 Minuten

  1 Einführung – Charakterisierung der Bewegungswissenschaft

  2 Entstehung und Entwicklung der Bewegungswissenschaft

  3 Themenfelder, Theorien und Methoden der Bewegungswissenschaft

  4 Verhältnis der Bewegungswissenschaft zur Sportpraxis

  Praxisbeispiel: Verletzungsprävention im Kinder- und Jugendhandball

  Literatur

  Kommentierte Links zu Verbänden, Zeitschriften, aktuellen Podcasts und Videos


Bewegungswissenschaft in 60 Minuten

Da die körperliche Bewegung des Menschen als konstituierendes Merkmal des Sports aufgefasst wird, stellt die Bewegungswissenschaft des Sports eine der zentralen und genuinen Teildisziplinen der Sportwissenschaft dar (Mechling & Munzert, 2003, S.20; Olivier, Rockmann & Krause, 2013, S.19–21; Roth & Willimczik, 1999, S.11; Göhner, 1992, S.9–10). Die Bewegungswissenschaft vereint unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven, Grundpositionen und Zugangsweisen zum Gegenstand der menschlichen und sportbezogenen Bewegung. Diese thematische Vielfalt und inhaltliche Breite der Bewegungswissenschaft des Sports zeigen beispielhafte, exemplarische Fragestellungen, z. B.: Wie lässt sich die Bewegungsausführung eines Turmspringers oder Turners beschreiben und analysieren? Welche Teilbewegungen sind für das Erlernen des Kippaufschwungs am Reck notwendige Voraussetzung? Haben professionelle Radsportler einen runderen Tritt als Amateure? Welche Methoden sind geeignet, derartige Bewegungen und die dabei auftretenden Belastungen und Beanspruchungen des menschlichen Körpers zu analysieren? Wie verändert sich die Belastung des Bewegungsapparats durch eine Modifikation der ausgeführten Bewegung? Führen bestimmte Bewegungsausführungen kurz- oder langfristig zu einem erhöhten Verletzungsrisiko? Welche Rolle spielen dabei die Wahrnehmung und die koordinativen und sensorischen Fähigkeiten des Athleten? Wie läuft die Regulation sportlicher Bewegungen überhaupt ab, wie kann eine Bewegungsausführung beeinflusst werden?

Der vorliegende Beitrag bezeichnet die verschiedenen Perspektiven, Grund­­positionen und Zugangsweisen als unterschiedliche Ansätze der Bewegungswissenschaft. Insofern ist die Bewegungswissenschaft ein heterogenes und vielseitiges Gebilde, ein „Sammelbecken für alle wissenschaftlichen Aussagen über den Problemkomplex der sportlichen Bewegung und des Bewegens im Sport“ (Roth & Willimczik, 1999, S.11). Deshalb existieren zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, die Bewegungswissenschaft, Bewegungslehre, Sportmotorik oder Verwandtes zum Thema haben und umfassende Darstellungen des Forschungsgebiets auf Basis unterschiedlicher Ansätze, Grundpositionen und Paradigmen vornehmen. Wie unterschiedlich die wissenschaftlichen Zugangsweisen zu diesem Problemkomplex ausfallen können, welche Fragestellungen im jeweiligen Kontext relevant werden und mit welchen Methoden diese Fragestellungen analysiert werden, ist in diesem Kapitel in kompakter Form dargestellt.

Lernziele

 Die Leser erfahren, mit welchen Phänomenen sich die Bewegungswissenschaft beschäftigt und welche Themen aus ihrer Sicht relevant sind.

 Sie erkennen, wie die Bewegungswissenschaft entstanden ist, wie sie sich bis zum heutigen Stand entwickelt hat und welche Verbindungen zu ihren Mutterwissenschaften bestehen.

 Sie lernen wissenschaftliche Zielsetzungen und Aufgaben der Bewegungswissenschaft kennen und reflektieren, mit welchen Theorien sich die Bewegungswissenschaft den für sie relevanten Phänomenen und Themen nähert, welchen Problem-/Frage­stellungen sie sich widmet und welche Methoden dabei typischerweise zum Einsatz kommen.

 Sie erfahren, in welchem Verhältnis die Bewegungswissenschaft zur Sportpraxis steht, insbesondere welche Bedeutung die Sportpraxis ihren Forschungsergebnissen beimisst.


1 Einführung – Charakterisierung der Bewegungswissenschaft

Die Bewegungswissenschaft ist eine, gemessen an traditionellen, etablierten Wissenschaften wie etwa der Physik, noch relativ junge Wissenschaftsdisziplin. Als integrative Disziplin vereint sie Erkenntnisse und Methoden aus anderen Disziplinen und ist für ihre Arbeit auch auf diese angewiesen. Die Beschreibung der Bewegungswissenschaft geschieht üblicherweise durch die Definition ihres Gegenstandsbereichs, ihrer Forschungsfragen, ihrer theoretischen Grundpositionen und ihrer Methoden. Als integrative Wissenschaftsdisziplin besteht für die Bewegungswissenschaft sowohl auf der Ebene der Theorien als auch der Methoden eine große Schnittfläche zu anderen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere zur Physik, zur Biologie, zur Psychologie und zur Medizin.

