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Inhalt

Chris Vandoni

Impressum

Über den Autor

PROLOG

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EPILOG

Dank

Die Sphären-Trilogie

Chris Vandoni

Die Kolonie Tongalen

1. Teil der Sphären-Trilogie

Roman

Impressum

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Spiegelberg Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

2. Auflage 2015

ISBN 978-3-939043-65-2

© Spiegelberg Verlag, Schweiz 2015

Covergestaltung & Datenkonvertierung: Marktfotografen GmbH, www.marktfotografen.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung vom Spiegelberg Verlag reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Spiegelberg Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Sie finden uns im Internet unter www.spiegelberg-verlag.com

Über den Autor

Chris Vandoni stammt aus dem Tessin, lebt aber seit der Kindheit in der deutschen Schweiz und ist in der IT-Schulung tätig. Der langjährigen Freundschaft mit dem 2005 verstorbenen Perry-Rhodan-Autor Walter Ernsting (Clark Darlton) entsprang die Inspiration zum Schreiben. Erste unveröffentlichte Romane entstanden bereits in den 80er-Jahren.www.vandoni.ch

In Gedenken an Walter Ernsting,einem Visionär und Freund.

PROLOG

Die schwülwarme Luft im Raum ließ jeden Atemzug zu einer schweißtreibenden Qual werden. Zahlreiche Fliegen hingen lustlos an den Wänden und an den offenen Fensterscheiben. Der Deckenventilator tat seine Pflicht, ohne dabei größere Wirkung zu erzielen.

Michael O’Donovan legte seinen Füllfederhalter beiseite, wischte sich den Schweiß von der Stirn und erhob sich mühsam. Sein Sessel knarrte erleichtert, als ob er sich über die Befreiung von einer schweren Last freuen würde.

Während Michael sich an die Schreibtischkante stützte, drehte er sich um und sah aus dem Fenster. Das Sonnenlicht, das an die brüchige Fassade der gegenüberliegenden Häuser prallte, blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und nahm seine Lesebrille ab.

Die Aussicht erinnerte ihn an seine Jugendzeit im fernen Heimatland. In den letzten Jahrzehnten hatte sich hier nichts verändert. Die Technik war irgendwo außerhalb der Wüste von Nevada stehen geblieben. Es machte den Anschein, als wäre das Gebiet von Zivilisation und Fortschritt völlig vergessen worden. Doch das kümmerte die spärlichen Einwohner herzlich wenig.

Über der staubigen Straße vollführte die heiße Luft einen flimmernden Tanz. Der vom letzten Sturmwind umhergewehte Unrat sammelte sich im Rinnstein.

Michael griff nach seinem an der Fensterbank angelehnten Stock. In vorauseilenden Gedanken traf er sich gleich nebenan in der Bar, wo er sich jeden Abend mit seinen Freunden noch einen Whisky genehmigte. Eilig hatte er es nie, sich dort einzufinden. Er genoss die Zeit davor, in der er sich in bescheidener Weise darauf freuen konnte.

In Down Hill war Eile ein Fremdwort. Dafür war der winzige Ort, mitten in der Einöde, viel zu abgeschieden und zu unbedeutend. Farmer und alteingesessene Menschen mit Traditionen, die in weitem Umkreis um das Städtchen lebten, ließen sich höchst selten hier blicken. Für die wenigen, meist älteren Einwohner, war jeder Tag wie der andere.

Michael drehte sich um. Er hatte sich vorgenommen, vor dem Verlassen des Büros noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Schon den ganzen Tag hatte er versucht, daran zu denken, um es am Ende nicht zu vergessen. Bedächtig ging er zum Aktenschrank, schloss ihn auf und entnahm ihm eine digitale Datenkarte. Anschließend bewegte er sich zu einem zweiten Sessel neben dem Schreibtisch, auf dem sein Aktenkoffer geduldig wartete.

Er legte die Karte mit einer langsamen Bewegung zu den anderen Sachen, als ob er darauf achten müsste, dass nichts verloren ging. Er schloss den Deckel des Koffers, stützte sich und hob ihn auf.

