Read the book: «Die Geliebte des Mörders», page 3

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„Hör mal“, rief Will ihr hinterher. „Bis auf Weiteres sind die beiden unsere einzigsten Gäste. Wir warten mit die große Eröffnung von ‚Wills Wald- und Wiesenparadies‘ noch, bis die wieder weg sind. Damit die was Ruhe haben.“

Marlene drehte sich am Treppenabsatz um und erwiderte: „Nee, das geht nicht. Morgen zieht noch ein Gast ein. Ein Schriftsteller, der hier arbeiten will. Den hab ich heute in der Kreisverwaltung getroffen und der ist ganz begeistert von ‚Haus Marlene‘.“

„Wie ‚Haus Marlene‘?“ Wills Augen zuckten nervös. „Was ist das denn für ein Name? Das hört sich ja an, wie ein unseriöses Etablissemeng! Ich denke, wir waren uns schon einig mit der Name. Und was ist das überhaupt für ein komischer Schriftsteller-Gast? Werd ich hier vielleicht auch noch mal wegen irgendswas gefragt?“

Kleinheinz, der ähnliche Eskalationen früher oft miterlebt hatte, griff sofort ein. „Beruhig dich, Will. Das ist doch überhaupt kein Problem, wenn hier noch ein Gast wohnt. Mach dir darüber keine Gedanken.“

Will schnaubte noch einmal laut, regte sich aber schnell wieder ab. Er nahm den Cognacschwenker vom Wohnzimmertisch und erhob ihn staatsmännisch. „Na dann, würde ich mal sagen: Liebe Frau Dingensmaier, lieber Peter. Herzlich willkommen in ‚Wills Wald- und Wiesenparadies‘.“

Der Preis der Freiheit
5

Sonntag, 7. Juni, 8.30 Uhr

Der mit viel Liebe gestaltete Frühstücksraum der Pension hatte es Hauptkommissar Kleinheinz besonders angetan. Will, Schlömer Karl-Heinz und dessen Schwager Horst, ein begnadeter Schreiner und Fensterbauer, hatten sich hier besonders viel Mühe gegeben. Will hatte sich dazu entschieden, den ehemaligen Vorraum zum Schweinestall, in dem früher das Futter angemischt wurde und der auf der rechten Seite an den Kuhstall grenzte, zum Speisesaal umzubauen. Das hatte den Vorteil, dass der Raum von der Küche aus gut zu erreichen war, um Marlene lange Wege zu ersparen. Zum anderen konnte mit einem einfachen Durchbruch ein Zugang zur Treppe nach oben geschaffen werden, sodass die Gäste von ihren Zimmern sofort in den Frühstücksraum gelangten. Die Einrichtung mit den vier rustikalen Eichentischen und den dazu passenden Stühlen mit Sitzkissen war weniger spektakulär als der besondere Clou, den Will sich hatte einfallen lassen. Er hatte in die Wand zum Kuhstall eine riesige Panoramascheibe einsetzen lassen, durch die man nun die Tiere beobachten konnte, quasi ein analoger Livestream aus der Welt der Landwirtschaft.

Kleinheinz stand mit einer Tasse Kaffee vor der Scheibe und sah den Kühen fasziniert beim Fressen zu. „Eine klasse Idee“, bemerkte er anerkennend, „und auch das Frühstück war 1A. Es wird nicht lange dauern, bis ihr eine Fünf-Sterne-Herberge seid. Ich hab vorhin mit Lilly gesprochen. Sie fühlt sich nicht nur sehr wohl hier, sondern sie hat auch zum ersten Mal seit Wochen durchgeschlafen. Das ist im Moment das Wichtigste. Sie muss dringend zur Ruhe kommen. Du kannst dir nicht vorstellen, was die Frau alles mitgemacht hat in den letzten Monaten.“

Will war ganz überrascht von der Leidenschaft, mit der Kleinheinz sprach. Er kannte ihn von früher eher als kühlen Analytiker, was ihn zu der Frage veranlasste: „Hör mal, Peter. Das ist mir gestern Abend schon aufgefallen. Du sagst immer Lilly für die Frau Dinglhuber. Bist du mit das Frollein am Pussieren? Ich mein, du hast dich ja auch für die beiden Zimmer mit die Verbindungstür entschieden. Wodrüber die Marlene sich übrigens gewundert hat, aber ich hab für die gesagt, dass ihr schließlich erst verlobt und noch nicht verheiratet seid.“

Kleinheinz wandte sich ihm zu und antwortete in seiner typisch nüchternen Art: „Wo denkst du hin, Will? Das ist ein rein professionelles Verhältnis, das uns verbindet. Ich bin verantwortlich für ihre Sicherheit und ich bin die einzige Person auf diesem Planeten, der sie überhaupt noch vertrauen kann. Die Frau lebt seit Wochen in ständiger Angst. Da ist nun wirklich kein Platz für romantische Gefühle. Ich glaub, du hast überhaupt keine Ahnung, wie traumatisiert Lilly ist. Ich bin froh, dass ich nach langer Zeit endlich eine Art Verbindung zu ihr hab aufbauen können.“

„Ja gut“, ließ Will nicht locker, „das ändert ja nix dadran, dass die Frau toll aussieht. Außerdem fängt die gerade ein neues Leben an. Warum denn nicht mit dir? Vielleicht wär das für dich genau das Richtige. Heiraten, eine Familie gründen …“

„Vom Heiraten bin ich geheilt“, lachte Kleinheinz bitter auf, „und mit Familie wird das bei mir nix mehr.“

„Wie jetzt?“, fragte Will überrascht.

„Vasektomie!“ antwortete Kleinheinz und grinste verschmitzt.

„Oh Gott“, erwiderte Will besorgt, „ist das eine Krankheit?“

Kleinheinz musste lachen. „Nein! Blödsinn. Ich hab mich sterilisieren lassen. Das ist alles.“

Will war sprachlos. Mehrfach versuchte er, anzusetzen, aber ihm fehlten einfach die Worte. Sterilisation! So etwas kannte er nur von Katzen. „Wie kannst du …“, begann er stotternd, „aber man kann sich doch als Mann nicht … Ich mein … Ist denn bei dir noch alles …?“

„Alles in bester Ordnung“, beruhigte Kleinheinz den konsternierten Landwirt. „Alles intakt. Keine Probleme.“

„Aber … aber“, vor lauter Scham begann Will zu flüstern, „ist das denn nicht besser, wenn die Frau wegen … also, wie soll ich sagen … sich um die Verhütung kümmert? Die können das doch viel besser.“

Kleinheinz’ Grinsen wurde immer breiter. „Will! Das ist doch heute überhaupt nix besonderes mehr. Ich sag mir einfach: Besser, man nimmt die Patronen aus dem Revolver, als dass man immer auf die Schutzweste schießt.“

Kleinheinz lachte. Will lächelte verkniffen, obwohl er den Vergleich nicht richtig verstanden hatte und das Thema generell nicht lustig fand. Dann wurde Kleinheinz wieder ernst. „Weißt du, Will, nach der Geschichte mit Bettina bin ich für immer durch mit Frauen. Eine feste Beziehung kommt für mich nicht mehr infrage. Das Feld überlass ich so Schnöseln wie diesem Schriftsteller.“

„Oh Mann“, nahm Will dankbar den Faden auf, der sie von dem unangenehmen Thema wegführte, „da hat die Marlene ja vielleicht ein Idiot angeschleppt.“

Will hatte seiner Frau am Vortag beim Check-in assistiert. Der neue Gast hieß Jesper Olsen-Meyerbrinck, was Will zu der Annahme veranlasste, dass er wahrscheinlich blutrünstige skandinavische Krimis schrieb. Auf der anderen Seite war der Mann Deutscher und stammte aus Hamm in Westfalen, wie Will dem Anmeldeformular entnehmen konnte. Ganz koscher war er ihm aber nicht. Vor allem dessen dandyhaftes Verhalten und die Tatsache, dass er bei den leicht sommerlichen Temperaturen einen Rollkragenpullover trug, hatten ihn misstrauisch gestimmt. „Ich hab dafür gesorgt, dass der eitle Fatzke das Zimmer ganz am Ende vom Flur bekommt, damit der euch nicht allzu oft überm Weg läuft“, sagte Will und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. „So aufgeblasene Typen kann ich nämlich überhaupt nicht leiden. Gestern hat der sich der ganze Tag nicht sehen lassen und heute Morgen turnt der in aller Herrgottsfrühe hier unten rum. Ich hatte überhaupt keine Ruhe, wie ich mit der Zeitung auf dem Klo saß.“

„Ach, das wird sich schon alles einspielen“, sagte Kleinheinz. „Ich bin auf jeden Fall dankbar, dass du uns hier aufgenommen hast. Ich hatte wirklich ein furchtbar schlechtes Gewissen dir gegenüber, weil ich mich nie bei dir gemeldet habe.“

„Schwamm drüber“, sagte Will und erhob sich ächzend von seinem Stuhl, „Von mein Oppa stammt der Satz: ‚Verzeihen ist eine Eigenschaft der Starken‘.“

„Klingt gut, aber ist das nicht von Gandhi?“

Will runzelte die Stirn. „Gandhi? Kenn ich nicht. Aber viele Leute haben die Sprüche von mein Oppa geklaut. Zum Beispiel auch: ‚Zwischen Leber und Milz passt immer noch ein Pils.‘ Das hat mein Oppa erfunden, heute sagt das jeder.“

Lilly Dinglmaier stand vor dem großen Spiegel, der neben dem Kleiderschrank angebracht war, und betrachtete sich darin. Bis auf die Augenringe gefiel sie sich ganz gut. Durch den Stress der letzten Monate hatte sie zwar fünf Kilo abgenommen, aber das war optisch eher zu ihrem Vorteil, wie sie fand, als sie sich in ihrem leichten Sommerkleid drehte. Nur mit ihrem neuen Namen fremdelte sie noch ein wenig. Lilly Dinglmaier. Klingt irgendwie bayrisch, dachte sie. Dabei hatte sie doch so einen schönen Geburtsnamen: Mariella Romano! Leider ging es beim Zeugenschutz aber um die vollständige Aufgabe der alten Identität. Bloß nicht auffallen, abtauchen, in der grauen Masse verschwinden. Nun gut, es war, wie es war. Sie hatte sich entschieden, aus ihrem alten Leben auszubrechen, und das war auch gut so. Sie war längst schon wieder dabei, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Und hier in diesem bei diesem seltsamen Bauernehepaar gefiel es ihr wider Erwarten richtig gut. Es erinnerte sie an ihre Kindheit, die sie auch auf dem Land verbracht hatte. Zwar in der Toskana, die diesem platten Landstrich nicht allzu ähnlich war, aber trotzdem. Und Kommissar Kleinheinz gefiel ihr auch. Ein interessanter Mann. So geheimnisvoll, so tiefgründig, so distanziert. Ein gut aussehender Mittvierziger mit einer dunklen Seele. Auf solche Typen stand sie.

Es klopfte an der Tür. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie und rief beschwingt: „Herein!“

Die Tür öffnete sich und ein ihr gänzlich unbekannter Mann betrat das Zimmer. Ihre Kehle schnürte sich zu und ihre Augen weiteten sich vor Angst. Als der Mann das bemerkte, sagte er schnell: „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich wollte mich nur kurz vorstellen. Jesper Olsen-Meyerbrinck mein Name. Ich wohne hinten am Ende des Flurs.“

Lillys Puls beruhigte sich wieder. Der Schriftsteller, dachte sie. Sie atmete einmal tief durch und reichte ihm die Hand. „Lilly Dinglmaier.“

Der Mann ergriff ihre Hand und hielt sie fest. „Sie haben wunderschöne Hände, wenn ich das sagen darf. So zart und feingliedrig. Hände sind unsere Visitenkarte.“

Lilly versuchte sich erfolglos aus seinem Griff zu lösen, während er unbeirrt weitersprach: „Ich habe Sie gestern kurz auf dem Flur gesehen, aber dann leider den ganzen Tag nicht mehr. Da dachte ich mir, dass Sie vielleicht der gleichen Profession frönen wie ich, der ich auch die Tage am Schreibtisch verbringe. Ich bin Schriftsteller, wissen Sie.“ Er ließ ihre Hand wieder los.

