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§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG)

Inhaltsverzeichnis

I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG)

II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen

III. Die Entscheidung

IV. Annahmeverfahren

V. Prüfungsschema (Zulässigkeit)

VI. Die Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4b GG)

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Fall 1:

Die A-GmbH ist Inhaberin sämtlicher Rechte an dem Arzneimittel „Edelfosin“, das zur Krebstherapie bestimmt ist. Die beiden Gesellschafter sind französische Staatsbürger, Sitz der Hauptverwaltung ist Heidelberg. Ihre Geschäftstätigkeit beschränkt sich ausschließlich auf die Entwicklung dieses Arzneimittels und dessen klinische Erprobung in Deutschland. Die A-GmbH gibt „Edelfosin“ an Ärzte zur Behandlung krebskranker Patienten im Rahmen einer klinischen Prüfung entgeltlich ab. In den Jahren 1986 bis 1994 wird das Medikament an mehr als 1000 Patienten getestet. 1990 lehnt das Bundesgesundheitsamt eine Zulassung des Medikaments ab. Die A-GmbH beschreitet gegen diese Entscheidung den Verwaltungsrechtsweg. 1994 ändert der Bundesgesetzgeber das Arzneimittelgesetz dahingehend, dass zur klinischen Prüfung bestimmte Arzneimittel nur noch kostenfrei an Krankenhäuser und Ärzte abgegeben werden dürfen. Dadurch sollen Krankenkassen und Dritte entlastet werden. Zuwiderhandlungen können straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich sanktioniert werden. Gegen das Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes erhebt die A-GmbH durch ihre Geschäftsführerin wenige Wochen nach dessen Verkündung im Bundesgesetzblatt, aber noch vor Inkrafttreten der Neuregelung Verfassungsbeschwerde. Sie trägt vor, der Verkaufswert ihres Vorrats an „Edelfosin“ sei erheblich. Die Neuregelung ohne angemessene Übergangszeit treffe das Unternehmen vernichtend, da es nun eine von einem anderen Hersteller eingekaufte Substanz kostenfrei abgeben müsse. Sie sei dadurch in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG verletzt. Die betroffenen Patienten, die nun auf eine für sie aussichtsreiche Therapie verzichten müssten, seien überdies durch das Gesetz in ihrem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) verletzt. Einem Antrag der A-GmbH, im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) die Anwendung der Neuregelung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen, kommt das BVerfG nach. Die verwaltungsgerichtliche Klage der A-GmbH gegen die Versagung der Zulassung bleibt in allen Instanzen erfolglos. Die Gerichte begründen dies im Kern damit, dass die therapeutische Wirksamkeit des Arzneimittels nicht hinreichend nachgewiesen sei. In Einklang mit den Regelungen des Arzneimittelgesetzes führt die A-GmbH die Studie bis Ende 1996 weiter. Die Zahl der nach 1996 behandelten Patienten sinkt kontinuierlich auf zuletzt zwei. Im Frühjahr 2001 steht die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an. Wie wird das Gericht entscheiden? Rn 363

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG)

I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG)

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) › 1. Die Entscheidung für die Verfassungsbeschwerde

1. Die Entscheidung für die Verfassungsbeschwerde

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„Die Verfassungsbeschwerde ist die letzte Zuflucht des Bürgers, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt. Ein höchstes Gericht, das zum Hüter der Verfassung bestellt ist, soll ihn vor Übergriffen der Staatsgewalt in seinen unverletzlichen Grundrechten schützen.“ So lautete die Begründung des § 86 im Regierungsentwurf des Gesetzes über das BVerfG, mit dem die Zuständigkeit des Gerichts für Verfassungsbeschwerden gesetzlich begründet werden sollte[1]. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten sich zuvor nicht dazu durchringen können, die Verfassungsbeschwerde (in Art. 98 Nr 8 HChE noch vorgesehen)[2] ins GG aufzunehmen[3].