Bevor er sich zur Tür drehte, blieb er einen Moment stehen und bedachte die Schreibtischoberfläche mit einem prüfenden Blick. Alles lag an seinem Platz. Ordnung war sein oberstes Gebot. Er hätte blind nach jedem Gegenstand greifen können, alles würde er auf Anhieb finden. Ähnlich eines Rituals hatte jedes Ding seit Jahren seinen angestammten Platz.

Michael O’Donovan wandte sich um und schlurfte dem Ausgang entgegen. Er war in seinen alten Tagen nicht mehr der Schnellste, konnte es sich jedoch leisten, sich Zeit zu nehmen. Der knarrende Fußboden gab seinen gewohnten Monolog von sich.

Als er die Tür erreichte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Obwohl sein Gehör nicht mehr zum allerbesten zählte, glaubte er, ein fremdes Geräusch vernommen zu haben.

Langsam drehte er den Knauf. Das Klicken des Türschlosses ließ ihn zusammenfahren. Vorsichtig zog er den Griff zu sich heran.

In der Folge ging alles sehr schnell. Während ihm die Tür entgegenknallte, zischten zwei Strahlenschüsse durch die Öffnung, die ihn mit voller Wucht in den Raum zurückschleuderten. Er fiel hart zu Boden. Unwillkürlich griff er sich an die Brust und betrachtete anschließend seine Hand. An seinen Fingern klebte Blut, sein Blut. Gleichzeitig spürte er den stechenden Schmerz in der Lunge.

Die Erkenntnis war grausam, aber niemand konnte sie ihm durch eine andere ersetzen. Keinen Whisky mehr mit seinen Freunden, keine Spaziergänge mehr mit seinem treuen Vierbeiner, keinen Sonnenuntergang mehr auf seiner gemütlichen Veranda.

Aus den Augenwinkeln sah er zwei Männer in sein Büro stürmen, die sich zuerst an seinem Schreibtisch und anschließend am Aktenschrank vergingen.

»Nichts«, sagte einer der beiden nach einer Weile mit rauer Stimme und stieß einen derben Fluch aus.

Michael hörte, wie Gegenstände zu Boden fielen, wie Papier zerknittert und Gegenstände umgestoßen wurden.

»Hier, der Aktenkoffer«, rief der andere aufgeregt. »Vielleicht ist sie da drin.«

Der Koffer wurde auf den Schreibtisch entleert und respektlos weggeworfen. Krachend fiel er von der Wand zu Boden.

»Da ist sie.«

Plötzlich war alles still. Die Einbrecher schienen ihren Fund zu kontrollieren und zu begutachten. Dann steckten sie ihn in ihre Tasche und stürmten mit polternden Schritten aus dem Raum.

Michael spürte einen weiteren Stich. Das Atmen bereitete ihm große Schwierigkeiten. Er wusste, dass die Begegnung mit dem Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Er fühlte den Schmerz kaum noch.

Seine letzten Gedanken rasten zurück in seine Jugendzeit, in seine Heimat nach Clonakilty an der irischen Südküste, wo sein Vater und er oft mit dem Fischerboot aufs Meer hinausgefahren waren. Obwohl er selbst nie viel für den Anglerberuf übrig gehabt hatte, bescherten ihm die Erinnerungen daran ein Quäntchen Trost auf seinem bitteren Weg.

Er spürte ein leichtes Bedauern, dem Handwerk seines Vaters nicht mehr Interesse entgegengebracht zu haben. Damals hatte er die meiste Zeit hinter Büchern verbracht. Seine Faszination von Recht und Gesetz zog ihn nach der Schule nach Dublin, um dort das Jurastudium zu absolvieren.

Nach dem Tod seiner Mutter wanderte sein Vater mit ihm nach Amerika aus. Er erwarb dort von seinem Bruder ein Stück Land, um eine neue Existenz zu gründen. Mit der neuen Heimat hatte sich sein Vater jedoch nie richtig anfreunden können. Und so starb er ein paar Jahre später.

Michael verkaufte die Farm und übernahm die Anwaltspraxis seines Onkels, der sich in der Zwischenzeit zur Ruhe gesetzt hatte.

Mit seinen neunundneunzig Jahren würde nun hier und jetzt seine Anwaltskarriere, die eigentlich gar nie eine gewesen war, zu Ende gehen. Er würde seiner geliebten Frau folgen, die den Weg in die Ewigkeit schon vor langer Zeit angetreten hatte, ohne ihm Nachkommen geschenkt zu haben.