Die Charakterisierung der Bewegungswissenschaft ist insofern mit der Entwicklung der gesamten Sportwissenschaft in Deutschland verbunden, als dass es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob die Bewegungswissenschaft als eine Teildisziplin der Sportwissenschaft aufgefasst werden sollte, oder ob Teilbereiche der Sportwissenschaft nicht eher einer übergeordneten Bewegungswissenschaft zugeordnet werden sollten (Zschorlich, 2000). Die Bewegungswissenschaft wird insofern als Teilgebiet der Sportwissenschaft aufgefasst, als die menschliche Bewegung mit all ihren Facetten einen Kernbereich des Sports darstellt (Roth & Willimczik, 1999, S.11). Innerhalb der deutschen Sportwissenschaft ist die Bewegungswissenschaft historisch eng verbunden mit der (pädagogisch inspirierten) Bewegungslehre des Sports. Der Begriff Bewegungswissenschaft verweist heute – vor allem im internationalen Kontext – allerdings weniger auf eine aus sportpädagogischer Tradition heraus entwickelte Wissenschaftsdisziplin, sondern impliziert einen naturwissenschaftlichen Zugang zur Analyse menschlicher Bewegung, insbesondere auch in Kontexten abseits des Sports wie beispielsweise in der (Patho-)Physiologie oder der Ergonomie (Mechling & Munzert, 2003, S.13–14).

Im angelsächsischen Sprachraum wird Bewegungswissenschaft oftmals mit den Begriffen human kinetics, kinesiology, motor control and learning, (sport) biomechanics oder etwas allgemeiner als human movement science bezeichnet. Diese Begriffsvielfalt deutet bereits an, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, welche theoretischen Perspektiven und Methoden innerhalb einer im deutschen Sprachraum als Bewegungswissenschaft bezeichneten Wissenschaftsdisziplin zur Anwendung kommen, und wie sie im Kanon anderer (sport-)wissenschaftlicher Disziplinen verortet wird. Diese Vielfalt an theoretischen Zugängen zur Analyse menschlicher Bewegung wird im Abschnitt 3 näher thematisiert.

Göhner (1992, S.23) schlägt vor, dass die Bewegungslehre des Sports „als ein Lehr- und Forschungsgebiet zu sehen ist, das einerseits die sportliche Bewegungsvielfalt (bzw. früher die Bewegungen der Leibesübungen), andererseits aber (und inzwischen in fast ausschließlicher Weise) die Funktionsweise der sich bewegenden Person zum Gegenstand hat“. Loosch (1999, S.23) fasst seine Definition etwas weiter: „Die Gegenstände einer allgemeinen Bewegungslehre sind die Erscheinungsformen der menschlichen Motorik im Sport und angrenzenden Tätigkeitsfeldern, wie der sportorientierten Rehabilitation oder der bewegungstherapeutischen Ausbildungsrichtung. Der Kernbereich der Darstellungen bezieht sich auf den Sport“.

 

Den Gegenstandsbereich der Bewegungswissenschaft beschreiben Roth und Willimczik (1999, S.11) wie folgt: „Sie beschäftigt sich einerseits mit den beobachtbaren Produkten (Bewegungen und Haltungen) sowie andererseits mit dem Gesamtsystem jener körperinternen Prozesse (Motorik, Emotionen, Motive, Sensorik, Kognitionen), die den Vollzügen zugrunde liegen. In Abhängigkeit von dem wissenschaftstheoretischen Standort werden dabei vielfältige Zielsetzungen und Analyseinteressen verfolgt“.

Aus diesen Definitionen des Gegenstandsbereichs wird erkennbar, dass abseits aller kontroversen Diskussionen um Verortung, Einordnung und Bezeichnung der Wissenschaftsdisziplin ein gemeinsamer Nenner erkennbar ist. Dieser besteht darin, dass Bewegungswissenschaft und Bewegungslehre des Sports danach streben, die menschliche Bewegung (im Sport) sowie alle Prozesse, die Bewegung auslösen, steuern, regeln und beeinflussen, zu verstehen – das heißt, beschreiben, erklären und wenn möglich auch vorhersagen zu können.

Wissenschaftsdisziplinen sind nicht allein durch ihren Gegenstandsbereich, sondern auch durch ihre Theorien und Methoden gekennzeichnet. So unterschiedlich die Ausgangspositionen, das Selbstverständnis und die Zielsetzungen der Akteure innerhalb der Bewegungswissenschaft auch sein mögen, so zahlreich sind auch die Gemeinsamkeiten des bewegungswissenschaftlichen Methodenspektrums und ihrer Anwendungsbereiche. Beispielsweise sind Fragen nach den neurophysiologischen Grundlagen von Bewegung und Bewegungslernen, nach der motorischen Entwicklung des Menschen, nach den Wahrnehmungsprozessen im Kontext von Bewegung oder aber auch nach der Pathomechanik des Bewegungsapparats sowohl Bestandteil einer allgemeinen als auch einer speziell im sportwissenschaftlichen Kontext betriebenen Bewegungswissenschaft (Mechling & Munzert, 2003, S.13–15).

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