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In den Beratungen der beiden Entwürfe des BVerfGG[4] im ersten deutschen Bundestag war die Verfassungsbeschwerde rechtlich (konnte der Gesetzgeber sie – gestützt auf Art. 93 Abs. 2 GG – einführen, wo sich der Parlamentarische Rat doch gegen sie entschieden hatte?) und politisch umstritten. Der Abg. Kiesinger (CDU) und andere sahen in der Einführung einer gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt statthaften Verfassungsbeschwerde ein „Zuviel des Guten“, eine „Überjudifizierung“. Auch der Bundesrat hielt sie angesichts der umfassenden, teils durch Artikel 19 Abs. 4 GG gewährleisteten gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten nicht für erforderlich und propagierte bis zuletzt eine nur gegen Rechtsnormen statthafte „Grundrechtsklage“. Gleichwohl setzte sich die Verfassungsbeschwerde schließlich nicht zuletzt deshalb durch, weil sowohl der damalige Oberlandesgerichtsrat im Bundesjustizministerium und spätere Bundesverfassungsrichter Geiger, der den Regierungsentwurf ausgearbeitet hatte, als auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Arndt, von dem die Grundzüge des Entwurfs der SPD-Fraktion stammten[5], von ihrer Notwendigkeit ohne jede Einschränkung überzeugt waren.

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Arndt etwa betonte im Rechtsausschuss des Bundestages, dass die Entscheidung für die Klagbarkeit der Grundrechte ein „halber Schritt“ bleibe, wenn der Bürger den Grundrechtsstreit nicht vor eine letzte Instanz, das BVerfG, bringen könne. Geiger wies darauf hin, dass der Verwaltungsrechtsweg zur Sicherung der Grundrechte nicht ausreichend sei, da die Erfahrung lehre, dass gerade die Verwaltungsgerichte „verwaltungshörig“ seien. Gerichte seien häufig geneigt, Gesetze „unbesehen“ anzuwenden. Wenn aber tatsächlich ein Grundrecht durch ein Gericht verletzt werde, müsse es eine Stelle geben, die dies feststelle. Bedenkenträger wie der Abg. Laforet (CSU), der ua auf die enorme Arbeitsbelastung hingewiesen hatte, die das Verfahren mit sich bringen werde, und der DP-Abgeordnete und spätere Bundesjustizminister von Merkatz, der die Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile als „positivistischen Purzelbaum“ bezeichnet hatte, durch die Möglichkeit, Gesetze und Regierungsakte auf Initiative eines Einzelnen hin einer Nachprüfung zu unterziehen, die Souveränität des Staates bedroht sah und „fast anarchische Zustände“ befürchtete, konnten sich nicht durchsetzen.

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Nachdem der Bundestag das BVerfGG mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der KPD angenommen hatte, verzichtete der Bundesrat trotz unverändert starker Bedenken gegen die Verfassungsbeschwerde auf die letztlich nicht erfolgversprechende Anrufung des Vermittlungsausschusses.

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In der entscheidenden Sitzung des Bundesrates hatte der damalige Bundesjustizminister Dehler vor weiteren Verzögerungen gewarnt und darauf hingewiesen, dass die New Yorker Außenministerkonferenz Erleichterungen des Besatzungsstatuts von der Einrichtung des BVerfG abhängig gemacht hatte. Natürlich könne man gegen die Verfassungsbeschwerde, wie sie der Bundestag jetzt beschlossen habe, Bedenken geltend machen: „Die Gefahr, dass unser Staat zu judiziell wird, dass der Einfluss der Gerichte, auch des obersten Organs, der dritten Gewalt im Staate, des BVerfG, zu groß wird, ist gegeben. Aber unser Grundgesetz ist von vornherein darauf abgestellt gewesen, und ich glaube, dass der Entwurf sich durchaus in dieser Linie bewegt.“

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) › 2. Rechtsgrundlagen

2. Rechtsgrundlagen

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Seit der Errichtung des „verspäteten Verfassungsorgans“[6] im Jahr 1951 also kann „jedermann“ das BVerfG gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG mit der Behauptung anrufen, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG enthaltenen sog. grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein[7].

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Verfassungsrechtlich abgesichert wurde die Verfassungsbeschwerde erst 1969 durch Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG[8]. Angesichts dessen dürfte es kaum vertretbar sein, das Verfahren zum gem. Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungsfesten Kernbestand des GG zu rechnen.[9] Auch Art. 19 Abs. 4 GG „verbürgt keinen subjektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz“ (BVerfGE 99, 1, 19)[10]. Erst Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG verleiht jedermann ein verfassungskräftiges Recht auf effektiven Grundrechtsschutz durch das BVerfG.