„Schriftsteller? Das ist ja interessant“, erwiderte sie und hoffte, die Konversation in eine unverfängliche Richtung zu lenken. „Was schreiben Sie denn so?“

Er antwortete mit einem Augenzwinkern: „Früher habe ich Krimis geschrieben, aber mittlerweile bin ich ein Meister der erotischen Literatur. Von mir sind die ‚Madame Cuisse‘-Romane. Davon haben sie doch sicher schon gehört. Eine so sinnliche Frau wie Sie.“

Na, das hatte ja spitzenmäßig geklappt mit der unverfänglichen Richtung. Unvermittelt machte der Mann einen Schritt auf Lilly zu. Sie wich instinktiv zurück. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn. Sie betastete ihr rechtes Bein und spürte unter ihrem Kleid die kleine Pistole, die in einem Oberschenkelholster steckte. Die Zeit im Milieu hatte sie vorsichtig werden lassen. Nicht einmal Kleinheinz wusste von der Waffe. Und wenn der Schriftsteller-Typ ihr zu nahe kommen würde, würde sie nicht eine Sekunde zögern, ihn umzulegen. Ihr Herz raste.

Olsen-Meyerbrinck lächelte schief. „Sie müssen doch keine Angst vor mir haben. Glauben Sie mir, ich bin ein Gentleman.“

Als er einen weiteren Schritt auf sie zumachte, gab es einen lauten Knall. Die Zimmertür war aufgeflogen und mit Wucht gegen die Wand geschlagen. Kommissar Kleinheinz stürmte hinein und warf sich auf den überraschten Mann. Mit einem blitzschnellen Polizeigriff drehte er ihm den Arm auf den Rücken und kniete sich auf ihn. Besorgt sah er auf und fragte Lilly: „Alles okay?“

Sie nickte und strich sich ihr Kleid glatt. Kleinheinz wandte sich wieder dem Mann zu. „Was machen Sie hier im Zimmer … meiner Verlobten?“, brüllte er ihn an.

Der Mann stöhnte vor Schmerzen. „Ihre Verlobte?“, presste er hervor. „Ich hatte ja keine Ahnung. Das ist alles ein großes Missverständnis. Ich dachte, die Dame wär alleine hier und da wollte ich …“

„Inspirationen sammeln für Ihre Schweinkram-Bücher?“ schrie Lilly ihn an und brach unvermittelt in Tränen aus. Warum sahen Männer immer nur das eine in ihr?

Kleinheinz riss Olsen-Meyerbrinck unsanft vom Boden hoch und führte ihn im Polizeigriff auf den Flur. Dort schubste er ihn von sich weg und sagte: „Wenn so was noch einmal vorkommt, dann werde ich dir solche Schmerzen zufügen, wie du sie noch nie erlebt hast. Ist das klar?“

Der Mann hatte sich wieder gesammelt und wischte sich demonstrativ den Staub von seinem Pullover. „Bleib mal locker, Cowboy. Ich hab’s verstanden.“

Als Kleinheinz ins Zimmer zurückkehrte, saß Lilly zusammengekauert auf dem Bett und weinte. Er schloss die Tür und setzte sich zu ihr. „Vergiss das ganz schnell. Der Typ ist ein harmloser Spinner. Mach dir keine Sorgen, hier kann dir nichts passieren. Ich pass auf dich auf.“ Sie sah ihn an und musste noch einmal laut schluchzen. Dann wischte sie sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht und sagte mit einem trotzigen Lächeln: „Das erwarte ich aber auch von meinem Verlobten.“

Kleinheinz wurde rot.

Dunkle Schatten
6

Sonntag, 7. Juni, 21.46 Uhr

„Kannst du der letzte Satz mit die dicke Frau noch mal wiederholen?“, brüllte Borowka in die Freisprechanlage seines Autos, während er wütend auf sein Armaturenbrett trommelte, wohl wissend, dass das nichts bringen würde. Er befand sich auf dem Rückweg von einem Kumpel aus Porselen, dem er gelegentlich half, einen Oldtimer wieder flottzubekommen. Auf der langen Geraden kurz vor Saffelen gab es ein hartnäckiges Funkloch, das Ritas Stimme wie einen geisteskranken Roboter klingen ließ: „Gestern … knack … Gruppenge … knirk … Apfelmus … schsch … haha … knack … gelacht.“

Mit besonders deutlicher Akzentuierung rief Borowka: „Moment Rita. Warte noch ein paar Sekunden, dann kann ich dich wieder verstehen. Ich bin in dieses Scheiß-Funkloch direkt vor Saffelen.“

Es rauschte noch einmal unangenehm, dann war seine Frau wieder klar und deutlich zu verstehen. „Kommst du etwa schon wieder von der bekloppte Richterich mit seine alte Karre?“

„Der Ralle ist nicht bekloppt. Und der Auto wird immer schöner. Wir haben heute der Vergaser gereinigt.“

„Ihr immer mit die alten Autos. Ich bin so froh, dass wir jetzt ein vernünftiges Auto haben und nicht mehr der komische Ford Capri mit die albernen Rallyestreifen.“

Borowka biss sich auf die Lippe. Es fiel ihm schwer, nichts darauf zu entgegnen, aber sein Hausarzt, der die Mutter-Kind-Kur empfohlen hatte, hatte ihm geraten, unnötige familiäre Konflikte so gut es ging zu vermeiden.

„Ja, bin ich auch“, log er stattdessen. „Und der Passat fährt sich auch sehr angenehm. Wie geht es euch zwei denn? Wie ist die Luft am Biggesee?“

Borowka hörte, wie seine Frau an einer Zigarette zog, bevor sie hustend antwortete: „Die Luft ist super. Überhaupt das ganze Klima. Das tut der Jerome richtig gut, der ist schon viel ruhiger geworden. Und die Platzwunde von dem sein Spielkamerad verheilt auch gut.“

„Ach ja, stimmt, das wollte ich auch noch fragen. Ich hab ein Schreiben von unsere Haftpflichtversicherung bekommen. Die wollen wissen, ob der Jerome aus Notwehr gehandelt hat?“

„Natürlich“, echauffierte sich Rita und nahm einen weiteren tiefen Lungenzug. „Der Paul-Emil wollte dem der Negerkuss wegnehmen.“

„Oh, ich glaub, das Wort darf man nicht mehr sagen. Das ist verboten.“

„Ja, aber wenn der Junge doch so heißt.“

Borowka nahm den Fuß vom Gas. Das Neubaugebiet, in das er einbog, war seit einiger Zeit eine 30er-Zone und er war schon zweimal geblitzt worden. Zum Glück sah er seinem Vater recht ähnlich, sodass der für ihn den Führerschein abgeben konnte. Mit Schrittgeschwindigkeit passierte er das Mordhaus und die unheimliche Begegnung von Freitagabend kam ihm wieder in den Sinn. „Du glaubst nicht, wen ich gestern Abend im Auto durch Saffelen hab fahren sehen, wie ich gerade mit der Fredi nach Himmer … äh, nach Hause wollte!“

Nachdem Rita dreimal falsch geraten hatte, platzte es aus ihm heraus: „Kommissar Kleinheinz!“

„Ist nicht wahr?! Wo kommt der denn auf einmal wieder her? Der war doch die letzten Jahre wie vom Erdboden verschluckt.“

„Keine Ahnung. Der fuhr auf jeden Fall so ein kackbrauner Oppa-Mercedes mit Stahlfelgen und …“

„War der allein oder mit eine Frau unterwegs?“

Borowka überlegte kurz. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall, die Felgen waren von Kronprinz. Ich mein, wer käuft denn heutzutage noch …“

Rita unterbrach ihn erneut: „Meinst du, der hat wieder eine Neue? Und was macht der überhaupt in Saffelen? Ich denk, der arbeitet gar nicht mehr in Heinsberg bei der Polizei.“

Borowka verließ das Neubaugebiet und konnte wieder Gas geben. „Ja, keine Ahnung. Der hat bestimmt der Will besucht. So, ich bin jetzt gleich zu Hause, mein Spatzelbär. Was macht ihr heute Abend noch?“

„Wie, was machen wir noch? Es ist viertel vor zehn, der Jerome schläft schon lange. Ich geh auch gleich im Bett. Die anderen Frauen sind zwar unten noch Karten am spielen, aber das sind alles so komische Tanten. So esoterische Vegetarier, die immer rumnörgeln, wenn ich mir am Tisch ’ne Kippe dreh. Ich bin so froh, wenn ich hier weg bin. Außerdem fehlst du mir. Freust du dich denn auch, wenn wir wieder da sind?“

„Boah, super! Das funktioniert“, entfuhr es Borowka. Er war zu Hause angekommen und hatte den Funksender seines neuen Garagenschwingtores bedient, während er in die Einfahrt rollte. Mit einem leisen Surren, aber mit einer Mordsgeschwindigkeit öffnete es sich wie von Geisterhand. Borowka war begeistert. „Wahnsinn. Wir haben jetzt eine Garage, die automatisch aufgeht. Ich hab im Hagebaumarkt so ein Antriebsmotor gekauft. Der war im Angebot. Weil der aber nicht genug Power hatte, hab ich dem ein bisschen frisiert.“ Borowka gluckste vor Vergnügen. „Du kannst gar nicht so schnell gucken, wie das Tor aufspringt. Das ist der Hammer. Ach so, Tschuldigung. Was hattest du gesagt?“

Rita zog wieder an ihrer Zigarette. „Nix, schon gut. Mach dir noch ein schöner Abend.“

„Ja, danke. Mach ich. Du auch. Vielleicht kannst du ja mit die anderen Frauen noch was Karten spielen. Tschööö.“

Borowka beendete das Gespräch und stieg aus. In der Einfahrt stehend, ließ er das Garagentor mit kindlicher Freude noch ein paar Mal schwungvoll auf- und zufahren, bevor er zur Tür ging. Als er den Schlüssel schon ins Schloss geschoben hatte, nahm er im Augenwinkel wahr, wie einige Hundert Meter weiter ein großer SUV parkte. Der Wagen fiel ihm auf, weil er nicht am Bordstein stehen blieb, sondern rückwärts in einen kleinen Feldweg setzte, sodass er, von einer großen Trauerweide verdeckt, aus dem Blickfeld verschwand. Borowka wurde misstrauisch und ging hinter dem wild wuchernden Rhododendronbusch in seinem Vorgarten in Deckung. Von dort beobachtete er den Weg, in dem das fremde Fahrzeug verschwunden war. Minutenlang passierte nichts und Borowka dachte schon, dass sich nur ein Liebespärchen ein ruhiges Plätzchen gesucht hatte, als plötzlich sein Herz aussetzte. Wie in einem apokalyptischen Film traten zwei muskulöse, dunkel gekleidete Personen neben dem gusseisernen Wegkreuz mit dem gekreuzigten Gottessohn aus dem Weg heraus. Ihre Gesichter konnte Borowka in der immer stärker werdenden Dämmerung nicht erkennen, wohl aber, dass jeder von ihnen eine Art Maschinenpistole in der Hand hielt, die wie eine Verlängerung ihrer Arme aussah. Mit entschlossenem Schritt marschierten die beiden die Straße hinauf. Borowkas Atem ging schwer. Was waren das für Typen? Und was wollten die? Als die beiden Männer auf der Höhe seines Hauses waren, kauerte er sich hinter dem Busch zusammen und hielt die Luft an. Der milde Abendwind wehte ein paar geflüsterte Gesprächsfetzen zu ihm herüber. „Wir gehen von hinten über den Hof, von da kommt man gut ins Gebäude. Ich hab die Karte dabei.“

„Ach du Scheiße, die wollen bei Hastenraths Will einbrechen“, schoss es Borowka durch den Kopf. Er wartete, bis die beiden Männer im Feld verschwunden waren, das links neben dem Bauernhof lag. Dann sprang er auf, um zu Wills Haustür zu laufen und ihn zu warnen. In der Hektik fiel ihm dabei jedoch der Funksender aus der Tasche und er trat darauf. In dem Moment, als er an seiner Garage vorbeilief, schwang das Tor blitzschnell auf und erwischte ihn mit voller Wucht seitlich am Kopf. Taumelnd wie ein besoffener Pinguin, ging Borowka zu Boden. Das Letzte, was ihm in den Sinn kam, bevor er sein Bewusstsein verlor, war: „Hammer, der Motor!“

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18+
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25 May 2021
Volume:
203 p. 6 illustrations
ISBN:
9783981663877
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