Die Höhle des Löwen

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„Blödsinn. Dann hätte der doch erst angerufen, nachdem der alle beide vergraben hat.“

„Ja, darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht. Unser Polizeipsychologe meint, dass es wahrscheinlich gar nicht darum ging, Spuren zu verwischen, sondern, dass sich Peters ganze Wut nur auf seine Freundin konzentriert hat und er sie vollständig vernichten und verschwinden lassen wollte.“ Will bekam eine Gänsehaut. Beklommen hakte er nach: „Aber hätten dann nicht die Nachbarn hier was mitbekommen müssen von der Aktion?“ Er deutete auf das Haus nebenan.

Dohmen folgte seinem Blick und schüttelte den Kopf. „Da ist keiner. Die sind noch drei Wochen in Urlaub. Das haben wir schon gecheckt.“

Will stutzte. Bevor er seine Gedanken ordnen konnte, trat der Polizist mit den hochdekorierten Schulterklappen durch das Gartentörchen und rief Dohmen zu: „Herr Dohmen. Sie sollen reinkommen zum Kapdezernent.“

„Ich komm sofort.“

„Was ist denn ein Kapdezernent?“, fragte Will.

„Bitte? Ach so“, antwortete Dohmen zerstreut, „das heißt eigentlich Kapitaldezernent. Damit ist der Staatsanwalt gemeint, der hat hier den Hut auf. Bei einem Kapitalverbrechen ist die Staatsanwaltschaft immer die Herrin des Ermittlungsverfahrens.“

Will kratzte sich am Kopf. „Wollen Sie damit etwa sagen, dass der Staatsanwalt eine Frau ist?“

„Nein, der Staatsanwalt, das ist der Arnulf Gehring.“

„Wissen Sie was?“, sagte Will entschlossen. „Ich komm jetzt mal mit rein und red mit der Mann. So Leute muss man …“

Dohmen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Nein, Sie kommen nicht mit rein. Das würde alles nur viel schlimmer machen. Und bei Gehring hätten Sie sowieso keine Chance. Das ist ein Golfkumpel von Pimpertz.“

Der Polizist erschien wieder am Gartentor. „Die Herren warten“, rief er.

„Bin unterwegs“, rief Dohmen zurück. „Wie sieht’s im Garten aus?“ Der Polizist schüttelte den Kopf. „Wir haben jetzt jeden Stein umgedreht. Hier liegt garantiert nichts in der Erde.“ Dohmen fluchte leise und murmelte: „Verdammt, Peter. Was hast du mit deiner Freundin gemacht?“

Der Kommissar verabschiedete sich schnell von Will, um ins Haus zu gehen. Will blieb zurück und dachte noch einmal über die Worte des Beamten nach. „Hier liegt nichts in der Erde.“ Plötzlich wurde ihm ganz flau im Magen. Er riss den Kopf herum und starrte auf die Mülltonne, die vor dem Nachbarhaus stand. Ihm gefror fast das Blut in den Adern, als er sich die Frage stellte: Wenn die Bewohner von dem Haus in Urlaub sind, wer hat dann die Mülltonne an die Straße gestellt? Und vor allem: Was war in den blauen Mülltüten?

6


„Sag mal, hast du Schmieröl gesoffen, oder was? Was fällt dir ein, hier morgens mit sechs Minuten Verspätung aufzulaufen?“ Die Halsschlagadern von Autohausbesitzer Heribert Oellers waren dick angeschwollen und pochten in schnellem Rhythmus. Sein hochroter Kopf schien kurz vor dem Explodieren. Richard Borowka war gerade damit beschäftigt, bei einem alten VW Polo die Reifen zu wechseln. Eigentlich war er sich sicher gewesen, dass der Alte ihn nicht bemerkt hatte, als er vor einer Dreiviertelstunde das Gebäude heimlich durch den Hintereingang betreten hatte. Doch als vor wenigen Sekunden die schwere Eisentür, die den Verkaufsraum von der Werkstatt trennte, aufflog, wusste er sofort, dass dem wohl nicht so gewesen war. Borowka kniete gerade vor einem Reifen, den er wechseln wollte, als sich der mächtige Schatten seines Chefs über ihn legte. Nun gab es kein Entrinnen mehr: Er befand sich mitten im Auge des Tornados.

