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Christian Firus

Was wir gewinnen, wenn wir verzichten

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Warum Verzichten etwas mit seelischer Gesundheit zu tun hat

Ist Hans ein Loser oder ein Held? Was wir von Hans im Glück lernen können

1. Worauf wir verzichten können

Wenn das Glas voll ist, passt nichts mehr hinein Verzicht auf (noch) mehr

Lieber ankommen als hinterherjagen Verzicht auf Vergleich und Selbstoptimierung

Vom to go zum to be Verzicht auf nebenbei noch schnell

Das Nein zu anderen und das Ja zu mir Der Verzicht darauf, zu gefallen

Entscheidungen treffen Verzicht darauf, sich alles offen zu lassen

Vorfahrt für das Leben Verzicht auf Anspruchsdenken

Verzicht in der Krise Wenn wir plötzlich verzichten müssen

2. Auf der Spur des WENIGER

Was hat Dankbarkeit mit Verzicht und Lassen zu tun?

Warum Verzicht Freude bereitet

Entschleunigung

Die Motivation über das Annäherungsverhalten

Den Körper als Feedback- und Impulsgeber nutzen lernen

Kleine Schritte gehen

Mit Schwierigkeiten rechnen

Persönliche Werte und authentisches Handeln

Nachwort: Das Überleben der Menschheit kann nur mit weniger gelingen

Ausblick

Dank

Literatur

Zitatnachweise

Anmerkungen

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Wir brauchen nicht so fort zu leben,

wie wir gestern gelebt haben.

Macht euch von dieser Anschauung los,

und tausend Möglichkeiten

laden uns zu neuem Leben ein.

Christian Morgenstern

Vorwort

Stellen Sie sich vor, Sie stehen an der Käse- oder Wursttheke, Sie haben 200 Gramm bestellt und werden plötzlich gefragt: »Darf’s auch etwas weniger sein?« Vermutlich würden Sie aus allen Wolken fallen und denken, Sie hätten nicht richtig gehört. So vertraut ist uns die gegenteilige Frage: »Darf’s auch etwas mehr sein?« Sie haben, wenn Sie dieses Buch in der Hand halten, allerdings bereits bewiesen, dass Sie bereit sind, sich genau mit diesem Weniger zu beschäftigen.

Ich möchte Ihnen nichts wegnehmen. Vielmehr möchte ich Ihnen zeigen, was Sie gewinnen, wenn Sie sich mit dem Weniger anfreunden. Die Forschungsergebnisse aus den sogenannten blauen Zonen, in denen überdurchschnitt­lich viele Frauen und Männer – Letzteres erstaunt am meisten – über hundert Jahre alt werden, weisen in Richtung Einfachheit. Es handelt sich bei den blauen Zonen um Re­gionen mit überdurchschnittlich alten und gleichzeitig gesunden Menschen. Der Erstbeschreiber Dan Buettner (»The Secrets of a Long Life«) identifizierte fünf Regionen, die er mit einem blauen Stift – daher der Name – umrandete: Okinawa (Japan), Sardinien (Italien), die Nicoya-Halbinsel (Costa-Rica), Ikaria (Griechenland) und Loma Linda (Kalifornien), wo Siebenten-Tags-Adventisten leben. Wesentliche Bedingungen für ein langes Leben sind täg­liche Bewegung (und damit ist nicht zwangsläufig Sport gemeint), einfaches Essen, ohne sich zu überessen, ein soziales, liebevolles Miteinander in Familie und Freundeskreis, Verbundenheit mit der Natur und Sinnorientiertheit. Viel Geld braucht es dafür nicht!

Es kommt sogar noch besser: Weniger hat das Zeug zum Glücklich-Machen, Weniger bietet auf vielen Ebenen einen Weg zu mehr Gesundheit, Freiheit und Entfaltung. Auf diese Entdeckungsreise möchte ich Sie mitnehmen. Dabei werden wir Hans im Glück als einen vermeintlich verrückten Experten für Verzicht kennenlernen. Ich bin gespannt, ob er vielleicht sogar zu einer Galionsfigur für eine neue Kultur werden kann.