Ein weiterer schmerzhafter Stich ließ ihn zusammenzucken und holte ihn aus seiner Rückblende. Sein Herz schlug nur noch schwach. Ein letztes Mal ließ er den mittlerweile getrübten Blick durch den Raum kreisen. Er konnte keine Einzelheiten mehr erkennen.

Dann senkte sich die Dunkelheit über ihn.

1.

Ernest Walton saß im Cockpit seines Raumgleiters Space Hopper und ärgerte sich über die lange Wartezeit, die ihm von der Raumhafenkontrolle von Geneva aufgebrummt worden war. Es war jedes Mal dasselbe, wenn er hierher kam. Obwohl Geneva mittlerweile der wichtigste Raumhafen Europas war, schaffte man hier immer noch keinen flüssigen Ablauf von Starts und Landungen. Wenn Ernest zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass es nie und nirgendwo anders gewesen war. In Cork, dem regionalen Raumhafen an der irischen Südküste, keine Stunde von seinem mittlerweile selten besuchten Wohnort entfernt, war es noch schlimmer. Nur dank gelegentlichen Sondergenehmigungen, vermittelt von seinem langjährigen Freund Rick Blattning, dem Inhaber eines der größten Technologiekonzerne und gleichzeitig Mitglied des Diplomatischen Rats der Erde, wurden ihm ab und zu schnelle und unbürokratische Starts erlaubt.

Beim Anblick der Erde aus dem Orbit wurden Ernests Erinnerungen an das düstere Bild, welches die Menschheit in den letzten Jahrhunderten ereilt hatte, jedes Mal von Neuem offenbart. Nach der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blütezeit gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in welcher der Kapitalismus geprägt war von Gier, Korruption, Neid und Missgunst, in der das Wirtschaftssystem den Höhepunkt an Ausbeutung erreichte, und das Drittweltländer mit einem perfiden Finanzsystem derart ausbluten ließ, dass diese sich nur noch mit Gewalt und Terror dagegen wehren konnten, stürzten auch die industriestarken Nationen in eine weltweite Krise. Der Drang nach immer mehr führte irgendwann zu einem Ende. Nach dem Motto Man nehme es von den Armen und gebe es den Reichen war irgendwann nichts mehr zu holen. Dies führte weltweit zu Flüchtlingsströmen, meist aus jenen Entwicklungsländern, die von Despoten und Diktatoren beherrscht wurden. Es entwickelten sich immer mehr Flüchtlingsdramen, bei denen Großteile der Asylsuchenden auf der Strecke blieben.

Damit begann die Zeit der großen Krisen. Verschiedene Faktoren, alle miteinander verflochten und sich gegenseitig beeinflussend, führten die Menschheit an den Rand des Abgrunds. Seuchen und Pandemien, meist hervorgerufen durch neuartige oder durch den Klimawandel mutierte Viren, führten zu Notständen in vielen Regionen der Erde, vorwiegend in jenen, die sonst schon durch eine hohe Bevölkerungsdichte gezeichnet waren. Durch die bereits schon seit einiger Zeit existierenden Völkerwanderungen verbreiteten sich die Viren und die Seuchen innerhalb kurzer Zeit auf der ganzen Erde. Es kam zu drastischen Ausgrenzungen von ganzen Völkergruppen, nachdem in den Jahrzehnten zuvor eine nicht ganz unproblematische multikulturelle Vermischung stattgefunden hatte. Nach dem Ausbruch der Seuchen, durch mangelnde sanitäre Versorgung vorwiegend in ärmeren Gebieten, stieg das konservativ-nationalistische Denken in vielen Ländern massiv an. Die Integration von Ausländern wurde in den ehemals wirtschaftsstarken Nationen massiv reduziert und begrenzt. Die bereits integrierten erlebten die wahre Hölle in Form von Diskriminierung und Verfolgung. Eine der instinktiven Eigenschaften des Menschen entfaltete sich zur vollsten Blüte: Für alles, was ihm widerfuhr, brauchte er einen Sündenbock, dem die Schuld für all sein Elend auferlegt werden konnte.