„Du bist ja wohl mit der Klammeraffe gebeutelt. Das, was du dir die letzte Zeit hier erlaubst, da scheißt der Hund ins Feuerzeug. Das steht mir bis Oberkante Unterlippe. Wieso kommst du jeden Tag zu spät?“

„Tut mir leid, Chef“, stammelte Borowka. „Ich hab im Moment kein Auto und der Fredi …“

„Was ist los? Sag mal, ist dein Clowns-Kostüm in der Reinigung? Halt gefälligst die Klappe, wenn ich dich unterbreche. Der Fredi hatte ich gerade schon zwischen. Da kannst du sogar froh drüber sein, weil der mir schon meine ganze Energie geraubt hat mit sein weinerliches Rumgesülze von wegen seine neue Olle. Wenn ich so ein Scheiß hör, da wackelt mir die Hose. Für euch zwei Intelligenzallergiker gehen mir echt die Schimpfwörter aus. Wenn ihr zwei ein Loch im Kopf hättet und der Arzt müsste das nähen, dann würde man dafür Hohlraumversiegelung sagen. Ich sag dir mal eins, Richard: Wenn dein Vatter nicht so ein guter Fußballer gewesen wäre, dann hätte ich so eine faule Sau wie dich niemals eingestellt. Mein Oppa, der arbeitet doppelt so hart wie du – dabei ist der seit drei Jahre tot. Ich geb dir jetzt derselbe gute Rat, den ich eben der Fredi gegeben habe: Wenn du noch einmal zu spät kommst, dann klingelt es aber, und zwar nicht an deiner Haustür. Dann reiß ich dir der Kopf ab und werf den in die Alteisentonne. Hab ich mich klar genug ausgedrückt, oder hast du noch irgendswelche Fragen?“

Borowka schluckte und erhob sich. Während er sich die verölten Finger an seiner Blaumannhose abstrich, antwortete er mit gesenktem Kopf: „Nein, Herr Oellers. Oder ja, doch. Eine Frage hab ich tatsächlich noch. Dürfte ich in der Mittagspause vielleicht mal der Alfa Spider Probe fahren, den Sie letzte Woche eingetauscht haben?“

Zur selben Zeit betrat Hastenraths Will den Verkaufsraum des Autohauses Oellers und sah sich um. Am Empfang saß das von Heribert Oellers sehr geschätzte Fräulein Regina und widmete sich ihrer Lieblingsbeschäftigung – Fingernägel lackieren. Gleichzeitig führte sie mit ihrem zwischen Schulter und Ohr eingeklemmten Smartphone ein offensichtlich sehr lustiges Privatgespräch, denn immer wieder unterbrach sie ihre eigenen Sätze mit kreischendem Gegacker. Ihre langen Beine, die in schwarz lackierten High Heels endeten, hatte sie übereinandergeschlagen, sodass ihr knapper Minirock weit hochgezogen wurde. Dennoch konnte Will darunter keinen Miederhosenrand erkennen, was ihn zunächst verwunderte. Dann aber kam ihm der Gedanke, dass Regina möglicherweise eine dieser neumodischen Frauenunterhosen trug, bei der große Teile des Stoffs durch dünne Schnüre ersetzt worden waren. Will hatte davon gehört, dass es so etwas geben soll. Seine Frau Marlene trug solche Sachen nicht, jedenfalls nicht, soweit er sich erinnerte. Er zog sein Stofftaschentuch aus der Parkajacke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Blick wanderte wieder hoch und blieb am Ausschnitt der jungen Dame hängen. Seltsam, die Brüste schienen seit seinem letzten Besuch gewachsen zu sein. Will schüttelte sich und sah hinüber zu Fredi Jaspers, der neben dem Empfang an seinem Schreibtisch saß. Aber auch der nahm keine Notiz vom Landwirt, obwohl das schrille Bimmeln der Türglocke ja durchaus der Hinweis auf einen Kunden hätte sein können. Fredi tippte mit eingezogenem Kopf auf seiner Tastatur herum und starrte miesepetrig auf den Computerbildschirm vor sich. Die Tür zu Oellers’ Büro stand sperrangelweit offen, sodass Will davon ausging, dass der Gebrauchtwagenhändler sich in der angrenzenden Werkstatt aufhielt. Da jedenfalls schien eine Menge los zu sein. Das laute Geschepper, das bis in die Verkaufshalle drang, hörte sich an wie ein schwerer Werkzeugkasten, der gegen eine Wand geworfen wurde. Sekunden später wurde die Eisentür aufgerissen und Oellers stapfte mit hochrotem Kopf hindurch. „Heribert, hast du alles im Griff?“, rief Will ihm freundlich entgegen.