In vielen Bereichen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens wird spürbar, dass das Fass längst voll ist und oft genug bereits überläuft. Dennoch gießen wir munter weiter ein, ohne dass wir uns zur Wehr setzen und Stopp sagen. Die Folgen zeigen sich in einer sehr deutlichen Zunahme von stressbedingten Erkrankungen: Bluthochdruck, Übergewicht und Fettleibigkeit, Suchterkrankungen, Burn-out und viele andere Krankheiten. Und auch der Erde geht an manchen Stellen die Puste aus: durch fortgesetzten übermäßigen Konsum, Rohstoff- und Ressourcenverbrauch und ungezügeltes Wegwerfverhalten.

Die Menschen, die mir mit all dem in der psychosomatischen Behandlung begegnen, möchten raus aus diesem Hamsterrad. Oft finden sie den Ausgang allerdings nicht. Dieses Buch möchte dazu beitragen, rechtzeitig und immer wieder aufs Neue den Ausgang zu finden. Dabei geht es nicht darum, dauerhaft aus unseren privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen auszusteigen oder gar auszuwandern. Aber immer wieder einmal, auch und gerade im täglichen Tun, Abstand zu bekommen von dem, was uns hetzt und treibt, und Zeit und Muße zu finden für die kleinen Auszeiten und Parkbuchten am Wegesrand, dazu möchte ich mit diesem Buch anregen.

Die Vision lautet:

Weniger Fremdbestimmung, mehr Selbstbestimmung!

Weniger Müssen, mehr Wollen!

Weniger (Selbst-)Optimierung, mehr (Gestaltungs-)Freiheit!

Weniger Tun, mehr (Sein-)Lassen!

Weniger Vergleichen, mehr Dankbarkeit!

Weniger Hast, mehr Rast!

Weniger Pflicht, mehr Kür!

Weniger Ich, mehr Miteinander!

Ich wünsche uns allen, dass wir Mittel und Wege dazu finden und ein neues Offensein für Veränderung hin zu mehr Lassen entwickeln. Ängste, darauf weisen unsere menschlichen Erfahrungen hin, gehören dazu, sie wollen erkannt und ernst genommen werden. Nur so können wir sie hinter uns lassen. Picasso spricht einmal von der »Gnade des Gehaltenseins« in der Angst des Loslassens. Das macht Mut, tiefer zu blicken und über die Ängste hinauszuwachsen. Das ist auch notwendig, weil Ängste unsere Entfaltungsmöglichkeiten und unsere Kreativität einschränken und Vorurteile begünstigen. »Wie psychologische Forschung vielfach gezeigt hat, geht Angst mit Genauigkeit, Klein­teiligkeit und Fehlervermeidung einher, nicht jedoch mit Offenheit, gedanklicher Weite und Mut für neue Ideen.«1 Von Letzterem möchte ich in diesem Buch erzählen.

Aus aktuellem Anlass habe ich ein Kapitel zur Corona­krise hinzugefügt. Gerade in dieser Krise werden einige Gedanken, die ich in diesem Buch darstellen möchte, besonders anschaulich.

Ich verstehe mich in sämtlichen Themen dieses Buches nicht als abgehobener Experte, der Ihnen wie ein erleuchteter Meister meilenweit voraus ist. Vielmehr bin ich selbst Lernender, probiere aus, verwerfe und versuche neugierig etwas Anderes. Bei vielem, was ich schreibe, meine ich genauso mich selbst. Ich bin also genauso auf dem Weg wie Sie und die meisten anderen, die sich diesem Thema zuwenden. Gehen wir also zusammen, das macht sowieso viel mehr Freude!

Entscheidungen für etwas, bedeuten immer auch Verzicht auf etwas Anderes. Jedes Ja beinhaltet ein Nein. Das ist mitunter herausfordernd und schwer, es macht am Ende des Tages allerdings lebendig und zufrieden. Unsere Persönlichkeit entwickelt sich nämlich mit den Entscheidungen, die wir treffen. Sie machen uns und unser Leben einzigartig. Mit ihnen behauen wir den Stein, der somit mehr und mehr zu unserer persönlichen Lebensskulptur wird. So gewinnen wir letztendlich viel mehr, als wir zu verlieren meinen, wenn wir Dinge sein- oder loslassen.

Verzichten lernen beinhaltet, so paradox es klingen mag, das Versprechen von Gewinn. Auszusteigen aus der Hetze des Schneller, Weiter und Mehr, des Vergleichens und Hinterherjagens lässt Freiheit und Raum entstehen. Beides sind Grundbedingungen menschlichen Wachsens. Wenn wir uns gegenseitig dabei unterstützen, wird der Gewinn für alle größer werden. Das klingt fast nach einer kapitalistischen Maxime und geht doch gerade darüber weit hinaus.

Warum Verzichten etwas mit seelischer Gesundheit zu tun hat

… dass deine Wahrheit langsam wachsen wird, denn sie ist

Geburt eines Baumes und nicht glücklicher Fund einer Formel.

Antoine de Saint-Exupéry

Verzichten, das klingt zunächst einmal überhaupt nicht verlockend, vielleicht sogar abstoßend. Möglicherweise weckt das Wort ungute Assoziationen aus Kindheit und Jugend. Unter Umständen erinnert es sogar manche an die Kriegs- und Nachkriegszeit, die von Mangel und Verzicht gekennzeichnet war. Wozu soll das gut sein? Und was daran ist gesund?

Diese Fragen sind sehr verständlich. Haben wir doch oft genug die Erfahrung gemacht, dass wir etwas brauchen, um gesund zu werden, dass uns etwas fehlt, was es auszugleichen, zu ersetzen oder zu reparieren gilt.

Und dennoch mehren sich auf vielen Ebenen Hinweise und wissenschaftliche Erkenntnisse über den Gewinn des Lassens und Verzichtens. So hat in den vergangenen Jahren das Intervallfasten für Furore gesorgt. Es beruft sich auf verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse, die besagen, dass ein Nahrungsverzicht über eine Zeitspanne von vermutlich 14 bis 16 Stunden körpereigene Reparaturvorgänge anstößt, die die Körperabwehr stimulieren und Selbstheilungskräfte in Gang setzen. Dem Heilfasten wird schon lange eine solche Wirkung zugesprochen. Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse scheinen dies zu bestätigen. Hier also tragen Verzicht und Weglassen zu einem Mehr an Gesundheit bei. Zumindest in Tierversuchen wurde belegt, dass eine kalorienreduzierte Lebensweise mit einer Lebensverlängerung einhergeht und dass hochgiftige Chemo­therapien im Fastenmodus besser vertragen werden. Mittlerweile wird an der Charité in Berlin dazu auch über die Auswirkung auf den Menschen geforscht.

Lässt sich dies nun auch auf seelische Gesundheit über­tragen?

Der 37-jährige Herr M. war als Entwicklungsingenieur einer großen deutschen Firma seit Jahren erfolgreich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern aktiv gewesen. Seine Erfolge hatten dazu geführt, dass er auf der Karriereleiter schnell nach oben geklettert war. Die Erwartungen an ihn waren damit nicht kleiner geworden. Zunehmend hatte sich etabliert, dass lange vor dem Abschluss eines intensiven Projekts bereits ein neues angestoßen wurde. Hinweise an seinen Vorgesetzten, dass dies zeitlich nicht zu leisten sei, beantwortet dieser stets mit wohlwollendem Schulterklopfen und Sätzen wie: »Das schaffen Sie schon Herr M., Sie sind mein bestes Pferd im Stall, das wissen Sie doch!« Dies führte dazu, dass Herr M. sich mehr und mehr anstrengte, die tägliche Arbeitszeit längst bei zwölf Stunden und mehr angelangt war und er an den Wochenenden zu Hause am Computer weiterarbeitete. Zuletzt nahm er mit seiner Familie nur noch das Abend­essen gemeinsam ein, um sich anschließend zu Hause in sein Büro zurückzuziehen und die Arbeit fortzusetzen.

Lange Jahre hatten ihm sportliche Ausgleichsaktivitäten gutgetan, auch hatte er an den Wochenenden mit seiner Familie und nicht zuletzt in Urlauben entspannen und abschalten können. Dies alles hatte längst aufgehört, ohne dass er es richtig bemerkt hatte. Auf Hinweise seiner Frau reagierte er zunehmend gereizt und verkroch sich immer mehr in die Arbeit.

Im Winter erlitt er einen fieberhaften grippalen Infekt. Da jedoch wieder einmal ein Projekt vor dem Abschluss stand, schleppte er sich wie gewohnt zur Arbeit. Später berichtete er, dass er sich bereits wie in einem Tunnel befunden hätte. Er könne sich nur noch daran erinnern, mit ausgeprägter Luftnot, Schweißausbrüchen, Herzrasen und Druck auf der Brust von einem Notarzt ins Krankenhaus gebracht worden zu sein. Einen Herzinfarkt konnte man ausschließen. Dennoch fühlte er sich derart schwach, dass er zunächst nicht entlassen werden konnte. Ein hinzugezo­gener Facharzt für psychosomatische Medizin diagnostizierte eine Panikattacke und ein schweres Burn-out-Syndrom. Herr M. wurde krankgeschrieben.

Im Rahmen des sich anschließenden Klinikaufenthaltes musste Herr M. feststellen, dass er sich in den zurückliegenden Jahren vollständig verausgabt und erschöpft hatte. Gleichzeitig hatte er den Kontakt zu seiner Familie und auch zu sich selbst verloren. Um den letztlich unerfüllbaren Vorgaben irgendwie gerecht zu werden, hatte er unermüdlich das Tempo erhöht. Wie ein Marathonläufer, der vergisst, während des Laufs ausreichend zu trinken und zwischen den Trainingseinheiten zu regenerieren, war er völlig erschöpft zusammengebrochen. Nun erkannte er in kleinen Schritten, dass es nicht immer um ein Mehr, sondern um ein Weniger an Aufgaben und beruflichen Herausforderungen gehen müsse, um gesundheitlich auf Dauer bestehen zu können. Dem »Ja, wird erledigt«, lernte er ein »Nein, nicht mit mir« entgegenzusetzen. Dies mündete schließlich in der Erkenntnis, den letzten Karriereschritt wieder rückgängig zu machen. Schon aus der Klinik heraus teilte er dies seinem Vorgesetzten mit.

Diese Fallgeschichte zeigt eindrucksvoll, was Millionen Menschen täglich erleben, wenn sie sich im Hamsterrad der Arbeitsverdichtung und unrealistischen Anforderungen befinden und die Lösung in einer fortgesetzten Beschleunigung vermuten. Oft schlägt dann irgendwann die Burn-out-Falle zu, vermeintlich plötzlich, bei genauerem Hinsehen mit vielen Vorzeichen. Dabei kann es sich um körperliche Vorzeichen von Erschöpfung handeln wie Schlafstörungen, unterschiedlichste Schmerzen und andere körperliche Beschwerden wie unbegründetes Herz­rasen oder Schwitzen ohne körperliche Anstrengung und vieles mehr. Die Erholungsfähigkeit lässt nach, man erwacht morgens gerädert und sehnt sich am Montagmorgen bereits nach dem kommenden Freitag.

Die eigenen Gedanken kreisen häufig um Themen wie »Das schaffe ich nicht mehr« oder »Wie soll ich den Tag bloß überstehen?«. Zunehmend kann sich ein Überdruss ge­genüber Kollegen oder in sozialen Berufen gegenüber den Hilfe­suchenden entwickeln. Emotional geht der Schwung für die Aufgaben des Alltags verloren, schließlich auch für die Dinge, die man eigentlich gerne tut.

Man könnte die leidvolle Burn-out-Symptomatik als eine Krankheit des »Zuviel« beschreiben. Ein Ausweg liegt im Weniger. Die Analogie zu einem leer gefahrenen Tank beim Auto kann verdeutlichen, um was es geht: Man wundert sich zunächst, dass man schon wieder tanken muss und stellt dann bei genauerer Betrachtung fest, dass das erhöhte Tempo, das Vollgasfahren, den Tank logischerweise schneller zur Neige brachte. Jeder Autofahrer weiß, dass ein langsameres, umsichtiges, vorausschauendes Fahren spritsparender ist und damit die Reichweite erhöht.

Bei uns selbst verhält es sich durchaus ähnlich: Vollgasfahren erschöpft schneller! Nur sehen wir das in der Regel nicht so rasch und anschaulich wie durch die Tankanzeige beim Auto. Und doch: Die oben erwähnten Frühwarnzeichen könnten bei besserer Kenntnis helfen, rechtzeitig gegenzusteuern. Beim Auto leuchtet das unmittelbar ein, bei uns selbst anscheinend nicht. Ich behaupte, dass die meisten Menschen mit ihrem Auto pfleglicher umgehen als mit sich selbst. Und das, obwohl ein Auto viel leichter zu er­setzen ist.

Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Leistung in unserer Gesellschaft einen extrem hohen Stellenwert hat. Schon im Kindergarten beginnt für nicht wenige Eltern die Vorbereitung auf die spätere Karriere. Der Druck setzt sich in der Schule und dem Studium fort – mit spürbaren Folgen: einer Zunahme von Burn-out und anderen seelischen Erkrankungen in dieser frühen Lebensspanne. Das ist in doppelter Weise bedeutsam. Es beeinträchtigt die Entwicklung in jungen Jahren leidvoll und erhöht die Wahrscheinlichkeit für wiederholte seelische Krisen und Erkrankungen im weiteren Leben.

Der frühe Leistungsdruck spiegelt sich allerdings auch in einer einseitigen Priorisierung von sogenannten Kernkompetenzen wider, die immer weniger Zeit für die vermeintlich unbedeutenden musisch-künstlerischen und sportlichen Fächer lässt. Das gilt für die Schule und die Freizeit. Diese Schwerpunktsetzung ist fatal, weil sie einerseits durch das Wegfallen von Sport- und Bewegungsangeboten den Zivilisationskrankheiten schon früh die Türe öffnet, andererseits die Entwicklungs- und Reifungsmöglichkeiten unseres Gehirns durch Einseitigkeit beschneidet. Denn es ist heute wissenschaftlich gut belegt, dass Bewegung und künstlerisch-musische Betätigung unserem Gehirn beim Reifen und Regenerieren helfen und somit das Lernen erleichtern.2 Und so kommt es zu dem verrückten Paradoxon, dass die einseitige Verlagerung der Unterrichtsinhalte auf Wissensvermittlung in den vermeintlichen Kernkompetenzen genau diesen Wissenszuwachs behindert.

Das »Lassen« durch ein bewusstes Weniger auf unterschiedlichen Ebenen wird zu einem wichtigen Ausweg aus der Krise. Zu ihm gehört auch das Nein-Sagen, ohne das ein Lassen nicht geht. Dass dies meist ein Ja zu mir selbst bedeutet, wird oft erst im Laufe eines inneren Prozesses deutlich, der nicht nur einfach ist. Dieses Ja zu mir selbst bedeutet einen Abschied von Perfektion und Selbstoptimierungszwang, unter dem viele Menschen zunehmend leiden. Im Vergleich mit anderen scheint immer etwas unzureichend und verbesserungswürdig. Hier liegt eine Triebfeder für die beschriebene Dynamik von schneller, höher, weiter, besser, erfolgreicher.

Die gegenwärtig an Fahrt gewinnende Klimadebatte sowie der extreme Ressourcenverbrauch der Menschheit machen auch global deutlich, dass wir, unsere Nachkommen, die Menschheit als Ganzes nur eine Chance haben werden zu überleben, wenn uns ein Weniger gelingt. Dass dies nicht mit einer miesepetrigen Stimmung einhergehen muss, sondern durchaus von Freude und Dankbarkeit geprägt sein kann, davon möchte ich in diesem Buch be­richten.

Darf’s auch ein bisschen weniger sein? Vielleicht werden Sie am Ende der Lektüre dieses Buches darauf mit Ja antworten, aus freien Stücken und mit einem guten Gefühl. Das wünsche ich Ihnen und uns als menschliche Gemeinschaft! Übrigens sind Sie längst nicht mehr alleine mit diesem Thema. Vielmehr entwickelt sich spätestens seit der weltweiten Bewegung von Fridays for Future eine neue Sichtweise auf ein eigentlich uraltes Erfahrungswissen. Aus der Angst, etwas zu verpassen und abgehängt zu werden und deswegen zu konsumieren und hinterherzujagen (FOMO = Fear of missing out), entwickelt sich mehr und mehr die Lust am Lassen (JOMO = Joy of missing out)! Lassen Sie uns dabei sein und gemeinsam neue Erfahrungen machen mit diesem lebendigen und lebensverlängernden Elixier!

Ist Hans ein Loser oder ein Held?
Was wir von Hans im Glück lernen können

Ich glaube, es kommt nicht so sehr darauf an,

was wir sehen können, sondern vielmehr darauf,

wofür wir unseren Blick öffnen.

Ralf Isau, Der silberne Sinn

Hans hatte sieben Jahre bei seinen Herren gedient. Vermutlich handelte es sich um die vereinbarte Zeit, vielleicht die seiner Ausbildung, darüber jedenfalls spricht das Märchen nicht. Sein Meister dankt ihm und entlässt ihn mit einem Stück Gold als Lohn, ein Zeichen dafür, dass Hans rechtschaffen und schwer gearbeitet hatte. Glücklich packt Hans den Goldklumpen in ein Tuch und macht sich auf den Heimweg zu seiner Mutter. Da dieser Goldklumpen offensichtlich ordentlich groß ist, beginnt er ihn schon bald zu drücken, was offensichtlich ein herannahender Reiter bemerkt. Für diesen scheint es ein Leichtes zu sein, Hans von einem Tausch »Gold gegen Pferd« zu überzeugen. Hans willigt überglücklich und dankbar in diesen Tausch ein und schwingt sich auf das Pferd, um seine Reise fortzusetzen.

Zunächst fühlt Hans sich vom Glück begünstigt und so lässt er das Pferd bald schneller reiten. Da er jedoch des Reitens unvertraut ist, fällt er rasch vom Pferd und landet unwirsch in einem Graben. Dies sieht zufällig ein heranna­hender Bauer, der eine Kuh vor sich hertreibt. Da Hans nach dieser Erfahrung keinesfalls wieder das Pferd besteigen möchte, willigt er in einen erneuten Tausch »Pferd gegen Kuh« unverzüglich und freudestrahlend ein. Hans hatte diesen Tausch auch unter der Vorstellung vollzogen, dass er seine Kuh jederzeit melken könne, um damit seinen Durst zu stillen. Als er dies jedoch im ersten Anlauf nicht zustande bringt, sondern vielmehr noch einen Tritt kassiert, ist er wiederum heilfroh, dass ein weiterer Bauer bereit ist, die Kuh gegen ein Schwein zu tauschen.

Wenig später begegnet Hans einem jungen Mann mit einer gemästeten Gans. Sie kommen ins Gespräch und Hans erzählt freimütig von seinen glücklichen Tauschgeschäften. Listig erfindet der junge Mann die Geschichte eines entlaufenen Schweins im Nachbardorf und bietet großzügig seine Hilfe an, die darin besteht, das Schwein gegen seine Gans zu tauschen. Hans, wie könnte es anders sein, willigt erneut dankbar und freudestrahlend ein und setzt seine Wanderschaft nun mit der Gans fort. Er gelangt in ein Dorf und trifft auf einen munteren Schleifer, der ihn schon bald davon überzeugt hat, dass das Handwerk des Scherenschleifens eines der auskömmlichsten ist. Es kommt wie es kommen muss, Hans und der Schleifer tauschen Gans gegen Wetzstein. Auch dieser Stein ist nicht leicht und so ruht sich Hans schließlich bei nächster Gelegenheit an einem Brunnen aus. Als er den Wetzstein am Brunnenrand ablegt, um sich zum Trinken herabzubeugen, fällt ihm der Stein in die Tiefe des Brunnens. Als Hans dies bemerkt, springt er vor Freude auf, kniet sich nieder und dankt seinem Gott unter Tränen, dass er ihm diese Gnade erwiesen hat, ihn von einem schweren Stein zu befreien. Laut ruft er aus: »So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne, ich muss in einer Glückshaut geboren sein.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last setzt er den Weg zu seiner Mutter nach Hause fort.

Was für ein Märchen! Es bricht mit allem, was man üb­licherweise von Märchen erwartet. Kein verwunschener Prinz wird wachgeküsst, kein Dornröschen befreit aus hundertjährigem Schlaf, kein Wolf getötet und in den Brunnen geworfen. Vielmehr scheint es die Geschichte eines Tölpels und Antihelden zu sein, eines Versagers auf der ganzen Linie. Wie soll man sich an solch einem Typen ein Beispiel nehmen?

Und doch hatten die Gebrüder Grimm offensichtlich gute Gründe, auch dieses Märchen in den Kanon ihrer berühmten Sammlung aufzunehmen und es auch noch Hans im Glück zu nennen. Ich vermute, dass die Frage, was denn das für ein Glück sein soll, nicht nur aus der heutigen Perspektive, sondern schon zu Zeiten der Gebrüder Grimm eine war, die zum Nachdenken Anlass gab. Wenn es etwas gibt, was Hans kann und offensichtlich als Glück empfindet, dann ist es das Lassen, das Verzichten. Ganz offensichtlich spürt er einen Zugewinn an Freiheit, je mehr er sich von all dem, was er hat, trennt.

Hans nimmt damit bereits Ansätze der Sharing Economy vorweg, die darauf verweist, dass man etwas tauschen kann, wenn man es braucht, und es nicht selbst anschaffen muss. Dies scheint uns heute fremd, aber wir können es uns neu bewusst machen und es ausprobieren.

Die Kunst des Lassens, Loslassens und Seinlassens zu praktizieren, bedeutet, die vielen verschiedenen Formen des Festhaltens aufzugeben: Festhalten von Ereignissen, die vergangen sind; Festhalten von Plänen für etwas, das zukünftig sein soll; Festhalten an Kränkungen und Enttäuschungen; Festhalten von Erwartungen, Meinungen oder auch von Dingen, die das Leben nicht mehr bereichern, sondern die nur Raum einnehmen und einengen: Hausrat, Möbel, Kleidung, Bücher …

»Loslassen ist ein inneres Verabschieden. Es ist etwas, das wir lernen müssen: Reflexhaftes Anklammern ist etwas, das wir von Natur aus können. Loslassen – vor allem als eigene Entscheidung und nicht, weil das Schicksal uns dazu nötigt – müssen wir erst üben. Helfen kann dabei das Staunen über die Verwandlungskraft der Natur, die ein Gegengewicht zum ängstlichen Festhalten am Gewohnten und Vertrauten ist.«3 Hans, so scheint es, hat das begriffen und umgesetzt, was Brigitte Dorst als Kunst beschreibt. Er lässt ohne Murren los und fühlt sich dabei zunehmend freier. Er entscheidet sich aus freien Stücken dazu, indem er die sich dafür bietenden Gelegenheiten nutzt. Hans’ Glücksrezept ist das Lassen, das Sich-Befreien von Ballast. Interessant, dass er das als Ballast empfindet, was die meisten als Quelle des Glücks beschreiben würden.

Dass Geld (alleine) nicht glücklich macht, ist längst bekannt. Dass damit nicht gemeint ist, dass es ohne Besitz leichter und einfacher im Leben wäre, ist natürlich genauso klar. Das Märchen hat allerdings das Potenzial, die eigenen Werte abzuklopfen und sich damit auseinanderzusetzen, was für einen persönlich wirklich wichtig ist. Das kann zum Beispiel bedeuten, den nächsten Karriereschritt kritisch zu hinterfragen oder die Arbeitszeit zugunsten freier Zeit zu reduzieren, auch wenn das mit finanziellen Einbußen einhergeht.

Es geht im Leben häufig um die immateriellen Dinge, an denen wir hängen bleiben und die dadurch viel Energie ziehen: alte Kränkungen und Enttäuschungen, Erwartungen an andere, an das Leben und auch an mich selbst, die, warum auch immer, nicht in Erfüllung gingen. Viele Beziehungen scheitern, weil über Verletzungen nicht gesprochen wird, weil man erwartet, der andere solle den ersten Schritt tun, das sei doch das Mindeste. Dieses Festhalten entfaltet manchmal ein tödliches Gift. Aus der Resilienzforschung allerdings ist schon lange bekannt, dass das Verlassen der Opferrolle mit einem deutlichen Zugewinn an seelischer Gesundheit einhergeht. Wem es gelingt, aus diesem Kreislauf unguter, kräfteraubender Gefühle auszusteigen, wird oft eine Entlastung, eine Befreiung von altem Ballast erleben. Und auf einmal erscheint die Haltung von Hans tatsächlich ein Glücksrezept zu sein.

Haben Sie schon einmal die Erfahrung gemacht, sich in die Sichtweise des Gegenübers einzufühlen und in Betracht zu ziehen, dass dessen Meinung genauso zutreffend sein könnte wie die eigene? Was wäre, wenn er oder sie recht hätte? Was würde sich dadurch verändern? Könnte ich dabei etwas gewinnen? Aus der Hirnforschung wissen wir, dass wenige Inputs von außen zu Millionen Verschaltungen im eigenen Gehirn führen. Mit anderen Worten: Wahrnehmung ist immer höchst subjektiv und von unseren unzähligen bewussten und meist unbewussten Vorerfahrungen abhängig. Sie ist also keineswegs objektiv und deswegen nicht unfehlbar! Es kann sehr befreiend sein, der eigenen Meinung gegenüber immer mal wieder skeptisch zu sein.

Manchmal passiert Loslassen im vermeintlichen Scheitern und somit sicherlich nicht freiwillig. Der tiefe Fall des ehemaligen Bertelsmann- und Arcandor-Chefs Thomas Middelhoff, der 2014 wegen Steuerhinterziehung und Untreue verurteilt wurde, erzählt davon. Er saß deswegen 24 Monate im Gefängnis. 2017 wurde Middelhoff vorzeitig aus der Haft entlassen. Privatjet, Villen und die Motoryacht, das dreistellige Millionenvermögen – alles weg. Er bekennt sich zu narzisstischen Zügen in seiner Persönlichkeit, er habe um die Aufmerksamkeit der Medien gebuhlt und wollte immer noch bekannter und präsenter sein. Deswegen habe er alles verloren.

Als Wendepunkt beschreibt er seine Arbeit in einer Behindertenwerkstatt als Freigänger während seiner Haft. Es habe ihn glücklich gemacht, etwas Gutes und Sinnvolles zu tun und mit diesen Menschen frohe Momente zu erleben, in denen Geld überhaupt keine Rolle spielte. Heute wünscht er sich, dass alle Manager ein paar Wochen oder besser Monate soziale Arbeit im Rahmen ihrer Ausbildung leisten sollen. Als weiteren entscheidenden Schritt seines Umdenkens in dieser Zeit beschreibt er seine Bekehrung zum christ­lichen Glauben. Er habe darauf vertrauen gelernt, dass Gott ihn halte, egal was passiert. Bei all dem habe er Demut gelernt und die Verantwortung für sein Scheitern übernommen.4

Ob Middelhoff tatsächlich ein Gescheiterter ist? Ich wage das zu bezweifeln. Er hat gefunden, was mit Geld nicht aufzuwiegen ist: Zufriedenheit und (spirituelle) Verbundenheit.

Eine ähnliche Erfahrung machte Mitte der Neunzigerjahre auch der Liedermacher und Schriftsteller Konstantin Wecker. Durch seinen exzessiven Drogenkonsum ruinierte er sich nicht nur körperlich, er verlor auch so gut wie alles, was er bis dahin besaß. Er machte eine ähnliche Erfahrung wie Middelhoff, begann intensiv zu meditieren und entwickelte eine Spiritualität, die bis heute auch bei seinen Konzerten spürbar und erlebbar ist. Wecker hat sich unter anderem in seinen Büchern Die Kunst des Scheiterns und Das ganze schrecklich schöne Leben öffentlich zu diesem Le­-

bens­abschnitt bekannt. Er ist davon überzeugt, »dass die Vergangenheit auch in der Gegenwart liegt«. Eine bud­dhis­tische Erkenntnis, aus der folgt, »dass wir die Ver­gan­gen­heit ändern können, indem wir die Gegenwart verwan-deln.«5 So gesehen gibt es vielleicht gar kein Scheitern.

Noch einmal zurück zu Hans. Mir scheint wichtig zu sein, dass Hans auf einer ganz bestimmten Reise ist, nämlich auf dem Weg zurück zu seiner geliebten Mutter. Wollte man dies als ödipale Verstrickung eines längst erwachsenen Mannes deuten, würde man das Märchen gänzlich missverstehen. Vielmehr scheint es Hans um einen derart tiefen inneren Wert zu gehen, der alles Äußerliche, und sei es Gold und Geld, nebensächlich erscheinen lässt. Hans setzt auf Verbundenheit, Zugehörigkeit und Liebe. Damit fokussiert er auf das, was zahlreiche wissenschaftliche Studien als den wichtigsten Grundpfeiler für Lebenszufriedenheit und Glück identifizieren: Gelingende Bindungserfahrungen und glückende menschliche Beziehungen. So die Ergebnisse der Grant and Glueck Study der Harvard Medical School.

Die Studie ist schon deswegen beachtenswert, weil sie seit 1938 Menschen nach dem befragt, was sie wirklich glücklich und zufrieden macht. Dafür werden diese Menschen zum Teil durch ihr ganzes Leben begleitet und immer wieder befragt. Nicht Karrieren, Erfolge, Geld und Ruhm stellen sich als das Glückselixier heraus, sondern gelingende Beziehungen. Middelhoff bestätigt in dem zitierten Interview, dass seine Beziehung zu seiner geschiedenen Frau und seinen Kindern heute besser sei als zu den Zeiten seines vermeintlichen Erfolgs.