Diese dramatische Entwicklung erfolgte in einer Geschwindigkeit, die Regierungen und administrative Verwaltungen völlig überforderten. Immer häufiger kam es zu Aufständen und kriegerischen Übergriffen, ja sogar zu regelrechten Völkermorden. Und die Vereinten Nationen, ein Abklatsch dessen, was sie einmal darstellten, standen dem Ganzen hilflos gegenüber. Andere humanitäre Institutionen hatten sich entweder aufgelöst oder waren zerstritten, sodass ihr Wirkungspotenzial im Nichts verpuffte.

Als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, schlug einige Jahrzehnte später auch das Klima immer erbarmungsloser zu. Naturkatastrophen häuften und übertrafen sich in ihrer Intensität mehr und mehr. Zu lange hatte die Menschheit den Klimawandel nicht ernst genommen. Zu lange hatte man politisiert, intrigiert und sich darüber gestritten, ob der Mensch dafür verantwortlich war oder ob es sich nur um eine Laune der Natur handelte. Zu lange hatte man nur halbherzige Maßnahmen ergriffen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Und wenn, dann wurde nur etwas unternommen, wenn man daraus Profit schlagen konnte. Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, an dem der Vorgang nicht mehr oder nur zum Teil rückgängig gemacht werden konnte.

Die Menschheit, am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts ohnehin schon durch Seuchen, wirtschaftliche Instabilität, Terror und Kriege auf eine harte Probe gestellt und dezimiert, wurde nun gänzlich in ein neues Zeitalter gedrängt. Viele Inselstaaten verschwanden, große Küstenregionen bekamen ein völlig neues Aussehen. Die Menschheit, die vor Beginn der großen Krisen auf knapp zehn Milliarden angewachsen war, wurde innerhalb weniger Jahrzehnte auf ein Drittel reduziert. Und in vielen Fällen traf es nicht diejenigen, die für die Krisen verantwortlich waren.

Nach dem Zusammenbruch des Finanz- und Weltwirtschaftssystems stürzte auch die Industrie in eine große Krise. Viele Betriebe mussten schließen, technische Entwicklungen wurden eingestellt und die Fabrikation von alltäglichen Gütern auf ein Minimum beschränkt. Luxus verschwand gänzlich von der Bildfläche. Mehr und mehr wurde die Gesellschaft von einem harten Überlebenskampf geprägt. Die Kinder der neuen Menschheit wurden in eine Epoche geboren, in der man von den florierenden Zeiten nur noch in Büchern lesen konnte, ein Medium, das durch den technischen Fortschritt vor den Krisen schon fast nicht mehr existierte.

Während der technische Fortschritt, kurz vor den Krisen wegen der damals drohenden Überbevölkerung und Ressourcenknappheit, vor allem in der Raumfahrt große Anstrengungen erfahren hatte, sodass sich in fremden Sonnensystemen Kolonien bilden konnten, kam er in den Krisenjahren gänzlich zum Erliegen. Die Kolonisation von neuen Planeten geriet dabei in Vergessenheit. Zeitweise unterhielt man mit den bestehenden Kolonien keinen Kontakt mehr. Digitaltechnik und Virtualität wurden mehr und mehr zu einem Mythos. Es machte zeitweise sogar den Anschein, als würde sich die Menschheit in mittelalterliche Zustände zurückentwickeln.

In diesen schwierigen Zeiten konnten religiöse Institutionen und Sekten verschiedener Glaubensrichtungen expandieren und ihre Positionen massiv stärken. Die Menschheit suchte wieder vermehrt Halt im Glauben. Traditionelle kirchliche Werte gewannen an Bedeutung. Und die Prediger trugen das ihre zum Wandel bei. Vielerorts verkündeten sie in größter Polemik, der lockere Lebenswandel aus früheren Zeiten hätte das Teuflische heraufbeschworen und sei für die Krisen verantwortlich. Der größte Teil der Menschheit huldigte ihnen Respekt und besann sich wieder auf Sitte und Moral. Doch auch Glaubensstreitigkeiten und Intoleranz nahmen zu und erzeugten neue Konflikte und weitere Krisen. Wieder begann man sich gegenseitig zu bekämpfen.

Ein kleiner Teil von Menschen konnte sich mit religiösen Rechtfertigungen zu den Geschehnissen und entsprechenden Trostspenden nicht zufriedengeben und versuchte, die wahren Ursachen zu ergründen. Doch jene Minderheiten wurden wegen ihres Denkens und Handelns ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Mordanschläge, oft sogar von Sekten und religiösen Institutionen selbst in Auftrag gegeben, waren keine Seltenheit.

Zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts wurden neue technische Anstrengungen unternommen. Man erinnerte sich an die alten Errungenschaften und versuchte, sie neu zu beleben. Die digitale Nanotechnik, die vor den Krisenjahren noch in den Kinderschuhen steckte, konnte sich zur dominierenden Innovation entwickeln und fand in jedem noch so winzigen Gerät Einzug.

Man versuchte, zu den Kolonien wieder diplomatische Beziehungen aufzubauen und mit ihnen Handel zu treiben. So konnten diese einen neuen Zustrom von irdischen Einwanderern verzeichnen, was für sie nicht nur Vorteile brachte. Ohne Kontakt zur Erde während der Zeit der großen Krisen hatten sich hier neue Gesellschaftsformen und Kulturen entwickelt.

Ein kurzes Signal aus den Lautsprechern riss Ernest aus den Gedanken. Auf dem Display erschien die Landeerlaubnis zusammen mit der Bezeichnung des Gates und dem dazugehörigen Code, der automatisch ins Bordsystem übertragen wurde. Ernest brauchte nur noch die Bestätigungstaste zu drücken, worauf sich die Space Hopper automatisch in Bewegung setzte und die Landung einleitete.

»Na endlich! Wurde auch Zeit«, brummte er ärgerlich, lehnte sich zurück und beobachtete den Landevorgang.

2.

Nachdem das mehrere Jahrzehnte lang andauernde Terraforming abgeschlossen war, trafen vor dem Beginn der irdischen großen Krisen die ersten Siedler auf dem zweiten Planeten des TONGA-Systems ein. Sie landeten in der nördlichen Hemisphäre an der Westküste des einzigen Kontinents.

Ein mehrere Hundert Kilometer breiter Gürtel, der von einer Meeresströmung mit mildem Klima versorgt wurde, erstreckte sich die Küste entlang von Norden nach Süden, wo er in einen üppigen Urwald überging und jenseits des Äquators in einer Sandwüste endete, in der nur Hitze und Dürre herrschten. Südlich dieser Wüste existierte ein weiteres bewohnbares Gebiet, jedoch wesentlich kleiner als jenes im Norden.

Durch immerwährende gewaltige Stürme und Orkane war die Ostküste des Festlandes nicht bewohnbar. Zudem gab es im Innern des Kontinents ebenfalls nur Wüsten und Trockenheit.

Durch das Terraforming war es dem Planeten nicht möglich gewesen, in einem natürlichen Evolutionsprozess eigenes Leben hervorzubringen. Man hatte ihn zu schnell aus seinem Urzustand herausgeführt. Eine Fauna existierte daher nur im Anfangsstadium in Form von Insekten und Mikroorganismen, Letztere vorwiegend in Gewässern. Die Pflanzenwelt hingegen konnte sich in den gemäßigten Breitengraden schnell entwickeln und brachte, dank nahezu irdischen Verhältnissen bezüglich Klima und Luftzusammensetzung, mit einigen Ausnahmen ähnliche Gattungen hervor wie die Erde.

Die Kolonisten von TONGA-II stammten aus verschiedenen Ländern der Erde, setzten sich jedoch vorwiegend aus gesellschaftlichen Minderheiten, politisch Andersdenkenden oder ärmeren Schichten zusammen. Viele fühlten sich von Regierungen, Behörden, sozialen und kirchlichen Institutionen benachteiligt oder von Mitmenschen unterdrückt und verfolgt. Die Anzahl derer, die sogar abgeschoben worden waren, machte einen nicht unwesentlichen Anteil aus. Sie wussten denn auch einiges über die Machenschaften von Regierung und Behörden in ihren ehemaligen Heimatländern zu berichten.

Anhand dieser Berichte wurden Andersdenkende und Dissidenten als psychisch Kranke oder geistig Verwirrte eingestuft. Man setzte sie so lange verschiedenen Repressalien aus, bis sie irgendwelche Geständnisse ablegten und somit den Beweis für ihre „Geisteskrankheit“ erbrachten. Folter, die von Gesetzes wegen weltweit verboten war, durfte nun unter dem Deckmantel einer psychischen Behandlung eingesetzt werden. Auch medikamentöse Behandlungen, um die Patienten wieder auf den leuchtenden Weg geistiger Klarheit zurückzuführen, waren an der Tagesordnung.

Die anfänglich kleineren Siedlungen auf TONGA-II wuchsen durch den permanenten Zustrom weiterer Einwanderer schnell zu größeren Orten und Städten heran, sodass die irdische Kolonialverwaltung ihre Aufgabe sehr bald als erfüllt betrachtete und TONGA-II zu einer sich selbstverwalteten Kolonie ausrufen konnte.

Man gab dem Kolonialgebiet den Namen Tongalen und nannte die Hauptstadt Tongala.

Der Administrative Rat von Tongalen wurde von der Bevölkerung in regelmäßigen Abständen neu gewählt. Bisherige Amtsinhaber konnten wiedergewählt werden. Jeder Bürger hatte das Recht, sich für ein Amt zu bewerben.

Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen wurden bewusst einfach gehalten. Verschiedene Ämter sorgten für das Funktionieren des öffentlichen Lebens und die Erfüllung sozialer Aufgaben. Die Wirtschaft diente ausschließlich der Selbstversorgung. Religionen und kirchliche Institutionen existierten offiziell keine.

So gedieh eine Gesellschaft ohne die dogmatischen und ausbeuterischen Strukturen, wie sie auf der Erde vielerorts noch herrschten oder bis vor kurzem noch geherrscht hatten, und mit denen die allerersten Einwanderer in ihrem alten Leben noch konfrontiert gewesen waren.

Das völlig andersartige Wertebewusstsein der Tongaler verhinderte die Entstehung jeglicher kapitalistischer Systeme. Nicht Masse und Besitztümer spielten im Leben die dominierende Rolle, sondern gesellschaftliche Integration, Kreativität und soziale Kompetenz. Kunst im kulturellen Sinn hatte in allen Situationen des Alltags großen Einfluss, besaß jedoch ausschließlich geistigen und metaphysischen Wert und stellte keinerlei wirtschaftliche Bedeutung dar.

In ihrem persönlichen Charakterbild entwickelten sich die Tongaler zu sehr offenen Wesen, die sich bezüglich ihres Denkens aufrichtig und ohne einschränkende Konventionen äußerten. Um dies korrekt und ohne Irrtümer interpretieren zu können, brauchte man als Außenstehender gute Kenntnisse über Eigenschaften und Charakteristiken der Kolonisten. Zu Beginn der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Erde und Tongalen kam es des Öfteren zu Missverständnissen sowie zu kuriosen und peinlichen Situationen.

In zwischenmenschlicher und sexueller Hinsicht entwickelten die Tongaler ebenfalls eigene Formen. Sie unterwarfen sich nicht den stark regulierten Systemen, die auf der Erde in verschiedenen Kulturen seit jeher existierten. So gab es keine amtlich oder kirchlich abgesegnete Heirat und keinen Besitzanspruch an Partner. Tongaler lebten äußerst selten paarweise, sondern meist in Kommunen und Wohngemeinschaften.

Körperliche Liebe gehörte zum Leben wie das Atmen und war weder gesetzlich eingeschränkt noch durch irgendwelche Tabus belegt. Zudem besaßen Frauen eine stark erhöhte Sensibilität bezüglich ihrer Empfängnisbereitschaft. Dadurch war es Partnerschaften möglich, ihren Nachwuchs ziemlich genau zu planen.

Das konventionelle Familiensystem, wie es auf der Erde in vielen Kulturkreisen existierte, gab es in Tongalen nicht. Es kam selten vor, dass eine Partnerschaft mehrere Kinder hervorbrachte. Viel eher wurden Partner gewechselt, sodass die weiteren Nachkommen einen anderen Elternteil besaßen. Oftmals lebten ehemalige und neue Partner in derselben Kommune, was das Aufziehen von Kindern vereinfachte.

Trennungen gingen unkompliziert und unbürokratisch über die Bühne. Man entschloss sich dazu und ging entweder seiner Wege oder lebte weiter in derselben Gemeinschaft. Auch polygame Beziehungen waren keine Seltenheit. Durch das Fehlen von Besitzansprüchen war Eifersucht eine ziemlich unbekannte Eigenschaft.