Oellers hob den Kopf. Als er seinen alten Freund erblickte, hellte sich seine Miene geringfügig auf. „Ach, Will, altes Scheißhaus. Hör mir bloß auf! Nur Ärger habe ich hier mit meine Leute. Ein Glas Gurken ist schlauer wie die alle zusammen. Vor allen Dingen der Borowka. Der muss mal schwer aufpassen. Ich sag dir: Das ist ein Kerl wie mein Sack, nur nicht so stramm.“

Die beiden schüttelten einander die Hände und Oellers führte Will in sein Büro. Im Vorbeigehen bat er Fredi Jaspers noch, Kaffee zu machen: „Komm, Mr. Honeymoon. Glotz nicht in der Computer wie ein bekifftes Känguru, sondern mach dich mal nützlich. Zwei Kaffee, aber zz – ziemlich zackig.“

Will nahm auf dem Kunstlederschwingsessel für die Besucher Platz. Oellers ließ sich in seinen Chefsessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch fallen und legte die Hände in den Nacken. Mit lauter Stimme begann er zu schwadronieren: „Weißt du, Will. Manchmal frage ich mich, wie lange ich mir der Stress noch antun soll mit der Laden. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber dann denke ich mir auf der anderen Seite: Irgendswie macht es aber auch Spaß, diese ganzen Vollpfosten anzuschreien. Hahaha. Aber du bist bestimmt nicht hier, für dir das Elend anzugucken, womit ich mich hier tagtäglich rumschlage. Was kann ich für dich tun?“

Will knetete seine Hände und antwortete mit leiser Stimme: „Du hast ja mitbekommen, was da am Samstag passiert ist. Und du weißt auch, dass der Peter Kleinheinz ein sehr guter Freund von mir ist.“

Oellers nickte ernst, unterbrach den Landwirt aber nicht.

„Ja, und ich will jetzt versuchen, herauszufinden, was da genau passiert ist. Oder zumindest, warum der Peter das gemacht hat.“

„Das kann ich dir sagen, warum der das gemacht hat. Der hat seine Frau im flagranti mit ein anderer Mann im Bett erwischt und da ist dem die Sicherung durchgebrannt. Ende, Aus, Micky Maus.“

Will seufzte. „Kann schon sein. Aber ich glaub nicht, dass das so einfach ist. Ich meine, man erschießt doch nicht einfach zwei Leute.“

„Will, der Mann ist Polizist. Der ist dadrauf trainiert, Leute zu erschießen.“

In diesem Moment ging die Tür auf und Fredi kam mit einem Tablett herein, das er auf dem Schreibtisch abstellte. Darauf standen zwei dampfende Tassen Kaffee, eine Dose Kondensmilch und eine ungeschickt aufgerissene Packung voller Zuckerwürfel. Oellers wedelte mit der Hand und Fredi verschwand wieder. Will warf sich sechs Stücke Zucker in den Kaffee und rührte ihn bedächtig um.