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Abgeschafft[11] oder grundlegend verändert werden könnte die Verfassungsbeschwerde daher heute (zur Rechtslage vor 1969 BVerfGE 24, 33, 46 ff) nur noch durch Verfassungsänderung. Die im BVerfGG geregelten Zulässigkeitsvoraussetzungen sind im Lichte der Grundentscheidung des Verfassungsgesetzgebers für einen tatbestandsbezogenen Zugang zum Gericht auszulegen. Weitere, auf Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG und den ebenfalls 1969 ins GG aufgenommenen Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG gestützte Verschärfungen der Zulässigkeitsvoraussetzungen durch den Gesetzgeber müssen wegen des Vorrangs der Verfassung verhältnismäßig sein[12]. Ein das Gericht weiter entlastendes „freies“ Annahmeverfahren[13] etwa könnte nur durch Verfassungsänderung eingeführt werden.

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) › 3. Funktion und Bedeutung der Verfassungsbeschwerde

3. Funktion und Bedeutung der Verfassungsbeschwerde

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Das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist Ausdruck der Achtung, die der Staat gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG der Würde des Menschen schuldet. Durch die Möglichkeit, das BVerfG mit Grundrechtsverletzungen selbst des Gesetzgebers befassen zu können und Grundrechtsverletzungen durch staatliche Behörden und Gerichte nicht hinnehmen zu müssen, erfährt der Einzelne, „dass er nicht nur ein Sandkorn in einer anonymen Massengesellschaft, sondern eine ganz persönlich in ihrer Würde grundrechtlich geschützte Person ist.“[14] Das Verfahren verdeutlicht, dass der Staat des Grundgesetzes in all seinen Erscheinungsformen um des Menschen willen da ist, nicht der Mensch um des Staates willen (vgl Art. 1 Abs. 2 HChE) und dass die Grundrechte des Grundgesetzes in der Tat „unmittelbar geltendes Recht“ sind – subjektive Rechte, deren Verletzung nicht folgenlos bleibt.

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Ein Widerspruch zu den Aussagen in Rn 102 f zur Verfassungsänderungsfestigkeit der Verfassungsbeschwerde ergibt sich daraus nicht: Eine Regelung, die der Gesetzgeber bzw der verfassungsändernde Gesetzgeber trifft, um seiner Pflicht zur Achtung der Würde des Menschen nachzukommen, wird nicht Bestandteil des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG und hat auch nicht Teil an dessen Verfassungsänderungsfestigkeit. Auch mit den Grundrechten des Grundgesetzes beispielsweise erfüllt der Staat des Grundgesetzes seine Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen,[15] und doch sind sie – wie Art. 79 Abs. 3 GG mit dem Wort „und“ zwischen den Artikeln 1 und 20 anzeigt – nicht verfassungsänderungsfest, sondern in gewissen Grenzen wandelbar[16].

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In erster Linie bzw. „primär“ (so BVerfGE 126, 1, 17) dient das Verfassungsbeschwerdeverfahren also der effektiven Durchsetzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Einzelnen: „Die Verfassungsbeschwerde ist kein zusätzlicher Rechtsbehelf für das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten oder Verwaltungsgerichten. Sie ist dem Staatsbürger als besonderes Rechtsschutzmittel zur prozessualen Durchsetzung der Grundrechte oder der diesen gleichgestellten Rechte gewährt.“ (BVerfGE 1, 4, 5). Erst in zweiter Linie tragen die Entscheidungen des BVerfG in diesem Verfahren über den Einzelfall hinaus zur Wahrung, Auslegung und Fortbildung des Verfassungsrechts bei (BVerfGE 81, 278, 290: „fallübergreifende Wirkung der Verfassungsrechtsprechung“). Sie binden alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, sämtliche Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG), haben uU Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Auf diese Weise sichert die Verfassungsbeschwerde auch die Einheit der (Grund-)Rechtsordnung[17].

