Oliver Twist

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Oliver Twist
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Oliver Twist
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Is reading Cora McDonald
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Sechstes Kapitel: Oliver erlaubt sich kräftiger aufzutreten

Der Probemonat war vorüber und Oliver wurde endgültig als Lehrling eingestellt. Die Jahreszeit war damals gerade ungesund und Särge fanden guten Absatz. Im Laufe einiger Wochen hatte Oliver ziemlich Erfahrung gesammelt. Da er seinen Meister in den meisten Geschäften begleitete, um sich die Ruhe des Gemütes und jene Herrschaft über seine Nerven anzueignen, die ein so notwendiges Erfordernis für einen Leichenbesorger sind, so hatte er oft Gelegenheit, Zeuge der Ergebung und Seelenstärke zu sein, mit der so viele Menschen ihre Heimsuchungen und Verluste trugen.

Wurde ein reicher alter Herr oder eine reiche alte Dame begraben, die von einer ganzen Anzahl Neffen und Nichten zur letzten Ruhe begleitet wurden, so konnte Oliver in den meisten Fällen beobachten, dass dieselben Verwandten, die während der Krankheit der Verblichenen sich ganz trostlos gebärdet hatten, recht fröhlich miteinander plauderten, als ob nichts in der Welt imstande wäre, ihre gute Laune zu trüben. Männer ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe. Frauen, die um den dahingeschiedenen Gatten Trauerkleider anlegten, schienen nur darauf bedacht zu sein, recht anziehend auszusehen.

Dass Oliver sich durch das Beispiel dieser guten Leute in eine gleiche Gemütsruhe hineingearbeitet hätte, wage ich als sein Lebensbeschreiber nicht zu behaupten. Ich kann nur sagen, dass er monatelang die schlechte Behandlung Noahs mit Geduld über sich ergehen ließ. Charlotte misshandelte ihn, weil es Noah tat, und Frau Sowerberry war seine erklärte Feindin, da Herr Sowerberry ihn gern zu haben schien.

Oliver fühlte sich daher zwischen diesen drei Gegnern und den vielen Leichenbegängnissen nicht ganz so behaglich als das hungrige Ferkel, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen wurde.

Oliver und Noah befanden sich eines Tages zur Essenszeit allein in der Küche. Charlotte war gerade abgerufen worden, und so musste man aufs Essen warten. Die Wartezeit glaubte Noah nicht würdiger ausfüllen zu können, als dass er Oliver höhnte und neckte. Noah legte also seine Beine auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, kniff ihn in die Ohren, nannte ihn einen Kriecher und versprach ihm, dabei zu sein, wann und wo immer man ihn hängen würde. Da diese Neckereien ihren Zweck verfehlten, Oliver zum Weinen zu bringen, wurde Noah noch ausfallender. Er fragte:

"Armenhäusler! Wie geht's deiner Mutter?"

"Sie ist tot", versetzte Oliver, "untersteh dich aber nicht, über sie zu reden." Dabei wurde er feuerrot im Gesicht und um seinen Mund zuckte es verräterisch, als ob er im nächsten Augenblick losweinen müsste. Noah sah dies mit Befriedigung und fuhr fort:

"Woran starb sie denn?"

"An gebrochenem Herzen, wie mir eine alte Wärterin gesagt hat", murmelte Oliver vor sich hin. "Ich kann mir denken, was das heißt."

Als Noah eine Träne über Ollvers Backen rinnen sah, pfiff er ein lustiges Lied und sagte dann:

"Was bringt dich denn so zum Heulen?"

"Du nicht" versetzte Oliver, indem er rasch die Träne wegwischte. "Glaub das nur nicht."

"Was, ich nicht?" höhnte Noah.

"Nein, du nicht", entgegnete Oliver scharf. "Nun ist's aber genug. Wenn du noch ein Wort über sie sagst, dann sollst du mal sehen."

"Na, was denn? Was soll ich sehen. Armenhäusler, du wirst frech! Und deine Mutter! Wird auch 'ne feine Nummer gewesen sein. Du lieber Himmel!" Noah rümpfte die Nase.

Oliver fraß seinen Ärger in sich und schwieg. Dadurch ermuntert, fuhr Noah im Ton spöttischen Mitleides fort:

"Du weißt, da ist nichts mehr zu ändern, auch tust du uns allen leid, aber du musst doch wissen, dass deine Mutter eine ganz schlimme Person war, vollkommen herunter gekommen."

"Was sagst du da", fragte Oliver schnell aufblickend.

"Ein ganz heruntergekommenes Frauenzimmer, Armenhäusler", versetzte Noah kühl, "und es ist nur gut, dass sie auf diese Weise starb, sonst hätte sie sicher im Gefängnis oder am Galgen geendet."

Glutrot im Gesicht, sprang Oliver auf und Noah an die Kehle, nahm dann seine ganze Kraft zusammen und schmetterte ihn mit einem Schlag zu Boden.

"Er bringt mich um!" schrie Noah. "Charlotte! Frau Sowerberry! Hilfe, Hilfe! Oliver mordet mich! Er ist verrückt geworden! Char – lotte!"

Noahs Hilfegeschrei wurde durch ein lautes Kreischen Charlottens, und ein noch lauteres der Meisterin erwidert. Erstere eilte durch eine Seitentür in die Küche, während Frau Sowerberry so lange auf der Treppe stehen blieb, bis sie sich überzeugt hatte, dass keine Gefahr für ihr Leben zu fürchten sei.

"Du verfluchter Lump", schrie Charlotte, indem sie Oliver mit kräftiger Faust packte, "du undankbarer, meuchelmörderischer, nichtswürdiger Schurke", dabei schlug sie unbarmherzig auf ihn ein. Nun stürzte auch noch Frau Sowerberry in die. Küche und zerkratzte Oliver das Gesicht. Diesen günstigen Stand der Angelegenheit machte sich Noah zunutze, er sprang auf und knuffte Oliver von hinten.

Als alle drei müde waren und nicht mehr weiter prügeln konnten, schleppten sie den sich wehrenden, aber keineswegs entmutigten Oliver in den Keller und schlossen ihn da ein. Frau Sowerberry sank in einen Stuhl und brach in Tränen aus.

"Himmel, sie stirbt", rief Charlotte. "Schnell, liebster Noah, ein Glas Wasser."

"Ach, Charlotte", stöhnte die Meisterin, "wir müssen Gott danken, dass wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden."

"Ja, der arme Noah war schon halbtot, als ich hinzukam."

"Armer Junge!" sagte Frau Sowerberry mitleidig. "Doch was machen wir nun? Der Meister ist nicht zu Hause, und in zehn Minuten wird Oliver die Tür eingestoßen haben!"

Seine Fußtritte hörte man auch schon gegen diese donnern.

"Ich glaube, das Beste wäre, man holte die Polizei" , meinte Charlotte.

"Oder das Militär", fügte Herr Noah Claypole hinzu.

"Nein", rief Frau Sowerberry, die sich plötzlich an Olivers alten Freund erinnerte, lauf zu Herrn Bumble, Noah, und bitte ihn, er möge unverzüglich hierherkommen. Renne, eine Mütze brauchst du nicht."

Ohne Zeit zu verlieren, stürzte Noah fort.

Siebentes Kapitel: Oliver bleibt widerspenstig

Noah Claypole rannte ohne Aufenthalt nach dem Armenhause, wo er atemlos ankam. Nachdem er sich einige Minuten an der Tür ausgeruht hatte, setzte er eine klägliche Miene auf und klopfte dann laut an das Pförtchen. Nachdem man ihm geöffnet hatte, schrie Noah in ängstlichem Tone:

"Herr Bumble, Herr Bumble!" Dieser eilte herbei.

"Ach, Herr Bumble!" rief Noah, "Oliver hat – –"

"Was, – doch nicht etwa weggelaufen?"

"Nein, Herr, weggelaufen ist er nicht, aber ganz bösartig ist er geworden. Er hat mich umbringen wollen, und dann wollte er auch Charlotte und die Meisterin ermorden. Es war ganz schrecklich." Noah fing laut zu heulen an. Der Herr mit der weißen Weste ging gerade über den Hof; er trat auf Bumble zu und fragte, was mit dem Jungen los sei.

"Es ist ein Junge aus der Armenschule", versetzte Herr Bumble, "der von dem jungen Twist beinahe ermordet worden wäre, jawohl, Herr."

"Donnerwetter", rief der Herr, "habe ich's nicht gesagt? Ich hatte immer das Gefühl, dass Oliver Twist mal gehängt werden würde."

"Er wollte auch die Köchin umbringen", fuhr Herr Bumble bleichen Gesichts fort.

"Und die Meisterin auch", fügte Noah hinzu.

"Und den Meister ebenfalls –, so, sagtest du doch, Noah?" ergänzte Herr Bumble.

"Nein, der war ausgegangen, sonst würde er ihn auch ermordet haben. Er sagte aber, er wolle –"

"So, sagte er das wirklich, er wolle", fragte der Herr mit der weißen Weste.

"Ja, Herr!" erwiderte Noah, "und die Meisterin wünscht zu wissen, ob Herr Bumble Zeit hat, hinüberzukommen und Oliver durchzuprügeln. Der Meister ist nämlich nicht zu Hause."

"Gewiss, mein Junge, gewiss!" sagte der Herr und streichelte Noahs Kopf. "Du bist ein guter Junge. Hier hast du einen Penny. Gehen Sie schnell mit Ihrem Stock zu Sowerberrys und schonen Sie Oliver Twist nicht."

"Gewiss nicht, Herr", sagte Bumble und holte dann seinen Hut. Er begab sich in aller Eile, soweit es sich mit seiner Würde vertrug, nach der Werkstatt des Leichenbesorgers.

Hier hatte sich der Stand der Dinge nicht geändert. Da Oliver fortfuhr, mit ungeminderter Kraft gegen die Kellertüre zu stoßen, so hielt es Herr Bumble für klug, erst zu parlamentieren, bevor er die Tür öffnete. Er rief deshalb durchs Schlüsselloch:

"Oliver!"

"Lassen Sie mich raus", erwiderte dieser von innen.

"Kennst du meine Stimme?" fragte Herr Bumble.

"Und du fürchtest dich nicht, Junge? Zitterst nicht?"

"Nein!"

Eine solche Antwort hatte Herr Bumble nicht erwartet. Er war baff.

"Wissen Sie, Herr Bumble sagte Frau Sowerberry, der Junge muss verrückt sein, sonst würde er es nicht wagen, so mit Ihnen zu sprechen."

"Das ist nicht Verrücktheit", versetzte Herr Bumble nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens, "das ist das Fleisch."

"Was für Fleisch?" fragte die Meisterin.

"Jawohl, das Fleisch. Sie haben ihn überfüttert. Daher kommt diese störrische Seele und der Geist des Widerspruchs, die für einen Menschen in seiner Lage nicht passen. Was haben überhaupt Arme mit Seele und Geist zu schaffen. Es ist genug, dass wir ihren Körper leben lassen. Hätten Sie dem Bengel nichts als Haferschleim gegeben, so wäre so etwas nie vorgefallen."

In diesem Augenblick kam Herr Sowerberry nach Hause, und man erzählte ihm Olivers Verbrechen mit so vielen Übertreibungen, dass er in einen mächtigen Zorn geriet. Er schloss die Kellertür im Nu auf und packte Oliver beim Kragen.

 

"Du bist mir ja ein nettes Früchtchen", brüllte der Meister und gab ihm ein paar Maulschellen.

"Noah schmähte meine Mutter", erwiderte Oliver trotzig.

"Wenn schon, du Strolch", schrie die Meisterin. "Sie hat's verdient und noch viel mehr."

"Sie hat's nicht verdient", entgegnete Oliver.

"Doch", geiferte Frau Sowerberry.

"Das ist 'ne Lüge", schrie der Junge.

Frau Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus, und dies ließ dem Meister keine Wahl. Er musste seine teure Gattin zufriedenstellen, und so prügelte er denn, wenn auch ungern, den armen Jungen in einer Weise durch, die Herrn Bumbles nachträgliche Anwendung des Amtsstockes eigentlich unnötig machte. Dann wurde Oliver bei Wasser und Brot wieder eingeschlossen und durfte spät am Abend unter den Stichelreden Noahs und Charlottes sein trauriges Bett bei den Särgen aufsuchen.

Als Oliver in der düsteren Werkstätte allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte die Schmähungen mit Verachtung angehört und jede Misshandlung ohne einen Schmerzenslaut hingenommen. Hier aber, wo ihn niemand sehen konnte, fiel er auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte heiße Tränen. Lange blieb Oliver in dieser Stellung. Als er wieder aufstand, war das Licht fast heruntergebrannt. Er horchte und entfernte dann leise die Riegel von der Tür. Er sah hinaus. Es war eine kalte, finstere Nacht. Kein Lüftchen wehte. Er schloss leise wieder die Tür, dann band er seine wenigen Kleidungsstücke mit einem Taschentuch zusammen und erwartete den Morgen auf einer Bank. Als die Sonne aufging, öffnete er aufs Neue die Tür, sah sich scheu um und drückte sie dann hinter sich ins Schloss. Auf der Straße sah er sich nach rechts und links um, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Schließlich nahm er den Weg, der bergan führte, und bemerkte nach kurzer Zeit, dass er ganz nahe der Anstalt war, wo er seine ersten Kinderjahre zugebracht hatte.

Er langte bei dem Hause an. Niemand schien zu dieser frühen Stunde in demselben wach zu sein. Oliver blieb stehen und guckte durch das Gartengitter. Ein Kind jätete eben auf einem Beete Unkraut aus. Als es sein blasses Gesicht erhob, erkannte Oliver die Züge eines seiner früheren Kameraden.

"Pst, Dick!" rief Oliver, und der Junge lief ans Tor und streckte seine dünnen Ärmchen zum Gruße durch das Gitter. "Ist niemand auf, Dick?"

"Außer mir, keiner", entgegnete der Junge.

"Hör mal, du darfst nicht sagen, dass du mich gesehen hast, Dick", sprach Oliver. "Ich bin weggelaufen. Man hat mich geschlagen und schrecklich misshandelt. Ich will jetzt mein Glück in der Fremde versuchen. – Du siehst aber blass aus, Dick."

"Ich hörte, wie der Doktor sagte, ich müsste sterben", sagte Dick mit einem schwachen Lächeln. "Ach, wie ich mich freue, dich wiedergesehen zu haben, Oliver, aber halt dich nicht auf. Eile."

"Erst sage ich dir jedoch Lebewohl", entgegnete Oliver. Ich werde dich wiedersehen, Dick; ganz gewiss. Du wirst noch gesund und glücklich werden."

"Das hoffe ich auch, wenn ich einmal tot bin, früher nicht. Ich fühle, dass der Doktor recht hat, denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Küsse mich", sagte. der Kleine, indem er an dem niedrigen Tore emporkletterte und seine Ärmchen um Olivers Nacken schlang. "Lebwohl, lieber Oliver! Gott segne dich!"

Es war der Segenswunsch eines kleinen Kindes, aber es war der erste, den Oliver je über sein Haupt herabrufen hörte. Er vergaß ihn nie in allen Kämpfen, Mühen und Leiden seines späteren Lebens.

Achtes Kapitel: Oliver geht nach London, unterwegs begegnet er einem schnurrigen jungen Herrn

Bis Mittag wanderte Oliver, ohne zu rasten, die Landstraße entlang. Der Meilenstein, an dem er jetzt wagte auszuruhen, sagte ihm, – dass er noch hundert Kilometer von London entfernt sei. Dieser Name erweckte in der Seele des Knaben eine Flut von Gedanken. – London! – Diese große Stadt! – Niemand – nicht einmal Herr Bumble – konnte ihn dort auffinden. Er hatte im Armenhause oft alte Leute sagen hören, dass ein pfiffiger Junge in London nicht Hungers sterben würde. Nachdem er weiter sechs Kilometer zurückgelegt hatte, überlegte er, wie er wohl am besten hinkommen könne. Er hatte eine Brotrinde, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel und einen Penny – ein Geschenk Sowerberrys – in der Tasche.

Ein reines Hemd, dachte Oliver, ist etwas sehr Angenehmes – wie auch das Paar gestopfter Strümpfe und der Penny aber für einen Marsch von vierundneunzig Kilometern nur geringe Hilfe. Oliver legte an diesem Tage dreißig Kilometer zurück und genoss die ganze Zeit über nichts als seine trockene Brotrinde und einige Glas Wasser. Mit Einbruch der Nacht kroch er in einen Heuhaufen und schlief bald fest ein. Er erwachte am nächsten Morgen durchgefroren und hungrig. Sein Penny ging für ein kleines Laib Brot drauf. An diesem Tage konnte er nicht mehr als achtzehn Kilometer schaffen. Nach einer weiteren im Freien zugebrachten Nacht fühlte er sich noch elender und konnte sich kaum auf den Beinen halten.

Er wartete am Fuße eines steilen Berges, bis eine Postkutsche kam, deren außensitzende Passagiere er anbettelte. Diese wollten sehen, wie weit er für einen halben Penny laufen könnte. Eine Weile versuchte Oliver mit der Kutsche Schritt zu halten, aber die wunden Füße und seine Müdigkeit ließen es nicht lange zu. Als die Reisenden dies sahen, steckten sie ihren halben Penny wieder in die Tasche und nannten ihn einen faulen Hund.

In einigen Ortschaften waren große Warnungstafeln aufgestellt, die jeden Bettler mit Gefängnis bedrohten. Wenn sich nicht ein gutherziger Schrankenwärter und eine gutmütige alte Frau seiner erbarmt und ihm zu essen gegeben hätten, so wäre es Oliver wahrscheinlich wie seiner Mutter ergangen; er wäre vor Hunger auf der Landstraße umgefallen.

Am siebenten Tage nach seiner Flucht hinkte Oliver morgens früh langsam in die kleine Stadt Barnet hinein. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer. Die Sonne erhob sich soeben in all ihrer Herrlichkeit, aber, ihre Strahlen dienten nur dazu, dem Jungen, der mit blutenden Füßen auf einer Türschwelle saß, seine ganze trostlose Lage und Verlassenheit zu zeigen.

Allmählich öffneten sich die Fensterläden, und auf den Straßen zeigten sich Menschen. Einige blieben stehen, um Oliver anzustarren, aber niemand half ihm, ja, man nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu fragen, woher er käme.

Da trat plötzlich ein Junge auf ihn zu, der ihn schon lange heimlich beobachtet hatte. Er sagte:

"Hallo, Dicker, was ist los mit dir?"

Der Junge mochte ungefähr von Olivers Alter sein und hatte ein ziemlich gemeines Gesicht, Stumpfnase, niedrige Stirn, kleine, stechende Augen, krumme Beine und war für sein Alter klein, dabei furchtbar schmutzig. Er benahm sich jedoch ganz wie ein Erwachsener. Sein Rock war zu weit und reichte ihm bis zu den Hacken. Der Hut saß so leicht auf seinem Kopfe, dass er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, doch gab ihm der Junge dann mit einem Ruck einen Schwung, wodurch er wieder in die richtige Lage kam.

"Ich bin hungrig und müde", antwortete Oliver mit Tränen in den Augen, "sieben Tage bin ich in einem fort gewandert."

"In einem fort? Sieben Tage? Ich verstehe, wohl auf Schenkels Befehl? – Ich glaube, du weißt nicht mal, was ein Schenkel ist?"

"Doch", erwiderte Oliver sanft, "das ist der obere Teil des Beins."

"Mensch, du bist naiv!" rief der junge Herr aus. "Ein Schenkel ist ein Friedensrichter, und wer auf Schenkels Befehl geht, kommt nicht vorwärts. Er muss immer aufwärts, ohne dass es je bergab ginge. Noch nie in der Mühle gewesen?"

"In was für einer Mühle?" fragte Oliver.

"Na in der Tretmühle. – Doch du schiebst Kohldampf und musst was zwischen die Zähne kriegen. Viel Moos habe ich ja auch nicht, aber es wird für dich schon reichen. Stell dich auf deine Hammelbeine und komm."

Der junge Herr half Oliver aufstehen und nahm ihn mit in eine Schenke. Dort ließ er Bier, Brot und Schinken bringen. Oliver machte sich tüchtig über die Mahlzeit her, wobei ihn sein neuer Freund aufmerksam beobachtete. Als er mit dem Essen fertig war, fragte ihn der fremde Junge:

"Du willst nach London?"

"Ja."

"Hast du schon 'ne Wohnung?"

"Nein."

"Geld?"

"Nein."

Der junge Herr pfiff durch die Zähne.

"Wohnst du in London?" fragte jetzt Oliver.

"Ja, wenn ich zu Hause bin. – Aber du brauchst 'ne Schlafstelle, nicht wahr?"

"Freilich, ich habe seit einer Woche unter keinem Dach mehr geschlafen."

"Lass dir darum keine grauen Haare wachsen, ich muss heute Abend wieder nach London und kenne dort einen ganz respektablen alten Herrn, bei dem du umsonst wohnen kannst. Es muss dich allerdings ein Bekannter bei ihm einführen. Mich kennt er aber zur Genüge", fügte der fremde Junge verschmitzt lächelnd hinzu.

Dieses unerwartete Anerbieten war zu verführerisch, um ausgeschlagen zu werden. Es entspann sich nun zwischen den beiden Jungen eine vertrauliche Unterhaltung, in deren Verlauf Oliver erfuhr, dass sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und ein besonderer Liebling jenes alten Herrn sei. Dawkins Äußeres sprach allerdings nicht zugunsten einer solchen Protektion, da er aber ziemlich lockere Redensarten führte und auch gestand, dass seine Freunde ihn den pfiffigen Gannef1 nannten, so folgerte Oliver, er möge wohl ein leichtsinniger Mensch sein, an dem die guten Lehren seines Wohltäters verlorengingen. Er beschloss daher bei sich, sich die gute Meinung des alten Herrn zu verschaffen und den weiteren Verkehr mit dem Gannef abzubrechen, wenn er ihn, wie er bereits jetzt schon vermutete, unverbesserlich finden sollte.

Da Dawkins nicht vor Einbruch der Nacht in London eintreffen wollte, so wurde es fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Der Gannef riet Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten, und eilte durch ein Gewirr kleiner Straßen und Gässchen mit einer Geschwindigkeit, dass unser Held mächtig aufpassen musste, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Trotzdem konnte sich Oliver nicht enthalten, ein paar hastige Blicke auf seine Umgebung zu werfen. Er befand sich jetzt an einer Stelle, wie er sie nie armseliger und schmutziger gesehen hatte. Die sich bergab ziehende Straße war schmal und dreckig und ihre Luft mit Gestank erfüllt Er konnte zwar ziemlich viel kleine Läden bemerken, aber die einzigen Warenvorräte schienen in Haufen von Kindern zu bestehen, die sogar in dieser späten Stunde vor den Türen herumkrochen. Die einzigen Stellen, die in dieser Atmosphäre gediehen, waren die Kneipen, in denen sich die niedrigste Klasse der Irländer mit Schimpfen und Raufen unterhielt. Bedeckte Gänge und Höfe, die sich von der Hauptstraße abzweigten, führten zu kleineren Häusergruppen, wo sich betrunkene Männer und Frauen buchstäblich im Kote wälzten. Aus dem Schatten der Torwege lösten sich große, verdächtig aussehende Kerle, die nichts Gutes im Schilde zu führen schienen, und schlichen scheuen Blicks über die Straße.

Sie waren am oberen Ende der Straße angelangt, und Oliver überlegte gerade, ob es nicht besser sei, davonzulaufen, als ihn sein Führer am Arm ergriff und durch die offene Tür in ein Haus in der Nähe der Field Lane zog. Sobald sie drin waren, schloss Dawkins die Tür ab.

"Der Gannef pfiff und antwortete auf eine Stimme von unten: "Was ist los?"

"Gannoven2!"

Unmittelbar darauf zeigte sich am hinteren Ende des Ganges ein schwacher Lichtschein, und das Gesicht eines Mannes erschien am zerbrochenen Geländer einer alten Kellertreppe.

"Ihr seid zwei, wer ist der andere?"

"Ein neuer Kumpel3",.versetzte Jack Dawkins und stieß Oliver vorwärts.

"Wo kommt er her?"

"Aus der Fremde. Ist Fagin oben?"

"Ja, er sortiert die Rotzlappen4. Geht hinauf." Die Kerze und das Gesicht verschwanden.

Oliver stolperte an der Hand Dawkins die Treppe hinauf. Oben angelangt, öffnete dieser die Tür eines Hinterzimmers und zog Oliver hinein.

Die Wände und die Decke des Gemachs waren von Alter und Schmutz ganz schwarz. Auf einem elenden Tisch brannte eine Kerze, die in den Hals einer Bierflasche gesteckt war. Über dem Feuer hing eine Bratpfanne, in der einige Würste prasselten, und daneben stand, eine Gabel in der Hand, ein alter, zusammengeschrumpfter Jude, dessen spitzbübisches Gesicht von verfilztem, rotem Haar umrahmt war. Er hatte einen schmierigen flanellenen Schlafrock an und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Bratpfanne und einem Kleiderständer zu teilen, auf dem eine Anzahl seidener Taschentücher hing. Um den Tisch saßen vier oder fünf Jungen, keiner älter als der Gannef, und rauchten aus langen Tonpfeifen Tabak und tranken Schnaps wie Alte. Sie drängten sich um Dawkins, als dieser dem Juden etwas zuflüsterte, und grinsten dann Oliver an.

 

"Das ist er, Fagin", sagte Jack Dawkins laut; "mein Freund, Oliver Twist."

Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm seine Hand und sagte, er freue sich, seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Hierauf umringten ihn die rauchenden jungen Herren und schüttelten ihm kräftig die Hände. Einer war besorgt, ihm die Mütze abzunehmen und aufzuhängen, während ein anderer seinen Diensteifer so weit trieb, ihm in die Taschen zu greifen, um ihm die Mühe zu ersparen, sie vor Schlafengehen auszuleeren. Hätte der Jude nicht mit der Gabel die Köpfe der liebenswürdigen Jünglinge bearbeitet, so hätten sich deren Höflichkeiten noch viel weiter erstreckt.

"Wir freuen uns alle sehr, dich kennenzulernen, Oliver", sagte der Jude. "Gannef, nimm die Würste weg und lass Oliver an den Kamin, damit er sich wärmen kann. Du guckst nach den Taschentüchern, Liebling? Sind 'ne ganze Menge, nicht wahr? Wir haben sie für die Wäsche zusammengesucht, das ist alles, Oliver, ja, das ist alles! Ha! Ha! Ha!"

In das Gelächter stimmten die hoffnungsvollen Schüler des alten Herrn laut ein. Dann setzte man sich zu Tisch.

Als Oliver seinen Teil gegessen, reichte ihm der Jude ein Glas Grog und ließ es ihn sogleich austrinken, weil noch ein anderer des Glases bedürfe. Nachdem Oliver dies getan, fiel er in einen tiefen Schlaf und wurde von seinem Freunde Jack auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager getragen.