 

„Wie dem auch sei, Heribert. Ich muss trotzdem unbedingt mal mit der Peter sprechen. Die Polizei schirmt dem total ab. Und eben, nachdem ich der Knuffi nach Hause gebracht habe, bin ich noch mal zu der Kommissar Dohmen gefahren, für dem zu bequatschen. Aber …“

„Oh Mann, Will. Das wollte ich dir die ganze Zeit schon gesagt haben“, unterbrach Oellers ihn plump. „Ist dir eigentlich bewusst, wie lächerlich du dich in Saffelen machst, wenn du immer mit die kleine Töle spazieren gehst? Was ist nur aus dir geworden? Früher bist du ganz stolz mit dein Hofhund Attila durch der Ort flaniert. Ohne Leine. Da hattest du nach ein kurzer Spaziergang drei Anzeigen am Hals. Und heute? Heute ziehst du eine Leberwurst auf vier Beine hinter dir her. Hör mal, die Leute verlieren der Respekt vor dir als Ortsvorsteher.“

„Das ist doch nur, bis meine Frau wieder gesund ist“, verteidigte sich Will halbherzig.

„Trotzdem ist das peinlich. Und außerdem muss man doch mit der Knuffi gar nicht Gassi gehen. Es reicht doch, wenn du den in der Kackbeutel steckst und einmal schüttelst – fertig!“ Will winkte verärgert ab. „Jetzt lass mich doch in Ruhe mit der Knuffi. Hier geht es sich doch um was ganz anderes. Hier geht es sich um das Leben von ein guter Freund, um dem seine ganze Existenz. Und ich kann nix machen. Der Kommissar Dohmen hat für mich gesagt, dass nur ein Anwalt zu Kleinheinz darf. Das Problem ist aber: Der Peter weigert sich, auszusagen, und der will wohl auch kein Anwalt haben. Deshalb habe ich mir jetzt überlegt, dass ich auf eigene Kosten ein Mann für dem engagier. Und der wird dann mein Sprachrohr ins Gefängnis. Und genau deshalb bin ich hier. Du hast mir doch mal erzählt, dass du ein Top-Anwalt hast, der dich überall raushaut.“ Oellers schürzte die Lippen. „Ach, du meinst der Schabowski?! Na ja, Top-Anwalt jetzt nicht im Sinne von Anzug und Krawatte und gute Manieren und so. Aber fachlich ist der super, keine Frage. Es gibt kein Paragrafen-Trick, den der Mann nicht kennt. Und das Gute an dem ist, dass dem alles scheißegal ist. Du glaubst nicht, wie oft ich schon angezeigt worden bin wegen Betrug. Meistens ging es sich dabei um so normale Bagatellsachen, totale Kleinigkeiten. Was weiß ich? Zurückgedrehte Tachos, gefälschte Papiere, zu teuer abgerechnete Ersatzteile, die wir nie eingebaut haben, oberflächlich ausgeführte Reparaturen – normales Tagesgeschäft eben. Ich meine, die Vorwürfe stimmten immer, aber ich habe trotzdem noch nie ein Fall verloren. Im Gegenteil, meistens hat der Schabowksi noch ein fetter Schadensersatz für mich rausgeholt wegen üble Nachrede oder so. Aber ob der sich mit Mörder auskennt, das weiß ich nicht. Außerdem hat der ein kleines Alkoholproblem. Ne Flasche Wodka zum Frühstück ist bei dem keine Seltenheit.“

„Oha“, sagte Will, „ja gut. Aber ich kenn leider kein anderer Anwalt. Wenn ich Probleme mit fremde Leute habe, dann regel ich das immer auf meine Weise. Aber in diesem Fall hier komm ich nicht weiter. Der Dohmen hat mir klipp und klar gesagt, dass ich nicht an der Kleinheinz rankomme.“

„Verstehe.“ Oellers rieb sich das Kinn. „Pass auf, ich schreib dir mal die Nummer von der Günther Schabowksi auf und dann versuchst du dein Glück. Die Kanzlei von dem ist in Kirchhoven. Ja, was heißt Kanzlei? Ich glaub, der wohnt da auch, seit dem vor zwei Jahre die Frau abgehauen ist. Bestell dem ein schöner Gruß von mir. Und lass oft klingeln. Der hat ein gesunder Schlaf, wenn der was getrunken hat.“

Mit dem Zettel in der Hand verließ Will das Autohaus. Auf dem Vorplatz erblickte er Borowka, der gerade dabei war, Unkraut zu zupfen. Der mürrische Gesichtsausdruck des Mechanikers deutete darauf hin, dass es sich wohl um eine disziplinarische Maßnahme handelte. Plötzlich kam dem Landwirt eine Idee und er sprach seinen Hausnachbarn an. „Hör mal, Richard. Ich bräuchte mal dein Knau-hau.“

Borowka knurrte, ohne aufzusehen: „Als was? Als Gärtner?“ Will lachte. „Nein. Als Einbrecher.“

Borowka zuckte zusammen und sah dann doch auf. „Wie, als Einbrecher?! Bist du bekloppt?“

Will musterte ihn kurz und sagte dann leise: „Du bist doch vor zwei Wochen in der Mainacht im Fußball-Vereinsheim eingebrochen, für ein Kasten Bier zu klauen. Richtig?!“

An Borowkas Hals bildeten sich hektische rote Flecken. Er erhob sich und sah sich um. Unbehaglich entgegnete er: „Ja schon … aber, da war ich doch besoffen. Und – woher weißt du das überhaupt?“

Will grinste ihn an. „Ich wusste es gar nicht. Aber jetzt weiß ich’s. Und du willst doch sicher nicht, dass ich das an die große Glocke hänge.“ Borowka schüttelte verlegen den Kopf und Will fuhr fort: „Zuerst mal muss ich dir ein Kompliment machen. Das war handwerklich eine super Leistung von dir, das Sicherheitsschloss zu öffnen. Und du hast überhaupt keine Spuren hinterlassen. Wir waren uns mit der Vorstand einstimmig einig, dass das nur eine Profitruppe aus Rumänien gewesen sein kann. Aber mich hat direkt stutzig gemacht, dass nur der Bierkasten gefehlt hat und die ganzen Computer und Laptops stehen geblieben waren. Die mussten wir nämlich alle selber wegschaffen, damit wir die der Versicherung melden konnten. Aber, wodrauf ich hinauswill: Wenn du das besoffen so gut hinbekommst, dann wirst du so was doch wohl auch nüchtern können, oder?“

Borowka lächelte geschmeichelt. „Ja sicher. Überhaupt kein Thema. Was musst du denn aufgebrochen haben?“

Will sah ihm verschwörerisch in die Augen und sagte: „Wir beide werden heute Abend in das versiegelte Mordhaus einsteigen.“

Borowka erstarrte.

7


Erschöpft ließ Sabrina Nowak ihre Sporttasche im Flur fallen. Sie würde die verschwitzten Sachen später in den Keller bringen. Zuallererst brauchte sie jetzt ein Wasser. Heute hatte ihr Trainingsprogramm in einem neuen Fitnessstudio begonnen, das im Nachbardorf aufgemacht hatte. Schnell war Sabrina unter der Anleitung eines Fitnesscoachs an ihre Grenzen gestoßen, aber ihr Stolz war mächtiger gewesen und sie hatte tapfer durchgehalten. Der Lohn dafür dürfte ein Mörder-Muskelkater sein. Mit einem Glas Wasser ging sie ins Wohnzimmer. Fredi hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Seine Füße, die in abgetragenen, weißen Tennissocken steckten, lagen auf dem Tisch neben einer Flasche Bier und einer halbleeren Tüte Chips. Auf dem 65-Zoll-Plasma-Fernseher, den er bei der Einrichtung des gemeinsamen Hauses durchgesetzt hatte, lief eine DVD seiner Lieblingsserie „Die Simpsons“. Und zwar zum x-ten Mal seine Lieblingsfolge „24 Minuten“, eine Parodie auf seine andere Lieblingsserie „24“. Sabrina quittierte das mit einem langgezogenen Seufzer.

„Hallo Schatz, wie war es beim Training?“, fragte Fredi und warf ihr einen flüchtigen Blick über seine Schulter zu.

„Ziemlich anstrengend. Aber die haben Supergeräte da. Du kannst ja mal mitkommen.“ Sie setzte sich neben ihn auf die Couch und zog die Schuhe aus.

Fredi gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: „Nee, danke. Da laufen mir zu viele Poser rum. Mir reicht mein Fußballtraining einmal die Woche.“

Sabrina sah ein paar Minuten mit ihm zusammen fern und stellte bestürzt fest, dass selbst sie schon einzelne Dialoge mitsprechen konnte. Leicht genervt fragte sie deshalb: „Sollen wir nicht mal ‚Hart aber fair‘ gucken?“

Fredi verzog das Gesicht. „Warum das denn? Da wird doch bloß dumm rumgequatscht. Da haben wir doch wohl im Moment hier in Saffelen genug von.“

„Ja gut, aber Talkshows sind immer noch besser als ein Zeichentrickfilm, den du schon hundertmal gesehen hast.“ Fredi verschluckte sich an seinem Bier. Verwirrt sah er seine Freundin an: „Moment mal. ‚Die Simpsons‘ sind doch kein Zeichentrickfilm.“

„Hää? Was denn sonst?“

Fredi stellte die Bierflasche zurück auf den Tisch und hob den Zeigefinger. „Ja okay, vielleicht ein Zeichentrickfilm, aber doch jetzt nicht so was wie ‚Wickie‘ oder ‚Biene Maja‘. ‚Die Simpsons‘, das ist was für Erwachsene. Für zum drüber nachdenken. Außerdem ist das saulustig, hier mit Homer und Marge und so. Und überhaupt. Ein ganzes Dorf, wo nur Bekloppte leben. Ich find das lustig.“

„Ein Dorf voller Bekloppte. Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, murmelte Sabrina, aber Fredi bekam die kleine Spitze gegen seine Heimat nicht mit, da er bereits wieder in der Handlung versunken war und leise in sich hineinkicherte. Eine Weile beobachtete Sabrina ihren Freund, als plötzlich ein kleines Baby von der Decke herabschwebte und genau in Fredis Arm fiel. Das Kind hatte genau wie er dickes, braunes Haar, das es vorne kurz und hinten lang trug. Die beiden schmiegten sich aneinander und giggelten gemeinsam über Bart Simpson, als der sich mit seinem Skateboard überschlug. Dann ein lauter Knall. Sabrina schreckte hoch und musste sich kurz sammeln. Im Fernseher war ein Atomkraftwerk explodiert. Zum Glück nur das von Springfield.

„Alles klar?“, fragte Fredi leicht besorgt.

„Ähm ja, ich bin wohl gerade kurz eingenickt.“

„Kurz ist gut“, lachte Fredi, „du hast bestimmt zehn Minuten geratzt.“

Sabrina dachte über ihren Tagtraum nach. Dann fasste sie sich ein Herz und schnitt noch einmal das Thema an, das sie offenbar mehr beschäftigte, als ihr lieb war und das am Morgen durch Borowkas Anruf jäh beendet worden war. „Sag mal, Schatz. Du hast noch gar nichts dazu gesagt, ob du dir vorstellen kannst, dass wir beide irgendwann vielleicht mal ein Kind haben.“

Fredi hielt den Atem an. Unsicher griff er nach der Fernbedienung und stellte den Ton aus. Dann drehte er sich zu Sabrina.

„Ach ja, richtig. Da hatten wir ja … da wollten wir noch mal drüber … Also, natürlich, klar, habe ich mir da auch schon mal Gedanken zu gemacht. Das habe ich dir ja quasi im Prinzip auch versprochen, dass ich mir dadrüber ...“

„Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ Sabrina nahm Fredis Hand und streichelte sie.

Er musste schlucken. „Ja, also, im Prinzip spricht ja nix dagegen. Obwohl ich jetzt nicht weiß, wie teuer …“

Sabrina nahm Fredis Kopf in beide Hände und gab ihm einen feuchten Kuss auf den Mund. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr: „Stell dir vor, wir sitzen hier auf der Couch mit einem Fredi im Miniaturformat zwischen uns und gucken gemeinsam ‚Die Simpsons‘.“

Fredi schloss die Augen. Ihm gefiel der Gedanke. Und auch der Duft des Duschgels, nach dem Sabrina roch, gefiel ihm. Kokosnuss. Sabrina streichelte ihm sanft übers Bein. Ihre Hand wanderte immer höher und stieß gegen die Beule in seiner Hose. Fredi stöhnte leise auf.

Sabrina flüsterte ihm ins Ohr: „Oh, was haben wir denn da? Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich gerade große Lust auf dich habe?“

Fredi schüttelte den Kopf. „Nee, nicht so direkt.“

„Komm Schatz, lass uns jetzt hier auf der Couch ein Kind machen.“

Fredi brach der Schweiß aus. Mit sanfter Gewalt löste er sich aus der Umklammerung und sagte: „Moment, ich geh mich eben schnell frisch machen im Badezimmer.“

Sabrina gab ihm noch einen Kuss und hauchte ihm ins Ohr: „Ich warte hier auf dich, Baby. Beeil dich.“

„Ja klar.“

Fredi lief hoch ins Bad und schloss die Tür hinter sich ab. Sein Herz raste. Mit zittrigen Händen zog er sein Handy aus der Hosentasche und tippte hektisch eine Nummer ein. Ungeduldig wartete er, bis am anderen Ende endlich das Gespräch angenommen wurde.

„Borowka!“

„Hör zu, ich hab nicht viel Zeit. Sabrina liegt unten auf der Couch und die will mich verführen. Stell dir vor – einfach so, auf der Couch vorm Fernseher bei normales Licht.“

Borowka brauchte ein paar Sekunden, um den Satz zu entwirren. Dann rief er erfreut: „Ja super. Was ist dein Problem? Ran an der Speck. Hör mal, ich wär froh, wenn Rita mal wieder spontan der Küchentisch freiräumen würde. Aber die Zeiten sind bei uns lange vorbei. Wir brauchen den bloß noch zum Essen. Also, lass der Hammer kreisen!“

„Ja, Moment. Die will aber, dass wir ohne … hier, du weißt schon. Ohne Verhütungsmittel …“

Betretenes Schweigen am anderen Ende. Plötzlich war jede Euphorie aus Borowkas Stimme verschwunden. „Ach du Scheiße. Ich verstehe. Das ist also eine Falle“, begann er, sachlich die Lage zu analysieren. „Pass auf. Lass dich da bloß nicht drauf ein. Sag, du hättest spontan Migräne bekommen, für ein bisschen Zeit zu gewinnen. Und dann lässt du dich die Tage irgendswo in eine holländische Klinik heimlich stilisieren. Ich könnte dir ein paar Adressen besorgen.“

 

„Bist du bekloppt, Borowka?“, rief Fredi entsetzt in sein Telefon. „Du hast mich falsch verstanden. Ich will ja Kinder mit Sabrina haben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das im Moment nicht vielleicht noch was zu früh ist.“