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Man spricht daher von der Doppelfunktion des Verfassungsbeschwerdeverfahrens: Zum „kasuistischen Kassationseffekt“ kommt ein über den Einzelfall hinausreichender „genereller Edukationseffekt“ (BVerfGE 33, 247, 259) bzw. – zeitgemäßer formuliert – die „Diskursfunktion“ der Verfassungsbeschwerde[18]. Das Verfahren „soll nicht nur nachträglich kontrollieren, sondern den Rechtsfrieden wieder herstellen und für die Zukunft Klarheit schaffen.“ (BVerfGE 56, 249, 268 – SV Böhmer).

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › I. Die Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) › 4. Hohe Eingangszahlen und Strategien zur Entlastung des Gerichts

4. Hohe Eingangszahlen und Strategien zur Entlastung des Gerichts

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Die Jahresstatistik des BVerfG[19] weist für das Geschäftsjahr 2018 insgesamt 5959 Verfahrenseingänge aus, darunter 5678 Verfassungsbeschwerden. Hinzurechnen muss man eine große Zahl weiterer als „Verfassungsbeschwerde“ deklarierter, offensichtlich nicht Erfolg versprechender Eingaben, die gem. § 60 Abs. 2a und Abs. 2b GO BVerfG (zunächst) nur im Allgemeinen Register erfasst wurden (dazu näher Rn 114 f).[20] Es liegt auf der Hand, dass ein aus zwei Senaten zu je acht Richtern bestehendes Gericht (§ 2 Abs. 1 u. 2 BVerfGG) Eingangszahlen dieser Größenordnung kaum sinnvoll bewältigen kann[21]. Das Gericht war von Anfang an überlastet[22].

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Schon Ende November 1951 – also kaum mehr als zwei Monate, nachdem das BVerfG seine Arbeit in Karlsruhe aufgenommen hatte – beschrieb der damalige Präsident des BVerfG Höpker Aschoff die Verhältnisse am BVerfG in einem Brief an Bundesjustizminister Dehler als „nicht gerade erfreulich“. Die Richter des für die Verfassungsbeschwerde damals allein zuständigen Ersten Senats drohten in der „Flut der Verfassungsbeschwerden“ allmählich zu versinken, seien zur Arbeit an den beiden anhängigen Parteiverbotsverfahren und den ebenfalls aufwändigen, langsam zunehmenden Fällen der Normenkontrollen einfach nicht mehr in der Lage. Aus einer Anlage zu diesem Schreiben ergibt sich, dass binnen zwei Monaten in der Tat 322 Verfassungsbeschwerden und weitere etwa 150 Eingaben mit dem Ziel einer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingegangen waren, darunter laut Höpker Aschoff „die krausesten Rechtsfälle in völlig ungeordneter Form“[23].

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Das BVerfGG sah ursprünglich nur die Möglichkeit der a-limine-Abweisung nach § 24 BVerfGG vor. Die Vorschrift ermöglichte es den Senaten, formwidrige, unzulässige, verspätete oder offensichtlich unbegründete Anträge und Anträge von offensichtlich nicht Berechtigten durch einstimmigen Beschluss, der keiner weiteren Begründung bedurfte, zu verwerfen. Im Jahr 1956 wurden im Rahmen einer Änderung des BVerfGG sog. Vorprüfungsausschüsse eingeführt, die aus je drei Senatsmitgliedern gebildet wurden. Sie hatten die Befugnis, Verfassungsbeschwerden durch einstimmigen Beschluss zu verwerfen, wenn von der Entscheidung weder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten war noch dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstand.

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1963 wurde dieses Verfahren, das als unbefriedigend empfunden worden war, durch das Annahmeverfahren abgelöst. Die Vorprüfungsausschüsse konnten nun durch einstimmigen Beschluss die Annahme unzulässiger oder „offensichtlich unbegründeter“ Verfassungsbeschwerden ablehnen. Weil diese Formulierung nicht selten Unmut bei den Beschwerdeführern hervorrief und die Eingangszahlen weiterhin stiegen, wurde die Regelung im Jahr 1970 ersetzt durch eine Formulierung, nach der die Vorprüfungsausschüsse die Annahme einer Verfassungsbeschwerde durch einstimmigen Beschluss ablehnen konnten, „wenn sie unzulässig ist oder aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat“.

