Oliver Twist

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Oliver Twist
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Oliver Twist
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Is reading Cora McDonald
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Zwölftes Kapitel: In dem für Oliver besser gesorgt wird als je. Die Erzählung geht zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Schülern zurück.

Nach ziemlich langer Fahrt hielt die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.

Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blass erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.

"Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?" murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.

"Still, Liebling", sagte die alte Dame sanft. "Du musst dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin." Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, dass er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.

"Lieber Gott", sagte die Frau mit Tränen in den Augen, "wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte."

"Vielleicht sieht sie mich", flüsterte Oliver und faltete die Hände. "Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre."

"Das war das Fieber, Liebling", sagte die alte Dame sanft.

"Wahrscheinlich", erwiderte Oliver, "denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als dass Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wusste, dass ich krank war, so musste sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir", fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, "denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muss sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte."

Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde.

Oliver verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.

"Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?" fragte der Herr.

"Ja, ich danke", entgegnete Oliver.

"Das wusste ich", fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?"

"Nein, Herr", antwortete Oliver.

"Hm! Ich wusste ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Bedwin", sagte der Herr mit weiser Miene.

Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, dass sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.

"Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?" sprach der Doktor.

"Nein, Herr."

"Nicht?" versetzte der Doktor mit einem zufriedenen Blick. "Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht durstig, wie?"

"Ja, Herr, durstig sehr."

"Genau, wie ich's erwartete, Frau Bedwin", sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, dass er Durst hat, vollkommen. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Bedwin, aber passen Sie gut auf, dass er sich nicht erkältet."

Frau Bedwin knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Oliver schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Bedwin sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Oliver, dass sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an einzunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen.

Oliver lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag.

Als Oliver die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krisis war vorüber, er gehörte wieder der Welt an.

Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Bedwin hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.

"Kümmere dich nicht darum, Liebling", sagte die alte Frau, "ich muss mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter."

"Sie sind auch zu gut zu mir", sagte Oliver.

"Laß gut sein, liebes Kind", versetzte Frau Bedwin. "Nun ist es aber Zeit, dass du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Brownlow werde dich vielleicht heute vormittag besuchen." Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, dass Oliver sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.

"Hast du Bilder gern, Liebling?" fragte sie.

"Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame."

"Ach", sagte Frau Bedwin, "die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen."

"Stellt es jemand vor?"

"Ja, es ist ein Porträt."

"Von wem?" fragte Oliver lebhaft.

"Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?"

"Es ist gar zu schön!"

"Aber du fürchtest dich doch nicht davor?" sagte Frau Bedwin, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.

"O nein", erwiderte Oliver rasch, "aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht."

"Um Himmelswillen!" rief Frau Bedwin aufspringend, "sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!"

Oliver sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.

"Herein!" rief Frau Bedwin, und ins Zimmer trat Herr Brownlow.

Oliver machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.

"Armer Junge, armer Junge", sagte er, "wie geht es dir heute?"

"Sehr gut, Herr", entgegnete Oliver, "und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner angenommen haben."

"Du bist ein guter Junge", sagte Herr Brownlow, mit seinen Tränen kämpfend. "Was haben Sie ihm zu essen gegeben, Frau Bedwin? Wohl eine leichte Brühe?"

"Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen" sagte Frau Bedwin etwas empfindlich.

"Hm", meinte Herr Brownlow mit leichtem Achselzucken, "ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tom White?"

"Ich heiße Oliver, Herr", entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.

"Oliver?" fragte Herr Brownlow. "Oliver? – also Olliver White?"

"Nein, Twist. Oliver Twist."

"Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißest White?"

"Das habe ich ihm doch nicht gesagt", erwiderte Oliver erstaunt.

Dies klang wie eine Lüge, so dass der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Olivers Stirn war die Wahrheit geschrieben.

"Ein Mißverständnis also", bemerkte Herr Brownlow. Er behielt aber Oliver fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ahnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.

"Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?" sagte Oliver mit bittendem Augenaufschlag.

"Nein, nein – aber – großer Gott, was ist das? Frau Bedwin, sehen Sie – da!" schrie der alte Herr.

Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Oliver.

Die Ähnlichkeit war sprechend.