„Okay, beruhig dich erst mal. Du befindest dich gerade in ein psychischer Ausnahmezustand. Ich habe diese Diskussionen gefühlte tausend Mal mit Rita geführt. Aber irgendswann hat die auch eingesehen, dass Kinder bloß Ärger bedeuten. Überleg doch mal. Mit Kinder ist von heute auf morgen Schluss mit Party, Palmen, Sonnenschein. Dann siehst du unsere Stammdisko Himmerich nur noch von außen, wenn du da vorbeifährst, für dein verwöhntes Kind durch die Gegend zu gondeln. Aber das wär noch nicht das Schlimmste, weil du sowieso nicht mehr weggehen könntest. A, weil du keine Zeit mehr hast und B, weil du keine Kohle mehr hast. Da gibst du dein sauer verdientes Geld nämlich nur noch für Babybrei, Windeln und kaputte DVD-Laufwerke aus, wo Schokolade drin geschmolzen ist. Du kannst nie wieder ausschlafen, nie wieder Bundesliga gucken, ständig läufst du mit nackte Füße über Legosteine. Und wenn die Rotzlöffel erst mal reden können, dann löchern die dich der ganze Tag mit bescheuerte Fragen: Warum sind Pizzaschachteln eckig? Warum hat Tarzan kein Bart? Warum stinken Fische, obwohl die ständig baden? Nur so ein Scheiß. Das weiß ich alles von der Ralf Richterich. Der ist doch nur noch ein Schatten von sich selbst, seit der Kinder hat. Aber weißt du, was das Allerschlimmste ist?! Lass dir das von ein Frauenexperte gesagt sein: Kinder machen aus Frauen Mütter! Und das bedeutet im Klartext: Das Vergnügungsviertel im Schlafzimmer wird mit sofortige Wirkung von Amts wegen geschlossen. Und dass die Sabrina sich jetzt gerade unten auf dein Wohnzimmerteppich am rumräkeln ist, das ist alles nur ein Fortpflanzungstrick. Das habe ich mal zufällig bei ‚Discovery Channel‘ gesehen. Erinner dich mal dadran, wie der Grillcontainer hier bei uns in Saffelen aufgemacht hat. Die ersten Wochen gab es Riesenportionen für kleines Geld. Von da an ist das immer weniger geworden. Und heute kannst du froh sein, wenn die paar labberigen Fritten überhaupt richtig heiß sind.“

„Jetzt mach aber mal ein Punkt, Borowka. Du kannst Sabrina doch nicht mit eine Portion Fritten vergleichen.“

„Das ist doch nur ein Beispiel. Oder hier der Sascha Paulussen von der Pastor-Müllerchen-Straße. Der hatte sein ganzes Leben lang keine Freundin. Da lernt der an sein 39. Geburtstag die Natascha kennen. Ein Monat später ist die hochschwanger. Und jetzt muss der die heiraten. Der ist total am Ende der Mann.“

Fredis Puls hatte sich wieder beruhigt. Leise sprach er ins Telefon: „Ist ja gut. Ich hab verstanden, was du mir sagen willst, Borowka. Aber ganz so dramatisch seh ich das gar nicht. Wir wollen ja Kinder. Ich weiß nur nicht, ob das nicht noch ein bisschen zu früh ist. So lange sind wir ja auch noch nicht zusammen.“

Plötzlich hörte er, dass Sabrina die neue „Kuschelrock“ aufgelegt hatte, seine Lieblings-CD. Erneut überkam ihn die Lust, die ihn bereits vorhin im Wohnzimmer fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Die Hormone übernahmen wieder das Kommando in seinem Kopf und strichen alle seine Bedenken mit rosaroter Farbe an. Schnell verabschiedete er sich von Borowka und hatte ihn so schnell weggedrückt, dass er dessen lang gezogenes „Neeeeein!“ gar nicht mehr mitbekam.

Richard Borowka stand in seiner Küche und starrte auf das erloschene Display. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Er hoffte inständig, dass sein Kumpel zur Besinnung kommen würde, bevor es zu spät war. Doch jetzt musste er sich auf seine Mission konzentrieren. Nachdem Rita zu ihrem allwöchentlichen Mädelsabend aufgebrochen war, hatte er alles bereitgelegt, was er brauchte: Werkzeug, Stemmeisen und eine Sturmhaube. Während er auf Hastenraths Will wartete, der ihn abholen wollte, sobald Marlene in der Badewanne saß, trank er sich ein wenig Mut an, um im Falle des Erwischtwerdens auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren zu können. Vier, fünf Wodka-Red-Bull waren kein Problem, da er sich durch den Adrenalinkick, den ihm diese illegale Aktion verlieh, topfit fühlte. Endlich wieder Action. Er streifte seine schwarze Bomberjacke über und fühlte sich dabei wie ein Mitglied der „Avengers“, das sich auf einen Einsatz vorbereitete. Es klingelte. Iron Man griff seine Tasche mit den Wunderwaffen und öffnete die Tür. Dort wartete bereits Captain America in Gummistiefeln.

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