Obwohl die Tongaler ursprünglich von irdischen Menschen abstammten, hatte sich ihr Organismus über die Generationen den planetarischen Verhältnissen abgepasst. Durch den leicht geringeren Sauerstoffgehalt besaßen sie eine höhere Dichte von Lungenbläschen und eine leicht größere Anzahl roter Blutkörperchen. Die etwas geringere Gravitation gegenüber der Erde hatte auch Veränderungen ihrer Anatomie zur Folge. So waren Tongaler von größerer Statur und schmaler gebaut als irdische Menschen. Durch eine völlig andere Ernährungskultur war Fettleibigkeit eher eine Seltenheit.

Tongaler besaßen auch Schwächen. So hatten sie sehr große Schwierigkeiten mit dem Alleinsein. Auch mit psychischem Stress und Druck konnten sie sehr schlecht umgehen.

Um nicht dieselben Gesellschaftsformen entstehen zu lassen, wie sie die Erde hervorgebracht hatte, schützten sich die ersten irdischen Auswanderer mit entsprechenden Gesetzen. Doch über die Generationen hinweg entwickelte sich die tongalische Gesellschaftsform zur Selbstverständlichkeit und Tradition.

Nach der Wiederaufnahme der Beziehungen wurde man auf der Erde irgendwann auf die neuartigen Lebensqualitäten in der Kolonie Tongalen aufmerksam. Nach einem mehrere Generationen dauernden Unterbruch entwickelte sich ein neuer Zustrom. Tongalen begann wieder zu wachsen.

Aber nicht alle neuen Einwanderer konnten sich mit dieser Art von Gesellschaftsform anfreunden. Viele brachten die irdische Denkweise mit und versuchten diese in ihrer neuen Lebensumgebung weiterzupflegen. Zwischenfälle begannen sich zu häufen, in denen andersdenkende Einwanderer und traditionelle Kolonisten aneinandergerieten oder Einwanderer versuchten, das System zu verändern.

Nach einiger Zeit bildete sich unter den neuen Kolonisten eine religiöse Gemeinschaft namens Curaner, eine Ableitung von lateinischen Wort ‚Cura‘. Der Sinn dieser Gemeinschaft bestand darin, den Glauben an einen Gott, wie man ihn auf der Erde pflegte, weiterzuführen und Sitte und Moral nach irdischen Maßstäben zu bewahren.

Zwei Lebenskulturen prallten aufeinander.

Das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaftsform, das sich mittlerweile seit mehreren Generationen bewährt und gefestigt hatte, wurde empfindlich gestört. Es bildeten sich zwei Parteien, und es drohte eine Spaltung.

Durch den stetigen Zustrom neuer Einwanderer gewann die Partei der Curaner immer mehr an Einfluss.

Doch bevor es zur dramatischen Eskalation kam, entschlossen sich beide Parteien, gemeinsam einen Weg für eine friedliche Lösung zu suchen. Auch in dieser Hinsicht wollte man nicht dem Beispiel der Erde folgen und bei unterschiedlichen Ansichten und Lebensauffassungen einen Krieg beginnen.

Nach vielen Verhandlungen und Gesprächen einigte man sich, für die Curaner in einem bisher unbewohnten Gebiet südlich des Äquators, ebenfalls an der Westküste des Kontinents, einen neuen Staat zu gründen, in dem sie ihre eigene Kultur und Gesellschaftsform pflegen konnten.

Die Kolonisten beider Parteien atmeten auf, da sie einen drohenden Bürgerkrieg auf diplomatischem Weg verhindert hatten.

Bei den Feierlichkeiten der Staatsgründung wurde der neue Staat Curanien ausgerufen. Seine Hauptstadt sollte den Namen Curania tragen.

Grenzstreitigkeiten zwischen den Curanern und den Tongalern waren aufgrund des lebensfeindlichen Äquatorialbereichs zwischen ihnen so gut wie ausgeschlossen.

Auch wenn die beiden Staaten von sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensauffassungen geprägt und voneinander unabhängig waren, entwickelte sich doch bald reger Handel.

Die Konflikte gerieten in Vergessenheit, und man akzeptierte sich gegenseitig.