Oliver entging die Ursache von Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.

Nachdem der Gannef und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, dass die Menge in Oliver den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.

"Was wird Fagin sagen?" meinte der Gannef mit ernstem Gesicht.

"Na, was wird er sagen?" erwiderte Karl Bates.

"Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen", meinte der Gannef. Das sollte ein Trost sein, aber keine Beruhigung. Karl Bates fühlte das auch und wurde nachdenklich.

Einige Minuten nach diesem kurzen Gespräch weckte das Geräusch von Fußtritten auf der knarrenden Treppe den alten Juden aus seinen Betrachtungen. Er war gerade beim Essen.

"Hm, was ist das?" murmelte er, "ich höre bloß zwei. Wo mag der dritte sein? Sie werden ihn doch nicht geklappt haben? Horch!"

 

Langsam öffnete sich die Tür, und der Gannef und Karl Bates traten ins Zimmer.

Dreizehntes Kapitel: Dem Leser werden einige neue Bekanntschaften vorgestellt, außerdem enthält es verschiedene hübsche Sachen, die zu dieser Geschichte gehören.

"Wo ist Oliver?" rief der Jude wütend, "wo ist der Junge?"

Die jugendlichen Diebe waren über die Heftigkeit ihres Lehrmeisters so erschrocken, dass sie nicht sofort antworten konnten.

"Was ist aus dem Jungen geworden?" schrie der Jude und packte den Gannef am Kragen, dabei schreckliche Verwünschungen ausstoßend. "Sprich, oder ich erwürge dich."

"Die Polente5 hat ihn erwischt – das ist alles", versetzte der Gannef mürrisch. "Nun lassen Sie mich mal los", damit befreite er sich aus den Händen des Juden und ergriff die Bratgabel. Er wollte damit gerade dem Alten zuliebe gehen, als die Tür aufging und ein stämmiger Kerl mit einem weißen, zottigen Hund eintrat.

"Was ist hier los, Fagin?" Der Sprecher war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren mit einem plumpen, unrasierten Gesicht, in dem zwei düster blickende Augen saßen. Eins davon schillerte in allen Regenbogenfarben, die Folgen eines gutgezielten Faustschlages.

"Warum bist du so aufgeregt, alter Gauner, und willst den Jungen verhauen?" Er setzte sich bedächtig. "Es wundert mich nur, dass sie dir nicht den Hals abschneiden. Ich würde es an ihrer Stelle tun!"

"Stille, Herr Sikes, stille", versetzte der Jude zitternd, "sprecht nicht so laut."

"Ich pfeife auf deine Anrede mit Herr"', sagte der Strolch, "du hast immer einen Schurkenstreich vor, wenn du mir so kommst. Du kennst meinen Namen, und ich werde ihm keine Schande machen, wenn meine Zeit gekommen ist."

"Schön, nun denn – Bill Sikes", sagte der Jude kriechend, "Ihr scheint schlechter Laune zu sein."

"Kann sein", erwiderte Sikes, bei dir scheint es jedoch auch der Fall zu sein. Aber nimm dich in acht, Halunke, wenn du schwatzst –"

"Seid Ihr verrückt?!", rief der Jude, indem er Sikes am Ärmel erwischte und auf die Jungen zeigte.

Sikes begnügte sich pantomimisch unter seinem linken Ohre einen Knoten zu machen, und ließ dann den Kopf auf die rechte Schulter sinken. Eine sinnbildliche Darstellung, die der Jude vollkommen zu verstehen schien. Dann verlangte er Schnaps und fügte scherzend hinzu:

"Dass du mir aber kein Gift hineintust."

Hätte er jedoch den teuflischen Seitenblick sehen können, mit dem der Jude sich in die Lippen biß, als er an den Wandschrank ging, so hätte er seine Mahnung sicher nicht für unnötig gehalten.

Nachdem Sikes einige Gläser Schnaps hinuntergestürzt hatte, zog er gnädig die beiden jungen Herrn in ein Gespräch. Der Gannef erzählte umständlich und mit allerhand Ausschmückungen von Olivers Verhaftung.

"Ich fürchte, er wird uns verpfeifen, und wir kommen dann in Teufels Küche", sagte der Jude.

"Höchstwahrscheinlich", antwortete Sikes boshaft grinsend. "Du fällst unbedingt rein."

"Doch wenn mir das Handwerk gelegt wird", fuhr der Jude fort, die andern dabei scharf ansehend, "kommen auch noch andere in den Schlamassel. Jedenfalls würde es Euch schlimmer ergehen als mir."

Sikes sprang auf und wollte gegen Fagin heftig werden. Dieser zuckte jedoch nur mit den Achseln und starrte die gegenüberliegende Wand an. Es trat eine lange Pause ein. Schließlich begann Sikes im gedämpfen Tone:

"Wir müssen rauskriegen, was sich vor dem Richter mit Oliver zugetragen hat."

Der Jude nickte zustimmend.

"Wenn er nicht gepfiffen hat und ist verurteilt, brauchen wir nichts zu befürchten, bis er wieder rauskommt. Dann aber müssen wir ein wachsames Auge auf ihn haben und versuchen, ihn in unsere Hände zu bekommen."

Der Jude nickte wieder. Der Plan war gut, aber seiner Ausführung stellte sich ein großes Hindernis entgegen. Die vier Herren hatten einen nicht zu besiegenden Widerwillen dagegen, mit irgendetwas, das Polizei hieß, in Berührung zu kommen. Sie saßen stumm da und sahen sich unsicher an, als die zwei jungen Damen auftauchten, die Oliver bei einer früheren Gelegenheit kennengelernt hatte.

"Wie gerufen", sagte der Jude. "Bet wird hingehen, nicht wahr, meine Liebe?"

"Wohin?" fragte die junge Dame.

"Nur ein wenig auf die Polizei, Liebling", sagte der Jude schmeichelnd.

Wir müssen der Dame Gerechtigkeit widerfahren lassen und sagen, dass sie dieses Ansinnen nicht geradezu ablehnte. Sie erklärte bloß mit Nachdruck, der Henker solle sie holen, wenn sie auf die Polizei ginge. Eine ungemein zarte Ablehnung der Bitte, die beweist, dass das junge Mädchen zu viel Gutmütigkeit besaß, um ihre Mitmenschen durch eine runde und entschiedene Weigerung zu kränken. Der Jude wandte sich nun an Nancy:

"Was sagen Sie dazu, meine Liebe?"

"Geben Sie sich keine Mühe, Fagin, ich tue es auch nicht", versetzte diese.

"Wie soll ich das verstehen?" brauste Sikes auf.

"So, wie ich es gesagt habe, Bill", sagte Nancy ruhig.

"Du bist gerade die rechte Person dazu", entgegnete Sikes, "niemand kennt dich in dieser Gegend."

"Ist mir auch sehr lieb, wünsche gar nichts anderes!"

"Also sie wird gehen, Fagin", sagte Sikes.

"Sie wird sich hüten", entgegnete Nancy.

"Doch, sie wird's machen, Fagin", bekräftigte Sikes. Und er hatte recht. Das Mädchen ließ sich durch Drohungen und Versprechungen endlich bewegen, den Auftrag auszuführen.

Aus den Vorräten des Juden wählte sie eine weiße Schürze, die sie umband, und einen Strohhut. In die Hand nahm sie ein Deckelkörbchen.

"Ach, mein Bruder! Mein armer, lieber, kleiner Bruder!" rief Nancy, in Tränen ausbrechend. "Was ist aus ihm geworden? Wo hat man ihn hingebracht? Ach, habt Erbarmen, liebe Leute, und sagt mir, was mit dem Kinde geschehen ist. Bitte, bitte, sagt es mir doch."

Als Nancy diese Worte im kläglichsten Tone hervorgebracht hatte, verbeugte sie sich lächelnd gegen die Zuhörer und verschwand.

"Das ist ein Mädel, Jungens", sagte der Jude. "Da könnt ihr euch ein Beispiel dran nehmen."

"Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts", rief Herr Sikes und hob sein Glas. "Sie lebe hoch!"

Nancy schlug indessen den nächsten Weg zur Polizei ein. Dort angekommen, trat sie durch die Hintertür in das Gebäude ein und klopfte leise mit dem Schlüssel an eine der Zellentüren. Dann horchte sie. Da sich nichts in der Zelle rührte, so hustete sie und horchte wieder. Abermals keine Antwort. Nancy wandte sich daher unmittelbar an den Gerichtsdiener und fragte mit den kläglichsten Jammertönen nach ihrem lieben Bruder.

"Er ist nicht hier", sagte der alte Gerichtsdiener.

"Mein Gott, wo ist er denn?" meinte Nancy trostlos.

"Nun, der Herr hat ihn mitgenommen."

"Was für ein Herr, um Himmelswillen?" rief Nancy.

Der Gerichtsdiener erzählte ihr den ganzen Vorgang und schloss damit, dass der alte Herr unweit Pentonville wohne.

Nancy eilte auf schnellstem Wege zum Juden zurück.

Sie hatte sich kaum ihres Berichtes entledigt, als Herr Bill Sikes schnell seinen Hund rief, den Hut auf den Kopf stülpte und sich schleunigst ohne Gruß entfernte.

"Wir müssen Oliver finden", sagte der Jude in großer Aufregung. "Nancy, mein Liebling, ich muss ihn wiederhaben. Auf Sie und den Gannef kann ich mich am besten verlassen. Hier habt ihr Geld. Ich schließe heute Nacht diese Wohnung, ihr wißt ja, wo ihr mich finden könnt. Eilt, zögert keinen Augenblick." Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er hinter ihnen die Tür doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er das Kästchen aus seinem Versteck hervor und verbarg in aller Eile Uhren und Juwelen unter seinen Kleidern.

"Bis jetzt hat er noch nichts ausgeplaudert", sprach der Jude zu sich, indem er in seiner Arbeit fortfuhr. "Wenn er uns aber bei seinen neuen Freunden zu verpfeifen gedenkt, so werden wir ihm wohl noch das Maul stopfen können."

Vierzehntes Kapitel: Umfasst weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Herrn Brownlow, nebst der merkwürdigen Prophezeiung, die ein gewisser Herr Grimwig über ihn aussprach, als man Oliver mit einem Auftrage ausschickte.

Oliver erholte sich bald wieder von der Ohnmacht, in die er bei Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf gefallen war. Der alte Herr und Frau Bedwin vermieden es sorgfältig, im Gespräch wieder auf das Gemälde zurückzukommen. Der Junge war noch zu schwach, um zum Frühstück zu gehen. Als er am nächsten Tage in das Zimmer der Haushälterin hinuntergebracht wurde, suchten seine Blicke sofort das Bildnis der schönen Dame. Das Gemälde war aber entfernt worden.

"Ja", sagte Frau Bedwin, "es ist fort, wie du siehst."

"Oh, warum hat man es weggenommen?" versetzte Oliver mit einem Seufzer.

"Weil Herr Brownlow sagte, dass es dich zu beängstigen scheine und daher deiner Wiederherstellung hinderlich sein könnte", entgegnete die alte Dame.

"Ach nein, es beängstigte mich gar nicht", sprach Oliver, "ich mochte es gern ansehen."

"Nun, nun, liebes Kind, mache nur, dass du bald wieder gesund wirst", sagte die gute Frau. "Man wird es dann wieder aufhängen, das verspreche ich dir. Doch jetzt wollen wir von etwas anderem sprechen."

Oliver hörte aufmerksam zu, als ihm Frau Bedwin von ihrem verstorbenen Manne und ihren wohlerzogenen Kindern erzählte. Sie plauderte munter drauflos, bis die Zeit zum Teetrinken herankam. Nachdem dieser eingenommen war, unterrichtete sie Oliver im Kartenspielen, was er ebenso schnell auffasste, wie sie zu lehren imstande war. Dann vertieften sie sich angelegentlich in diese Beschäftigung, bis es für den Patienten Zeit war, ins Bett zu gehen.

Die Tage der Genesung waren für Oliver Tage des Glückes. Jedermann war so lieb und gütig zu ihm, dass er im Himmel zu sein glaubte. Er hatte kaum wieder soviel Kräfte erlangt, um sich ankleiden zu können, als ihm Brownlow einen neuen Anzug anfertigen ließ. Da man Oliver sagte, er könne mit den alten Kleidern anfangen, was er wolle, so schenkte er sie einem Dienstmädchen, die sehr gut zu ihm gewesen war. Er riet ihr, die Lumpen an einen Juden zu verkaufen und dadurch zu etwas Geld zu kommen.

Eines Abends, als Oliver plaudernd bei Frau Bedwin saß, ließ Herr Brownlow sagen, dass er Oliver auf seinem Studierzimmer sprechen möchte.

Frau Bedwin putzte ihn schnell schön heraus und führte ihn bis an die Tür des Studierzimmers. Oliver klopfte an, und als Herr Brownlow "Herein" rief, trat er in ein kleines, ganz mit Bilchern angefülltes Hintergemach, durch dessen Fenster man in einige schöne, kleine Gärten sah. Vor dem Fenster stand ein Tisch, an dem Herr Brownlow lesend saß. Bei Olivers Eintritt schob er das Buch von sich und hieß den Jungen, näherzukommen und sich zu setzen. Oliver gehorchte, nicht wenig verwundert, wo all die Leute herkommen sollten; eine derartige Menge von Büchern zu lesen. Bücher, die geschrieben schienen, um die Welt weiser zu machen. Eine Verwunderung, die tagtäglich erfahrenere Leute mit unserm Helden teilen.

"Das ist ein ansehnlicher Haufen Bücher, nicht wahr, mein Junge?" fragte Herr BrownIow, als er die Neugierde gewahrte, mit der Oliver die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränke betrachtete.

"Ach ja, ich habe noch nie so viele gesehen!"

"Wenn du immer hübsch artig bleibst, so sollst du sie auch lesen. Das wird dir besser gefallen, als das bloße Anschauen des Einbandes – das heißt nicht immer. Es gibt nämlich auch Bücher, an denen die Außenseite das Beste ist."

"Das sind gewiss diese schweren da", erwiderte Oliver, indem er auf einige dicke Quartanten mit reicher Vergoldung des Einbandes deutete.

"Nicht immer", sagte der alte Herr lächelnd.

"Möchtest du wohl gern ein Gelehrter werden und Bücher schreiben, wie?"

"Ich würde es vorziehen, sie lieber zu lesen."

"Wie? du willst kein Bücherschreiber werden?"

Oliver sann eine Weile nach, dann sagte er, es dünkte Ihn weit besser, Buchhändler zu sein.

Der alte Herr lachte herzlich und bemerkte, er hätte etwas sehr Gescheites gesagt. Oliver freute sich darüber, obgleich er nicht wusste, was das Gescheite war.

"Nun", sagte der alte Herr wieder ernst, "hab keine Angst. Wir wollen keinen Schriftsteller aus dir machen, solange es noch ein ehrliches Handwerk oder Gewerbe zu erlernen gibt."

"Ich danke Ihnen", entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte von neuem, und zwar über den Ernst, mit dem unser Held diese Antwort vorbrachte. Er ließ auch noch einige Worte von einem merkwürdigen Instinkt fallen, auf die aber Oliver nicht besonders achtgab, da er sie nicht verstand.

 

"Nun, mein Sohn", fuhr Herr Brownlow in einem ernsteren Tone fort, "du musst jetzt wohl auf das merken, was ich dir zu sagen habe. Ich will ohne Rückhalt mit dir reden, denn ich glaube, du wirst mich so gut verstehen können, wie manche ältere Person!"

"Ach, sagen Sie nur nicht, dass Sie mich fortschicken wollen. Weisen Sie mir nicht die Tür, dass ich wieder auf den Straßen herumwandern muss. Lassen Sie mich hier bleiben und Ihnen dienen. Erbarmen Sie sich über einen armen Jungen, bitte!"

"Mein liebes Kind", sagte der alte Herr gerührt, "hab keine Furcht, ich werde dich nicht fortjagen, wenn du mir keinen Anlass dazu gibst."

"Nie werde ich das, niemals."

"Ich hoffe es nicht und glaube auch nicht, dass du es je tun wirst", versetzte der alte Herr. "Ich habe mich zwar früher oft in denen getäuscht, welchen ich Wohltaten erweisen wollte. Dir will ich jedoch vertrauen, weil ich wärmeren Anteil an dir nehme, als ich mir selbst erklären kann. Diejenigen, welche ich am innigsten geliebt habe, schlummern längst in den Gräbern, aber obgleich das Glück und die Freude meines Lebens mit ihnen begraben sind, habe ich doch mein Herz zu keinem Sarge gemacht und meine schönsten Gefühle drin verschlossen."

Der alte Herr sprach dies leise vor sich hin, mehr zu sich als zu Oliver, der kaum zu atmen wagte. Nach einer kleinen Weile fuhr er in heiterem Tone fort:

"Genug, ich sage das nur, weil dein Herz jung ist und ich hoffe, dass du dich umso mehr vorsehen wirst mich zu betrüben, wenn du weißt, dass ich bereits großen Kummer und viele Leiden erduldet habe. Du sagst, du wärest eine Waise und ohne Verwandte in der Welt. Erkundigungen, die ich angestellt habe, bestätigen deine Angaben. Erzähle mir jetzt deine Geschichte – woher du kommst wer dich erzogen hat und wie du in die Gesellschaft geraten bist, in der ich dich gefunden habe. Sprich aber die Wahrheit. Wenn ich sehe, dass du kein Verbrechen begangen hast, wirst du an mir zeitlebens einen Freund und Beschützer haben."

Olivers Schluchzen erstickte eine Weile seine Worte. Als er gerade anfangen wollte zu erzählen, kündigte das Dienstmädchen den Besuch des Herrn Grimwig an.

"Kommt er herauf?" fragte Herr Brownlow das Mädchen.

"Ja", versetzte das Mädchen. "Er fragte, ob es Keks im Hause gäbe, und als ich bejahte, sagte er, er wolle hier Tee trinken."

Herr Brownlow lächelte und bemerkte zu Oliver, dass Grimwig ein alter Freund von ihm wäre, ein ungeschliffener Diamant.

"Soll ich mich entfernen?" fragte Oliver.

."Nein, du kannst hierbleiben."

In diesem Augenblick trat, auf einen starken Stock gestützt, ein starker, alter Herr ins Zimmer. Er war auf einem Bein etwas gelähmt und humpelte. Im ausgestreckten Arm hielt er seinem Freunde ein Stückchen Orangenschale entgegen und rief polternd:

"Da, sehen Sie das? Ist es nicht zum Wahnsinnigwerden, das ich in keines Menschen Hause vorsprechen kann, ohne.so was auf der Treppe zu finden. Durch eine Orangenschale bin ich lahm geworden, und eine Orangenschale wird noch mal mein Tod sein. Ich will meinen eigenen Kopf aufessen, wenn mich nicht eine 0rangenschale noch unter die Erde bringt. – Hallo! was ist das?" fügte er mit einem Blick auf Oliver hinzu und trat einige Schritte zurück.

"Der junge Oliver Twist, von dem wir bereits gesprochen haben", versetzte Herr Brownlow.

Oliver verbeugte sich.

"Das ist also der Junge", begann Herr Grimwig.

"Ja, das ist der Junge",. versetzte Herr Brownlow und nickte Oliver dabei zu.

"Nun, wie geht's dir?" fragte Herr Grimwig.

"Ich danke, viel besser", antwortete Oliver.

Herr Brownlow schien zu befürchten, dass sein absonderlicher Freund irgendetwas Unangenehmes auf der Zunge hätte. Er trug daher Oliver auf, Frau Bedwin zu bestellen, dass sie den Tee bereithalten solle. Nachdem Oliver gegangen, fragte Herr Brownlow:

"Ist es nicht ein hübscher Junge?"

"Weiß nicht", erwiderte Grimwig mürrisch.

"Wie, Sie wissen es nicht?"

"Nein, ich weiß es nicht. Kann nie einen Unterschied an Jungen entdecken. Kenne nur zwei Arten von Jungen, nämlich Mehlsuppengesichter und Beefsteakgesichter."

"Und zu welchen gehört Oliver?"

"Zu den Mehlsuppengesichtern. Ein Bekannter, von mir hat einen Jungen, dessen Gesicht so recht die Fleischmastung ausdrückt. Sie nennen ihn einen schönen Jungen, weil er einen so runden Kopf, rote Backen und glänzende Augen hat. Mir ist der Bursche etwas Schreckliches – ein Körper und Gliedmaßen, die die Nähte seines blauen Anzuges auseinanderzusprengen drohen. Dazu kommt noch die Stimme eines Schifferknechts und der Hunger eines Wolfes. Ich kenne den Schlingel."

"Nun, derartige Eigenschaften besitzt Oliver nicht und verdient deshalb nicht Ihren Zorn."

"Wenn nicht derartige, so hat er vielleicht noch schlimmere", entgegnete Herr Grimwig.

Herr Brownlow hustete nervös, was Herrn Grimwig mächtig zu ergötzen schien.

"Ja, er hat vielleicht noch schlimmere, sage ich", wiederholte Hee Grimwig. "Woher kommt er? Was ist er? Er hat Fieber gehabt – warum? Fieber ist bei ordentlichen Leuten nicht gewöhnlich. Schlechtes Volk hat bisweilen Fieber. Ich habe einen Menschen gekannt, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn umgebracht hatte. Er hatte sechsmal das Fieber und wurde deshalb nicht zur Begnadigung empfohlen."

Im Innern seines Herzens musste Herr Grimwig aber zugeben, dass Oliver etwas Gewinnendes an sich hatte. Sein starker Hang zum Widersprechen und sein Grundsatz, sich nie von einem andern ein Urteil über das Aussehen eines Jungen vorschreiben zu lassen, hatte ihn bewogen, seinem Freunde Opposition zu machen. Als daher Herr Brownlow zugestand, dass er sich noch nicht eingehend über Oliver erkundigt hätte, kicherte Herr Grimwig bdshaft und fragte mit höhnischem Lächeln, ob die Haushälterin auch abends immer das Silbergeschirr nachzähle, denn er würde sich nicht wundern, wenn einen schönen Tages mal ein paar Löffel fehlten – - usw.

Herr Brownlow, der selbst etwas temperamentvoll war, nahm jedoch all dies gemütlich hin, da er die Eigentümlichkeiten seines Freundes kannte. Als dieser die Keks und den Tee lobte, wurde die Unterhaltung wieder angenehmer, so dass selbst Oliver, der inzwischen zurückgekommen war, freier zu atmen begann.

"Und wann gedenken Sie sich den ausführlichen und wahrhaften Bericht von Oliver Twists Leben und Taten erstatten zu lassen?" fragte Grimwig, nachdem der Tee getrunken war. Er streifte dabei Oliver mit einem Blick.

"Morgen früh", entgegnete Herr Brownlow. "Ich möchte dann allein mit ihm sein. Komm morgen um zehn Uhr zu mir herauf, mein Kind!"

"Ja, Herr Brownlow", sagte Oliver mit einigem Zögern. Er war etwas verwirrt, da ihn Grimwig scharf ansah.

"Ich will Ihnen etwas sagen", flüsterte Herr Grimwig BrownIow zu, "er wird morgen früh nicht zu Ihnen heraufkommen. Haben Sie nicht bemerkt wie er zögerte? Er betrügt Sie, lieber Freund!"

"Ich möchte drauf schwören, dass dies nicht der Fall ist« , erwiderte Herr Brownlow mit Wärme.

"Wenn es nicht so ist, wie ich sagte, so will ich meinen Kopf – -", damit stieß Grimwig seinen Stock heftig auf die Erde.

"Ich setze mein Leben auf die Wahrhaftigkeit des Jungen", sagte Herr Brownlow und schlug mit. der Hand auf den Tisch.

"Und ich meinen Kopf auf seine Tücke", schrie Herr Grimwig.

"Nun, wir werden ja sehen", sagte Herr Brownlow, seinen Unmut bezwingend.

"Allerdings, wir werden es sehen", sagte Herr Grimwig mit einem herausforderndem Lächeln.

Das Schicksal wollte es, dass in diesem Augenblick Frau Bedwin mit einigen Büchern hereintrat, die Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler gekauft hatte, der schon einmal in unserer Geschichte eine Rolle spielte. Sie legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen, als Brownlow sagte: