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»Unsinn, lieber Freund, Unsinn«, suchte ihn der Leichenbestatter, der mit dem Elend in allen Gestalten wohl vertraut war, zu beruhigen. »Unsinn, sage ich Ihnen, Unsinn.«
»Und ich sage Ihnen«, rief der Mann, ballte die Fäuste und stampfte wie ein Rasender auf den Boden, »ich sage Ihnen: ich will nicht, dass Ihr sie einscharrt. Sie könnte keine Ruhe dort finden. Die Würmer würden sie quälen und plagen – fressen wohl nicht – sie ist nur noch Haut und Knochen.«
Mr. Sowerberry gab weiter keine Antwort, sondern zog ein Band aus seiner Tasche und kniete einen Augenblick neben der Leiche nieder.
»Ja«, rief der alte Mann und brach in Tränen aus, »kniet nur nieder, kniet alle nieder; ich sag Euch, man hat sie hungern lassen, bis sie gestorben ist. Ich hab’ ja nicht geahnt, wie schlimm es mit ihr stand, bis sie das Fieber bekam. Und da stachen ihr auch schon die Knochen durch die Haut. Nicht einmal ein Licht brannte hier, als sie starb. In der Dunkelheit hat sie sterben müssen. Nicht einmal das Gesicht ihrer Kinder hat sie sehen können; nur ihre Namen hat sie stammeln dürfen. Ich hab’ für sie auf der Straße gebettelt, aber da haben sie mich ins Gefängnis gesteckt. Und als ich freikam, lag sie schon im Sterben. Mein Herzblut ist ausgedörrt bis auf den letzten Tropfen. Man hat sie verhungern lassen! Ich schwöre bei Gott, dass es wahr ist. Sie haben sie verhungern lassen!«
Der Mann raufte sich das Haar und sank stöhnend mit stieren Augen und Schaum vor dem Mund zusammen.
Die entsetzten Kinder jammerten und weinten, aber die Alte, die bisher stumm geblieben, als ob sie taub sei gegen alles, was rings um sie her vorging, wies sie zur Ruhe. Dann löste sie dem Mann, der noch immer ausgestreckt auf dem Boden lag, das Halstuch und taumelte auf den Leichenbestatter zu.
»Sie war meine Tochter«, krächzte sie und nickte mit dem Kopf nach der Leiche hin. Das blödsinnige Grinsen, mit dem sie ihre Worte begleitete, wirkte grauenhafter als selbst die Gegenwart des Todes an einem solchen Ort. »Gott, Gott«, ächzte sie, »es ist so merkwürdig, dass ich, ihre Mutter, noch sprechen und lachen kann, während sie hier liegt – kalt und starr. Gott Gott, es ist wie eine Komödie, es ist die reinste Komödie.« Dann kicherte die Arme wieder wie eine Irrsinnige. Der Leichenbestatter wandte sich zum Gehen. »Warten Sie, warten Sie«, rief ihm die Alte nach. »Wird sie morgen begraben oder erst übermorgen oder schon heut abend? Ich hab’ sie doch geboren; da muss ich doch mitgehen; verstehen Sie? Schicken Sie mir doch einen großen Mantel – einen recht warmen Mantel, es ist so kalt hier. Wir müssen auch Kuchen und Wein bekommen, ehe wir gehen. Oder besser: schicken Sie Brot her, einen Laib Brot und einen Krug Wasser. Werden wir auch Brot bekommen, lieber Herr?« fragte sie gierig und klammerte sich an den Leichenbestatter, als dieser zur Türe gehen wollte.
»Gewiss, gewiss«, antwortete Mr. Sowerberry, »natürlich alles, was Sie wollen.« Dann befreite er sich von dem Griff der Alten, zog Oliver hinter sich her und eilte hinaus.
Am nächsten Tag – man hatte die Familie inzwischen mit einem halben Viertellaib Brot und einem Stück Käse gelabt, was alles Mr. Bumble in eigener Person gebracht hatte – kehrte Oliver mit seinem Herrn in die elende Höhle zurück, wo Mr. Bumble bereits angekommen war, von vier Armenhäuslern, die das Amt der Leichenträger besorgen sollten, gefolgt. Ein alter schwarzer Mantel war der Greisin und einer dem Mann über die Schultern geworfen worden; der einfache Sarg wurde zugeschraubt und auf die Straße hinuntergetragen. »Schreiten Sie schnell aus, alte Dame«, flüsterte Sowerberry der Greisin ins Ohr, »wir sind etwas spät daran und dürfen den Herrn Pfarrer nicht warten lassen. Vorwärts, Leute! So schnell wie möglich!«
Ihre Bürde auf den Schultern, trotteten die Träger des Wegs. Die beiden Leidtragenden hielten sich, so gut sie konnten, in ihrer Nähe, und Mr. Bumble und Mr. Sowerberry trabten eilig voraus. Oliver atemlos neben ihnen.
Die Eile war überflüssig gewesen, denn als sie den finstern trübseligen Armenkirchhof erreichten, in dem die Brennesseln nur so wucherten, war der Geistliche noch nicht gekommen, und der Küster in der Sakristei glaubte, dass es noch gut eine Stunde dauern könnte, bevor er erscheinen werde. Die Bahre wurde am Rand des Grabes niedergesetzt, und die beiden Leidtragenden warteten geduldig auf dem feuchten Lehmboden und in dem kalten Regen, der in Schauern herniederfegte, während die zerlumpten Gassenjungen, die das Schauspiel auf den Friedhof gelockt, schreiend und lärmend zwischen den Leichensteinen Verstecken spielten oder zur Abwechslung einmal über den Sarg hin und hersprangen. Mr. Sowerberry und Mr. Bumble, die beide persönliche Freunde des Herrn Küsters waren, setzten sich zu ihm ans Feuer und studierten die Zeitung.
Endlich nach mehr als einer Stunde sah man Mr. Bumble und Mr. Sowerberry zum Grabe laufen, und gleich darauf erschien der Geistliche, sich unterwegs hastig den Talar anziehend. Mr. Bumble prügelte noch rasch ein paar Gassenbuben durch, und dann hielten seine Hochwürden eine Grabrede, die ein paar Minuten dauerte, übergaben dem Küster seinen Talar und verfügten sich wieder nach Hause.
»Also los, Bill«, befahl Mr. Sowerberry dem Totengräber, »losgeschaufelt!«
Das war bald geschehen, denn die Gruft war bereits so voll, dass der Sarg nur wenige Fuß unter der Erdoberfläche zu liegen kam.
Der Totengräber schaufelte die Schollen hinein und stampfte sie oberflächlich mit den Füßen fest.
Die Gassenbuben murrten, dass der Spaß so bald zu Ende war.
»Kommen Sie, lieber Freund«, sagte Mr. Bumble und klopfte dem alten Mann auf den Rücken. »Der Kirchhof wird gleich geschlossen werden.«
Nicht ein einziges Mal hatte sich der Mann, so lange er neben dem Grabe gestanden, gerührt, aber jetzt schreckte er zusammen, stierte den Kirchspieldiener an, taumelte ein paar Schritt vorwärts und sank dann ohnmächtig zu Boden. Die irrsinnige Alte jammerte fortwährend, dass man ihr den Mantel wieder abgenommen habe, und fand gar keine Zeit, sich mit dem Bewusstlosen abzugeben. Man schüttete daher eine Kanne kalten Wassers über ihn, worauf er wieder zum Bewusstsein kam, und dann wurde das Tor verriegelt und jeder ging seines Weges.
»Na, Oliver«, fragte Mr. Sowerberry den Lehrjungen auf dem Heimweg, »wie hat’s dir gefallen?«
»Ich danke, Sir, soweit ganz gut«, antwortete Oliver stockend. »Eigentlich nicht so besonders.«
»Du wirst dich schon dran gewöhnen«, tröstete Sowerberry. »Es wird schon ganz gut gehen, wenn du dich nur erst mal dran gewöhnt hast, Bursche.«
Oliver dachte darüber nach, wie lange es wohl gebraucht haben möchte, bis sich Mr. Sowerberry an dergleichen gewöhnt habe. Er unterdrückte jedoch die Frage und ging stumm in den Laden zurück.
Als der übliche Probemonat vorüber war, wurde Oliver in aller Form als Lehrling ins Geschäft eingestellt. Es war gerade sozusagen Sterbesaison, und nach Särgen herrschte rege Nachfrage. Die ältesten Einwohner der Stadt konnten sich nicht erinnern, dass jemals die Masern so gewütet hätten, wie es gerade der Fall war. Da Oliver von jetzt an auch bei den meisten Begräbnissen erwachsener Personen im Zuge mitzugehen hatte, um die nötige Gleichgültigkeit in Haltung und Gebärden zu lernen, die einem richtigen Leichenbestatter unbedingt nötig sind, so fand er gar oft Gelegenheit, die bemerkenswerte Standhaftigkeit zu bewundern, mit der gewisse Leute, die sich eines starken Gemüts erfreuten, Verluste an Bekannten, Freunden und Verwandten zu tragen wussten.
Befremdlicherweise wirkten solche Beispiele von Resignation nicht ansteckend auf Oliver Twist; er kam vielmehr nicht aus der Verwunderung heraus. Trotzdem ertrug er geduldig monatelang die schlechte Behandlung von seiten Noah Claypoles, der immer gehässiger gegen ihn wurde, da er sich zurückgesetzt fühlte und kaum mitansehen konnte, wie Oliver, der jüngere Lehrling, tagaus tagein im schwarzen Rock und Flor ausrücken durfte, während er, der Senior, sich mit Pelzkappe und Lederhose begnügen musste. Charlotte behandelte Oliver schlecht, weil Noah ihn schlecht behandelte, und Mrs. Sowerberry war seine ausgesprochene Feindin, weil Mr. Sowerberry eher dazu neigte, ihn freundlich als unfreundlich zu behandeln.
Eines Tages nun zur gewöhnlichen Mittagsstunde waren Oliver und Noah in die Küche hinabgeklettert, um sich an einer knappen Ration Hammelfleisch vom schlechtesten Nackenstück gütlich zu tun, da wurde Charlotte hinaufgerufen und Noah Claypole, hungrig und verbittert, glaubte ihre Abwesenheit nicht besser benützen zu können, als seinen jungen Kollegen zu hänseln.
Als Einleitung legte er die Füße auf das Tischtuch, zupfte Oliver an den Haaren, zwickte ihn in die Ohren und gab der Ansicht Ausdruck, Oliver sei ein »Kriecher«. Des weiteren gab er der Hoffnung Ausdruck, Oliver noch einmal am Galgen baumeln zu sehen, und dass es ihm auch auf den weitesten Weg nicht ankommen werde, falls einmal dieses ersehnte Ereignis eintreten sollte. Da aber alle diese hämischen Versuche, Oliver zum Weinen zu bringen, fehlschlugen, fing Noah Claypole an, immer dicker und dicker aufzutragen.
»Zuchthäusler!« rief er endlich. »Was macht übrigens deine Mutter?«
»Sie ist tot«, sagte Oliver, »sprich nicht von ihr.«
Das Blut stieg ihm in die Wangen, und seine Lippen zuckten seltsam. Noah Claypole hielt das für ein Vorzeichen, dass Oliver gleich in Tränen ausbrechen würde, und machte eine neue Attacke.
»Woran ist sie denn gestorben, Zuchthäusler?« fragte er.
»An gebrochenem Herzen, hörte ich die alte Wärterin sagen«, murmelte Oliver, mehr zu sich selbst sprechend als zu seinem Kollegen. »Ich glaube, ich verstehe, was das heißt.«
»A was, dummes Zeug, Zuchthäusler«, sagte Noah, während eine Träne Oliver über die Wange lief. »Was hat dich denn so plötzlich zum Flennen gebracht?«
»Ach nichts«, erwiderte Oliver, sich schnell die Augen trocknend. »Du brauchst dir nichts darauf einzubilden. Aber schweig jetzt, das rat ich dir.«
»Was? Raten tust du’s mir?« rief Noah. »Ist das eine Frechheit! Na, und deine Mutter, das war auch so die Rechte.« Dabei nickte er hämisch mit dem Kopf und rümpfte seine kleine rote Stülpnase.
»Du tust mir ja leid, du Armenhäusler«, fuhr er, durch Olivers Schweigen kühn gemacht, höhnisch mit erheucheltem Mitleid fort. »Aber es lässt sich mal nicht mehr ändern. Du kannst ja auch nichts dafür und dauerst mich ja von Herzen. Aber deine Mutter war halt – na, du weißt schon was.«
»Was sagst du da!« fuhr Oliver auf.
»Na ja, so eine ganz Schlechte«, erwiderte Noah kaltblütig. »Für dich war es wohl das beste, du Armenhäusler, dass sie rechtzeitig ins Grab gebissen hat, sonst wär sie jetzt im Zuchthaus oder am Galgen. Oder vielleicht nicht?«
Purpurrot vor Wut sprang Oliver auf, packte Noah an der Gurgel und schüttelte ihn, dass ihm die Zähne im Munde klapperten. Dann schlug er ihn mit einem einzigen geschickten Hieb zu Boden.
Noch eine Minute vorher war Oliver das ruhigste sanfteste Geschöpf der Welt gewesen. Aber jetzt hatte die scheußliche Beschimpfung seiner Mutter sein Blut zum Wallen gebracht. Seine Augen blitzten, und er war völlig umgewandelt, wie er auf den feigen Quälgeist, der vor ihm auf dem Boden lag, niederblickte.
»Er will mich ermorden«, heulte Noah. »Charlotte! Mrs. Sowerberry! – Er schlägt mich tot – Hilfe – zu Hilfe! Oliver ist verrückt geworden. Char – lotte!«
Ein lautes Gekreisch aus Charlottens und ein noch lauteres aus Mrs. Sowerberrys Mund war die Antwort, und gleich darauf kam das Dienstmädchen in die Küche hereingestürzt, während die Meisterin wohlweislich auf der Treppe oben stehen blieb, bis sie sich vergewissert, dass nichts für sie auf dem Spiele stände, wenn sie ganz die Treppe herunterkäme.
»O du elendes Ungeheuer«, kreischte Charlotte und packte Oliver mit aller Kraft an der Brust. »Du – klei – ner – mord – gieriger – Schuft.« Und bei jeder Silbe versetzte sie dem armen Oliver zum Ergötzen der Anwesenden einen Hieb.
Ihre Faust war ziemlich gewichtig und hätte Olivers Mordlust, wenn eine solche vorhanden gewesen wäre, sicher gedämpft. So aber kam auch noch Mrs. Sowerberry dazu, stürzte in die Küche, hielt ihn mit einer Hand fest und zerkratzte ihm mit der anderen das Gesicht. Das gab natürlich Noah seinen Mut wieder zurück, er stand auf und begann von rückwärts auf Oliver einzuhauen.
Dieser überstürzte Angriff war doch etwas zu heftig, als dass er hätte lange dauern können. Als sich die drei müde geprügelt hatten und nicht mehr weiter konnten, schleppten sie Oliver, der sich immer noch aus Leibeskräften wehrte und aus vollem Halse schrie, in den Kohlenkeller, wo sie ihn einsperrten. Dann sank Mrs. Sowerberry in einen Stuhl und brach in Tränen aus.
»O Gott, sie stirbt«, jammerte Charlotte. »Ein Glas Wasser, Noah! Wasser! Schnell, schnell!«
»Ach, Charlotte, wir können Gott danken, dass wir nicht längst alle in unsern Betten ermordet worden sind.«
»Ja, ja, es ist eine Gnade des Himmels, Madame«, erwiderte das Dienstmädchen. »Der arme Noah, er war schon halb tot, als ich hereinkam.«
»Der arme, arme Junge«, rief Mrs. Sowerberry mitleidig. Und auch Noah war ganz ergriffen und heuchelte ein paar Tränen.
»Was sollen wir nur tun?« riet Mrs. Sowerberry. »Mein Mann ist nicht zu Hause, niemand ist da, und die Tür wird uns der Mordbube in ein paar Minuten eingetreten haben.« Olivers energische Attacken gegen die Bretterwand des Kohlenkellers ließen ein solches Ereignis allerdings als höchst wahrscheinlich annehmen.
»O Gott, o Gott, ich weiß auch nicht, was wir tun sollen, Mrs. Sowerberry«, jammerte Charlotte. »Sollen wir nicht vielleicht nach der Polizei schicken?«
»Oder nach dem Mülidär«, rief Mr. Claypole.
»Nein, nein«, widersprach Mrs. Sowerberry, sich in diesem Augenblick an Olivers alten Freund erinnernd. »Lauf zu Mr. Bumble, Noah, und sage ihm, er solle doch gleich herkommen. Such erst nicht lang nach deiner Mütze, sondern eil dich. Halt dir beim Laufen eine Messerklinge an deine Beule, da vergeht die Geschwulst am schnellsten.«
Noah ließ sich nicht erst lange Zeit, eine Antwort zu geben, sondern rannte so schnell er konnte, ein Messer an seine Stirn drückend, durch die Straßen ins Gemeindearbeitshaus.
Noah Claypole hielt nicht einen Augenblick im Laufen inne und kam atemlos vor dem Tor des Gemeindearbeitshauses an. Einen Augenblick blieb er stehen, um eine möglichst klägliche Miene anzunehmen, klopfte dann laut und zeigte dem alten Armenhäusler, der ihm öffnete, ein so jammervolles Gesicht, dass dieser vor Erstaunen zurückprallte und fragte: »Um Gottes willen, was hast du denn, Junge?«
»Mr. Bumble, Mr. Bumble«, schrie Noah in gut geheuchelter Angst und so laut und gellend, dass Mr. Bumble, der ihn sofort hörte, augenblicklich ohne seinen Dreispitz in die Flur gestürzt kam – ein deutlicher Beweis, dass unter Umständen sogar ein Kirchspieldiener die Besinnung verlieren und alle Würde außer acht lassen kann.
»Mr. Bumble, Mr. Bumble«, keuchte Noah, »Oliver, Mr. Bumble, – Oliver – Oliver ist -«
»Was denn, was ist er denn?« fragte Mr. Bumble, und ein Strahl von Freude leuchtete aus seinen gläsernen Augen. »Doch nicht davongelaufen? So sprich doch, Noah!«
»Nein, Sir, nein, fortgelaufen ist er nicht, Sir. Aber mich, Charlotte und Mrs. Sowerberry hat er ermorden wollen. O Gott, o Gott, Sir, – mein Hals, mein Kopf, meine Brust – ich halts nicht aus vor Schmerzen.«
Sein Jammergeheul lockte den Gentleman mit der weißen Weste herbei.
»Sir!« schrie Bumble. »Hören Sie! Hier ist ein Junge aus dem Waisenstift, der von Oliver Twist beinahe ermordet worden wäre.«
»Sehen Sie, sehen Sie«, rief der Gentleman mit der weißen Weste und blieb erstarrt stehen. »Hab ichs nicht gleich gesagt! Ich habe immer prophezeit: der Bursche wird noch einmal am Galgen enden.«
»Und das Dienstmädchen hat er auch ermorden wollen«, stotterte Mr. Bumble mit aschfahlem Gesicht.
»Und Mrs. Sowerberry auch«, setzte Mr. Claypole hinzu.
»Und seinen Herrn ebenfalls, nicht wahr, Noah?«
»Nein, der war ausgegangen«, erklärte Noah, »sonst hätt er ihn sicher auch ermordet.«
»So? Hat er das angedroht?« fragte der Gentleman in der weißen Weste.
»Ja, Sir«, antwortete Noah. »Und eine Empfehlung von Mrs. Sowerberry, und Sie lässt fragen, ob Mr. Bumble nicht Zeit hat, gleich mitzukommen und ihn durchzuprügeln, da der Herr Meister nicht zu Hause ist.«
»Gewiss, mein Junge, gewiss«, versicherte der Gentleman mit der weißen Weste und lächelte gütig. »Du bist ein braver Junge – ein braver Junge. Hier hast du einen Penny. Bumble, nehmen Sie mal gleich Ihren Stock und gehen Sie hinüber und tun Sie, was Sie können. Schonen Sie den Burschen nicht, Bumble!«
»Nein, gewiss nicht, Sir«, versprach der Kirchspieldiener und rieb das Ende seines Stockes mit Wachs ein, wie es im Kirchspiel üblich war, wenn eine Prügelstrafe vollstreckt werden sollte.
»Sagen Sie auch Sowerberry, dass er ihn ja nicht schont. Ohne Striemen und Beulen tuts der Lausbengel nicht«, ermahnte der Gentleman mit der weißen Weste.
»Ich werde die Sache schon besorgen, Sir«, versprach der Kirchspieldiener und machte sich mit Noah eiligst auf den Weg zum Laden des Sargtischlers.
Hier hatten die Dinge inzwischen keine wesentliche Änderung erfahren. Mr. Sowerberry war noch immer nicht zurück, immer noch schlug und stieß Oliver aus Leibeskräften gegen die Bretterwand. Die Schilderungen, die Mrs. Sowerberry und Charlotte von seiner Wildheit gaben, waren so verblüffender Art, dass Mr. Bumble es für angebracht hielt, vorerst einmal zu parlamentieren, ehe er die Kellertüre aufsperrte. Er legte zu diesem Zweck seinen Mund an das Schlüsselloch und rief mit Bassstimme hinein:
»Oliver.«
»Lassen Sie mich hinaus«, antwortete Oliver von innen.
»Kennst du meine Stimme, Oliver?« forschte Mr. Bumble.
»Ja.«
»Und du fürchtest dich nicht vor mir? Du zitterst nicht?«
»Nein«, versetzte Oliver kühn.
Mr. Bumble war sprachlos vor Erstaunen. »Er muss verrückt geworden sein«, bemerkte Mrs. Sowerberry.
»Nein, das ist nicht Verrücktheit, Madame«, sagte Mr. Bumble, »das macht das Fleisch.«
»Was?« rief Mrs. Sowerberry.
»Ja, ja, das kommt vom Fleischessen, Mrs. Sowerberry. Da haben Sies. Überfüttert haben Sie ihn. Sie haben seinen rebellischen Sinn geweckt. Und das war unrecht gehandelt, wie Ihnen auch die Herren Amtsvorstände, die gewiss erfahrene Männer sind, bestätigen werden. Hätten Sie ihm weiter seinen Haferschleim gegeben, wäre so etwas nie passiert.«
»O Gott im Himmel, Gott im Himmel«, jammerte Mrs. Sowerberry, die Augen fromm zur Decke erhebend. »Das hat man davon, wenn man liberal denkt.«
Wieder fing Oliver an, gegen die Bretterwand zu hämmern, da ging die Türe unten und Mr. Sowerberry kam nach Hause. Nachdem ihm Olivers Missetat haarklein geschildert worden, wobei es an Übertreibungen natürlich nicht fehlte, riegelte er unverzüglich die Kellertüre auf und zog seinen rebellischen Lehrjungen am Kragen heraus.
Olivers Kleider waren infolge der Prügelei total zerrissen. Sein Gesicht war zerkratzt und mit Beulen bedeckt, und das Haar hing ihm wild über die Stirn. Aber immer noch lag die Zornesröte auf seinen Wangen, und wie er herausgezerrt wurde, schoss er einen grimmigen Blick auf Noah.
»Du bist mir ja ein netter Bursche«, schrie Mr. Sowerberry, schüttelte ihn tüchtig durch und gab ihm eine Ohrfeige.
»Er hat meine Mutter beschimpft«, antwortete Oliver.
»Na, was ist denn da weiter dabei, du undankbarer Taugenichts«, gellte Mrs. Sowerberry. »Hat er damit vielleicht nicht recht gehabt.«
»Nein, er hat nicht recht gehabt«, rief Oliver.
»Sie hat es verdient«, schrie Mrs. Sowerberry.
»Das ist eine Lüge«, erklärte Oliver kühn.
Sofort brach Mrs. Sowerberry in eine Flut von Tränen aus, die ihrem Gatten keine Wahl mehr weiter ließ. Wollte er wirklich einen Augenblick zögern, Oliver streng zu bestrafen, so gab es für ihn jetzt keine Entschuldigung mehr; seine Ehehälfte würde ihm die schrecklichsten Predigten gehalten haben. Er züchtigte Oliver daher in einer Weise, die Mr. Bumbles Eingreifen mehr als überflüssig machte. Dann wurde der kleine Missetäter bei Wasser und Brot wieder eingesperrt, und lange noch verhänselten und beschimpften ihn Noah, Charlotte und Mrs. Sowerberry durch die Türe durch, bis auch sie sich endlich schlafen legten.
Erst als es ganz still geworden, konnte Oliver sich seinen Gefühlen überlassen. Allen ihren Sticheleien hatte er nur ein verstocktes Schweigen entgegengesetzt, und ohne ein einziges Mal zu schreien, hatte er die Züchtigung seines Meisters hingenommen. Jetzt aber, wo niemand da war, der ihn sehen konnte, kniete er nieder, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte – weinte, wie wohl wenige Kinder vor ihm geweint haben mögen.
Es dauerte lange, bis er sich wieder erhob, und die Kerze brannte schon tief im Leuchter, als er aufstand. Vorsichtig spähte er umher und lauschte gespannt. Dann mühte er sich ab, den Riegel zurückzuschieben, was ihm endlich gelang, und lugte hinaus.
Es war eine kalte finstere Nacht, und die Sterne schienen in viel größerer Entfernung von der Erde, als Oliver sie jemals gesehen zu haben sich erinnerte. Kein Lufthauch regte sich. Leise schloss er die Türe wieder, und nachdem er bei dem erlöschenden Kerzenlicht die wenigen Kleidungsstücke, die er sein eigen nannte, in ein Bündel geschnürt, setzte er sich auf eine Bank, um den Anbruch des Morgens zu erwarten.
Mit dem ersten Lichtstrahl, der durch die Ritzen des Ladens schien, erhob er sich, – ein Schauerblick nach rückwärts, ein Moment der Unentschlossenheit, – dann hatte er die Türe hinter sich geschlossen und stand draußen auf der Straße. Er blickte nach rechts und links, ungewiss, wohin er sich wenden solle. Es fiel ihm ein, einmal gesehen zu haben, dass alle Wagen, wenn sie nach der Stadt fuhren, den Hügel hinaufwankten. Er schlug denselben Weg ein. Und als er auf der Landstraße anlangte, schritt er rüstig weiter. Er kam am Arbeitshaus vorüber. Nichts verriet, dass seine Insassen zu so früher Stunde schon auf sein könnten. Oliver blieb stehen und spähte in den Garten. Ein Kind jätete mit dem Spaten in einem kleinen Beet, hob sein blasses Gesicht, und Oliver erkannte die Züge eines früheren Leidensgefährten. Er freute sich, dass er den kleinen Jungen vor seinem Fortgehen noch einmal sah, denn er war ihm, wenn er auch jünger als er war, ein lieber Freund und Spielkamerad gewesen. Sie hatten zusammen gelitten, waren zusammen eingesperrt worden und hatten immer miteinander hungern müssen.
»Heda, Dick«, sagte Oliver, als der Junge zum Geländer gelaufen kam und ihm seinen dünnen Arm zum Willkommen durch die Stäbe reichte. »Ist schon jemand auf?«
»Nur ich.«
»Sag nicht, dass du mich gesehen hast, Dick«, flüsterte Oliver, »ich bin geflohen. Man hat mich geschlagen und misshandelt. Ich gehe und such mir mein Glück wo anders. Wo, weiß ich noch nicht. Wie blass du aussiehst.«
»Der Doktor hat gesagt, ich muss sterben – ich habs gehört«, antwortete der Kleine mit einem schwachen Lächeln. »Ich freue mich, dass ich dich noch einmal sehe, lieber Oliver. Aber halt dich nicht auf, geh rasch fort.«
»Ich will dir nur Lebewohl sagen«, antwortete Oliver. »Ich werde dich schon noch wiedersehen, Dick. Ich weiß es bestimmt, Dick. Es wird dir noch einmal gut gehen und du wirst glücklich werden.«
»Ich will es hoffen«, erwiderte der Kleine. »Aber erst, wenn ich mal gestorben bin; vorher kann’s nicht sein. Der Doktor wird schon recht haben, Oliver; und ich träume so viel vom Himmel und von Engeln mit milden Gesichtern, wie sie hier auf Erden nicht sind. Komm, gib mir einen Kuss«, – der Kleine kletterte auf das niedrige Gittertor und schlang seine Hände um Olivers Hals. »Leb wohl, lieber Freund, und Gottes Segen.«
Der Segenswunsch kam von den Lippen eines kleinen Jungens, aber es war der erste Segen, den Oliver zu hören bekam. In allen Kämpfen, in allen Mühsalen und Leiden, die ihn betrafen, vergaß er ihn nie.