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Weiterhin stetig steigende Eingangszahlen veranlassten den Gesetzgeber, das Annahmeverfahren im Jahr 1985 grundlegend neu zu gestalten und die Senate weiter zu entlasten. Die Vorprüfungsausschüsse wurden in Kammern umgewandelt, die nun einer Verfassungsbeschwerde auch einstimmig stattgeben konnten. 1993 wurden die Annahmevoraussetzungen noch einmal verschärft; das Annahmeverfahren erhielt seine heutige Gestalt (dazu ausf. u. Rn 355 ff): Jede Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung (§ 93a Abs. 1 BVerfGG). Sie ist zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt oder wenn es zur Durchsetzung der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte angezeigt ist, was auch dann der Fall sein kann, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht (§ 93a Abs. 2 BVerfGG).

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Im Jahr 2018 wurden 5740 Verfassungsbeschwerden durch Nichtannahmebeschlüsse der Kammern erledigt. 86 Verfassungsbeschwerden wurde durch die Kammern stattgegeben. Die beiden Senate wiesen 15 Verfassungsbeschwerden zurück und gaben zwölf Verfassungsbeschwerden statt.

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Verfassungsbeschwerden, bei denen eine Annahme zur Entscheidung nicht in Betracht kommt, weil sie offensichtlich unzulässig sind oder unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich keinen Erfolg haben können, können gem. § 60 Abs. 2 GO BVerfG zunächst im sog. Allgemeinen Register (AR) des BVerfG registriert werden[24]. Die Einsender werden schriftlich darauf hingewiesen, warum ihre Verfassungsbeschwerde (so) nicht zulässig ist bzw. warum sie keinen Erfolg haben kann. In dem „Merkblatt über die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG“[25], das bei dieser Gelegenheit grundsätzlich mit übersandt wird, findet sich auch ein Hinweis auf die Missbrauchsgebühr, die dem Beschwerdeführer gem. § 34 Abs. 2 BVerfGG auferlegt werden kann. Nur dann, wenn der über die Rechtslage unterrichtete Einsender ausdrücklich oder konkludent eine richterliche Entscheidung begehrt, wird der Vorgang gem. § 61 Abs. 2 GO BVerfG in das Verfahrensregister übertragen.

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Diese nicht unumstrittene Praxis der „Vor-Vorprüfung“ der Verfassungsbeschwerde durch nichtrichterliche Mitarbeiter des Gerichts entlastet das BVerfG erheblich: Im Jahr 2018 wurden 5238 Eingaben und Verfassungsbeschwerden im allgemeinen Register registriert. Davon mussten nur 3094 in das Verfahrensregister übertragen werden.

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Von der Möglichkeit der Verhängung einer Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG macht das BVerfG nur vergleichsweise selten Gebrauch[26]. Sie kommt vor allem in Betracht, wenn das Begehren offensichtlich – also auch für Beschwerdeführer oder dessen Bevollmächtigten erkennbar – unzulässig oder unbegründet ist und daher „von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss“ (vgl etwa BVerfG-K, 2 BvR 1435/05 vom 12.9.2005, Abs.-Nr 2), aber auch dann, wenn die Verfassungsbeschwerde unsachlich ist, beleidigenden oder verletzenden Charakter hat (s. etwa BVerfG-K, 2 BvR 1916/97 vom 23.6.1998, Abs.-Nr 3). Im Jahr 2018 wurden nur neun Verfassungsbeschwerdeführern Missbrauchsgebühren in Höhe von 200 bis 1500 € auferlegt[27].

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Gelegentlich legt das BVerfG – was angesichts der adressatenlosen Fassung des § 34 Abs. 2 BVerfGG möglich ist und der Funktion der Missbrauchsgebühr entspricht – dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers die Missbrauchsgebühr auf, wenn diesem und nicht dem Beschwerdeführer der Missbrauch anzulasten ist (s. dazu exemplarisch die beiden Kammerbeschlüsse 2 BvR 1354/10 vom 11.8.2010 und 2 BvR 1465/10 vom 12.8.2010 und die zugehörige Pressemitteilung Nr 70/2010 vom 2.9.2010 sowie – ein Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren betreffend und mit besonders drastischer „Würdigung“ des Prozessbevollmächtigten – BVerfG, 2 BvR 272/11 vom 13.4.2011, Abs.-Nr 3 ff).[28]

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen