Und das war folgender. Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einer Dachstube neben meinem Schlafraum, um die sich niemand kümmerte, hinterlassen. Aus diesem gesegneten kleinen Stübchen kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landprediger von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas und Robinson Crusoe – eine glorreiche Schar – zu mir, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie erhielten meine Fantasie lebendig – und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus; sie und Tausendundeine Nacht und die persischen Märchen brachten mir keinen Schaden, denn was in einigen von ihnen Schädliches sein mochte, war für mich nicht da; ich verstand nichts davon. Es ist mir nur unbegreiflich, woher ich inmitten meines Hockens und Brütens über schwierigere Themen die Zeit nahm, alle diese Bücher zu lesen. Es ist mir jetzt wunderbar, wie es für mich in meinen kleinen und doch so großen Leiden tröstlich sein konnte, dass ich die Rollen meiner Lieblingscharaktere in diesen Geschichten auf mich übertrug und Mr. und Miss Murdstone mit allen schlechten bedachte. Eine ganze Woche lang war ich Tom Jones in Kindergestalt. Die Rolle Roderick Randoms habe ich wohl einen Monat lang gespielt.
Ich fraß förmlich ein paar Bände Reisebeschreibungen, ich weiß nicht mehr, welche, und tagelang bin ich in der oberen Region des Hauses heimlich umhergestreift, bewaffnet mit dem Mittelstück eines alten Stiefelholzes, als Kapitän Soundso von der königlich britischen Flotte, der von Wilden bedroht war und sein Leben so teuer wie möglich verkaufen wollte. Niemals verlor der Kapitän seine Würde, wenn ihm die lateinische Grammatik um die Ohren geschlagen wurde. Ich litt wohl darunter, der Kapitän aber blieb Kapitän und ein Held trotz aller Grammatiken, aller lebenden und toten Sprachen.
Das bildete meinen einzigen und beständigen Trost. Wenn ich daran denke, steht mir ein Sommerabend vor Augen, wo die Kinder draußen auf dem Kirchhof spielten und ich auf dem Bette saß und auf Tod und Leben draufloslas. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche, jeder Fußbreit des Friedhofs standen in meiner Seele in Verbindung mit diesen Büchern und vertraten die Stelle eines in ihnen berühmt gewordnen Ortes. Ich habe gesehen, wie Tom Pipes den Kirchturm hinaufkletterte, habe Strab mit dem Schnappsack auf dem Rücken beobachtet, wie er an der Gitterpforte am Zaun ausruhte, und ich weiß, dass Commodore Trunnion seine Klubsitzung mit Mr. Pickle in der Gaststube unserer kleinen Dorfschenke abhielt. So war ich damals geartet, als das Ereignis eintrat, von dem ich jetzt berichten will.
Eines Morgens, als ich mit meinen Büchern in das Wohnzimmer trat, bemerkte ich, dass meine Mutter sehr ängstlich aussah und Miss Murdstone sehr fest, während Mr. Murdstone etwas um das untere Ende eines Rohrstockes wickelte. Es war ein geschmeidiges und schächtiges Rohr, das er in der Hand wippte und durch die Luft sausen ließ, als ich hereinkam.
»Ich sage dir doch, Klara«, bemerkte Mr. Murdstone, »ich selbst bin oft durchgehauen worden.«
»Gewiss, selbstverständlich«, sagte Miss Murdstone.
»Gewiss, liebe Jane«, stammelte meine Mutter demütig. »Aber – aber meinst du, dass es Edward gutgetan hat?«
»Glaubst du, dass es Edward geschadet hat, Klara?« fragte Mr. Murdstone ernst.
»Das ist der springende Punkt«, sagte seine Schwester.
»Gewiss, liebe Jane«, weiter sagte meine Mutter nichts mehr.
Mich beschlich das Gefühl, dass sich das Zwiegespräch auf mich bezöge. Und ich suchte und begegnete Mr. Murdstones Blick.
»Nun, David?« sagte er und sein Auge blitzte. »Du musst dich heute viel mehr in acht nehmen als gewöhnlich.« Er hieb weiter mit dem Rohr durch die Luft, und nachdem er diese Vorbereitung beendigt hatte, legte er es mit ausdrucksvollem Blick neben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.
Nur für den Beginn war dies eine gute Auffrischung meiner Geistesgegenwart. Dann fühlte ich, wie die Worte mir beim Aufsagen entschwanden, nicht einzeln oder zeilenweise, sondern gleich ganze Seiten lang. Ich versuchte meine Gedanken wieder einzufangen, aber es war, als ob sie Schlittschuhe anhätten und mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit wegglitten.
Wir fingen schlecht an und fuhren noch schlechter fort. Ich war hereingekommen mit dem Bewusstsein, dass ich mich heute sogar auszeichnen würde, denn ich glaubte recht gut vorbereitet zu sein, aber es stellte sich als vollständiger Irrtum heraus. Ein Buch nach dem anderen vermehrte den Haufen der Rückstände, und Miss Murdstone wandte die ganze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir endlich zu den fünftausend Käsen kamen, – er machte an diesem Tage Rohrstöcke daraus –, fing meine Mutter zu weinen an.
»Klara!« sagte Miss Murdstone mit warnender Stimme.
»Ich fühle mich nicht ganz wohl, meine liebe Jane, glaube ich«, sagte meine Mutter.
Ich sah Mr. Murdstone feierlich seiner Schwester zuwinken, als er aufstand, das Rohr nahm und sagte:
»Nun, Jane, wir können kaum erwarten, dass Klara mit unerschütterlicher Festigkeit den Ärger und die Qual trägt, die David ihr heute verursacht hat. Das würde stoisch sein. Klara hat sich sehr gefestigt und ist viel stärker geworden, aber wir können kaum so viel von ihr erwarten. David, wir wollen jetzt beide hinaufgehen.«
Als er mich aus der Türe zog, rannte meine Mutter auf uns zu. Miss Murdstone sagte: »Klara! Bist du denn ganz närrisch!« und trat dazwischen. Ich sah, wie sich meine Mutter die Ohren zuhielt, und hörte sie weinen.
Er führte mich in mein Zimmer, langsam und feierlich; ich weiß bestimmt, es machte ihm Freude, die Exekution so förmlich zu gestalten – und als wir oben angekommen waren, klemmte er plötzlich meinen Kopf unter seinen Arm.
»Mr. Murdstone! Sir!« schrie ich auf. »O bitte, schlagen Sie mich nicht. Ich habe mir solche Mühe beim Lernen gegeben, Sir, aber ich kann es nicht aufsagen, wenn Sie und Miss Murdstone dabei sind. Ich kann es wirklich nicht!«
»Kannst du wirklich nicht, David?« fragte er. »Wir wollens mal versuchen.«
Er hielt meinen Kopf fest wie in einem Schraubstock. Aber ich entwand mich doch noch, und es gelang mir, ihn einen Augenblick aufzuhalten. Nur einen Augenblick, denn gleich darauf versetzte er mir einen heftigen Schlag. In demselben Augenblick erhaschte ich seine Hand mit meinem Mund und biss sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zähnen, wenn ich daran denke.
Er schlug mich dann, als ob er mich totpeitschen wollte. Durch all den Lärm, den wir machten, hörte ich die anderen die Treppe heraufrennen und aufschreien – ich hörte meine Mutter aufschreien – und Peggotty. Dann war er fort, und die Tür war von außen verschlossen. Und ich lag fieberheiß und zerrissen und wund auf dem Boden und raste in ohnmächtiger Wut.
Ich weiß mich gut zu erinnern, welch unnatürliche Stille im ganzen Haus herrschte, als ich wieder ruhig wurde. Ich kann mich gut entsinnen, als Schmerz und Leidenschaft sich legten, wie schlecht ich mir vorkam.
Ich saß lange Zeit lauschend da, aber es war kein Laut zu vernehmen. Ich raffte mich vom Boden auf und sah mein Gesicht im Spiegel so verschwollen und entstellt, dass ich mich entsetzte. Die Striemen waren wund und hart, und ich musste aufschreien, wenn ich mich rührte. Aber sie waren nichts gegen mein Schuldbewusstsein. Es lastete schwer auf meiner Brust, wie wenn ich der schlimmste Verbrecher gewesen wäre.
Es fing an zu dunkeln, und ich machte das Fenster zu, – ich hatte die ganze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fensterbrett gelegen und abwechselnd geweint, halb geschlafen oder gedankenlos hinausgesehen, – als sich der Schlüssel herumdrehte und Miss Murdstone mit Brot, Fleisch und Milch hereintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, setzte sie es auf den Tisch und starrte mich währenddessen ununterbrochen mit größter Festigkeit an, entfernte sich dann und schloss die Türe hinter sich zu.
Noch lange saß ich im Dunkeln da und grübelte, ob sonst noch jemand kommen werde. Als das für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furchtsam zu fragen, was jetzt wohl mit mir geschehen würde. War es ein Verbrechen, das ich begangen hatte? Würde man mich verhaften und ins Gefängnis stecken, mich am Ende gar hängen?!
Ich werde nie das Erwachen am nächsten Morgen vergessen: Im ersten Augenblick froh und heiter, war ich plötzlich durch die erwachende Erinnerung wie niedergeschmettert. Miss Murdstone erschien wieder, ehe ich mich erhob, sagte mir mit kurzen Worten, dass ich eine halbe Stunde, aber nicht länger, spazierengehen dürfte, und verschwand. Sie ließ diesmal die Türe offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch machen könnte.
Ich tat es und jeden folgenden Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen können, wäre ich vor ihr auf die Knie gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, aber ich bekam niemand zu Gesicht, außer Miss Murdstone. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin führte mich Miss Murdstone, und ich musste wie ein junger Sträfling an der Tür stehen bleiben, während alle ihre Plätze einnahmen; und ehe sie sich erhoben, führte mich meine Kerkermeisterin mit großer Feierlichkeit wieder ins Gefängnis. Ich bemerkte, dass meine Mutter, am allerweitesten von mir entfernt, ihr Gesicht von mir abgewandt hielt, und dass Mr. Murdstones Hand mit einem großen leinenen Tuch verbunden war.
Wie entsetzlich lang mir diese fünf Tage wurden, kann ich nicht beschreiben. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorkommnissen im Hause lauschte, das Klingeln, das Öffnen und Schließen von Türen, das Murmeln von Stimmen, die Schritte auf den Treppen, das Lachen, Pfeifen und Singen draußen, das mir in meiner Einsamkeit und Verstoßenheit furchtbarer erschien, als alles andere, das ungewisse Schleichen der Stunden, besonders des Nachts, wenn ich in dem Glauben aufwachte, es sei schon Morgen, während die Familie noch nicht zu Bett gegangen war und ich noch die ganze lange Nacht vor mir hatte, – die quälenden Träume mit ihrem Alpdrücken, – die Wiederkehr von Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Jungen draußen auf dem Kirchhof spielten, und ich sie vom Hintergrund des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich wie ein Gefangener am Fenster zu zeigen, – das fremdartige Gefühl, dass ich mich nie sprechen hörte, – die flüchtigen Pausen schnell entschwindender Erleichterung, die mit dem Essen und Trinken kam und wieder ging, der Regen eines Abends mit seinem frischen Duft, wie er immer dichter und dichter wurde zwischen mir und der Kirche, bis er und die hereinbrechende Nacht mich in einer Finsternis von Furcht und Reue zu ersticken drohten, – alles das scheint Jahre statt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief hat es sich mir eingeprägt.
In der letzten Nacht meiner Haft wachte ich auf und hörte meinen Namen flüstern. Ich richtete mich im Bett auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und fragte:
»Bist dus, Peggotty?«
Es kam nicht sogleich eine Antwort. Aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schaurigen Ton, dass ich vor Schrecken wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre, hätte ich nicht plötzlich begriffen, dass er durch das Schlüsselloch kommen müsse. Ich tappte mich zur Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:
»Bist dus, liebe Peggotty?«
»Ja, mein einziger lieber Davy. Sei so leise wie eine Maus, sonst hört uns die Katze.«
Ich verstand sogleich, dass Miss Murdstone gemeint war, und fühlte die Notwendigkeit der Vorsicht, denn ihr Zimmer stieß dicht an meines.
»Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie sehr böse auf mich?«
Ich konnte hören, dass Peggotty leise vor der Tür weinte, – wie ich, ehe sie antworten konnte:
»Nein, nicht sehr.«
»Was wird mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du es?«
»Schule. Bei London«, war Peggottys Antwort. Sie musste es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es das erste Mal in meinen Hals hineingesprochen, weil ich vergaß, den Mund vom Schlüsselloch wegzunehmen und das Ohr daranzulegen. Ihre Worte kitzelten mich sehr, aber verstehen konnte ich sie nicht.
»Wann, Peggotty?«
»Morgen.«
»Hat deshalb Miss Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?«
»Ja«, sagte Peggotty. »Koffer.«
»Werde ich Mama nicht mehr wiedersehen?«
»Ja«, sagte Peggotty. »Morgen früh.« Dann legte sie ihre Lippen dicht an das Schloss und sprach die folgenden Worte so gefühlvoll und innig, wie sie wohl nie durch ein Schlüsselloch mitgeteilt worden sind, und stieß jeden Satz abgebrochen mit einem krampfhaften kleinen Ruck hervor:
»Lieber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herzlich – mit dir bin, wie früher, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr liebe, mein liebes Herzenspüppchen, – sondern bloß weil ich glaube, es ist besser für dich – und für jemand anders. Davy, mein Liebling, hörst du mich? Kannst du hören?«
»Ja-a-a-a, Peggotty«, schluchzte ich.
»Du mein Herzenskind«, flüsterte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur sagen, du darfst mich niemals vergessen. Auch ich will dich niemals vergessen. Und ich will deine Mama, Davy, so in acht nehmen, wie ich dich in acht genommen habe. Und ich werde sie nie verlassen. Der Tag wird noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf ihrer dummen, mürrischen, alten Peggotty wieder auf den Arm legen wird. Ich werde dir schreiben, mein Liebling. Wenn ich auch kein Gelehrter bin, und ich will – ich will –« Peggotty fing an, das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.
»Ich danke dir, meine liebe Peggotty«, sagte ich. »Ich danke, danke dir. Willst du mir nur eins versprechen, Peggotty? Wirst du Mr. Peggotty und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge und Ham sagen, dass ich nicht so schlecht bin, wie sie vielleicht denken, und dass ich sie alle von Herzen grüßen lasse, besonders die kleine Emly? Willst du so gut sein, Peggotty?«
Die gute Seele versprach mirs, und wir küssten beide das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit, – ich streichelte es mit der Hand, entsinne ich mich noch, als ob es ihr ehrliches Gesicht gewesen wäre, – und trennten uns. Seit dieser Nacht wuchs in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie ersetzte mir nicht meine Mutter, niemand hätte das können, aber sie füllte eine Leere in meinem Herzen aus, die sich über ihr schloss, und ich fühlte etwas für sie, was ich nie für ein anderes menschliches Wesen empfunden habe. Es mischte sich das Gefühl des Komischen wohl unter meine Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie ich den Schmerz ertragen hätte, wenn sie gestorben wäre.
Frühmorgens erschien Miss Murdstone wie gewöhnlich und sagte mir, dass ich in die Schule geschickt würde, was mich durchaus nicht so überraschte, wie sie wohl angenommen hatte. Sie sagte mir auch, dass ich hinunterkommen sollte in die Wohnstube zum Frühstück. Dort fand ich meine Mutter sehr blass und mit roten Augen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tiefbewegter Seele um Verzeihung.
»O Davy!« sagte sie, »dass du jemand weh tun konntest, den ich liebe. Versuche dich zu bessern, bete darum, dass du besser werdest. Ich verzeihe dir, aber ich bin voll Kummer, Davy, dass du ein so böses Herz hast.«
Sie hatten ihr eingeredet, dass ich ein verworfenes Geschöpf wäre, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck.
Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die Tränen tröpfelten auf mein Butterbrot und in meinen Tee.
Ich sah, wie meine Mutter mich von Zeit zu Zeit anblickte und dann auf Miss Murdstone sah und die Augen niederschlug oder wegschaute.
»Ist Master Copperfields Koffer da?« fragte Miss Murdstone, als draußen der Wagen vorfuhr. Ich sah mich nach Peggotty um, aber weder sie noch Mr. Murdstone erschien. Mein alter Bekannter, der Fuhrmann, stand an der Tür, nahm den Koffer und hob ihn auf den Wagen.
»Klara!« sagte Miss Murdstone in warnendem Ton.
»Ich bin bereit, liebe Jane«, sagte meine Mutter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu deinem eignen Besten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Feiertagen nach Hause kommen und ein besserer Junge sein.«
»Klara!« wiederholte Miss Murdstone.
»Gewiss, meine liebe Jane«, antwortete meine Mutter und hielt meine Hand noch immer fest. »Ich verzeihe dir, mein lieber Junge. Gott segne dich!«
»Klara!« wiederholte Miss Murdstone. Sie hatte die Güte, mich zum Wagen zu führen und mir unterwegs zu sagen, sie hoffe, ich würde in mich gehen, ehe es ein schlimmes Ende mit mir nähme, und dann stieg ich in den Wagen und das faule Pferd trottete mit mir davon.
Wir waren kaum eine Viertelstunde gefahren, und mein Taschentuch war ganz durchnässt, als der Kutscher plötzlich anhielt.
Als ich hinaussah, brach zu meinem Erstaunen Peggotty aus einer Hecke hervor und kletterte in den Wagen. Sie schloss mich in die Arme und presste mich derartig an ihren Schnürleib, dass mir die Nase wehtat. Nicht ein einziges Wort sprach Peggotty. Sie ließ mich mit dem einen Arm los, griff bis an den Ellbogen in ihren Rock und holte ein paar in Papier gewickelte Kuchen hervor, die sie mir in die Tasche stopfte. Einen Geldbeutel drückte sie mir in die Hand. Sie sprach dabei kein Wort.
Sie presste mich noch ein letztes Mal an ihren Schnürleib, stieg aus und lief davon, wie ich glaube und stets geglaubt habe, ohne einen einzigen Knopf an ihrem Kleid. Ich hob einen der vielen, die herumrollten, auf und bewahrte ihn lange Zeit als ein teures Andenken.
Der Fuhrmann sah mich fragend an, ob sie zurückkäme. Ich schüttelte den Kopf und sagte, ich dächte nicht. »Also los«, rief er seinem faulen Pferde zu, das sich daraufhin in Bewegung setzte.
Da ich mich ordentlich ausgeweint hatte, fing ich jetzt an zu überlegen, dass Tränen doch nichts nützten, umso mehr, als weder Roderick Random, noch jener Kapitän der englischen Flotte jemals in schwierigen Lagen geweint hätten, so viel ich mich entsinnen konnte. Als der Fuhrmann mich so gefasst sah, schlug er mir vor, mein Taschentuch zum Trocknen dem Pferd auf den Rücken zu legen. Ich dankte ihm und gab es ihm, und merkwürdig klein sah es aus, als es dort lag.
Ich hatte jetzt Muße, die Börse zu untersuchen. Es war ein steifer Lederbeutel mit einem Schloss und drin befanden sich drei glänzende Schillinge, die Peggotty mit Putzpulver poliert hatte, damit es mich noch mehr freuen sollte. Aber sein kostbarster Inhalt bestand aus zwei halben Kronen in einem Stück Papier, worauf mit meiner Mutter Handschrift stand: »Für Davy. Mit herzlichem Gruß.« Ich war davon so gerührt, dass ich den Fuhrmann bat, mir wieder mein Taschentuch hereinzureichen, aber er meinte, es ginge wohl auch so, und so wischte ich meine Augen mit dem Rockärmel und bezwang mich.
Es gelang mir, wenn mich auch noch hier und da das Schluchzen riss. Nach einer Weile Trottes fragte ich den Fuhrmann, ob er die ganze Reise mache.
»Welche Reise?« fragte er.
»Dahin«, sagte ich.
»Wo, dahin?« fragte der Fuhrmann.
»Nun bei London«, sagte ich.
»Das Pferd«, sagte der Fuhrmann und schlenkerte mit dem Zügel statt hinzudeuten, »wäre toter als Schweinefleisch, ehe wir noch halb hinkämen.«
»Sie fahren also nur bis Yarmouth?« fragte ich.
»Stimmt«, sagte der Fuhrmann. »Dort bringe ich Sie zur Postkutsche und die bringt Sie nach – wos eben ist.«
Da das für den Fuhrmann, der Mr. Barkis hieß, bei seinem phlegmatischen und wenig gesprächigen Temperament eine sehr lange Rede war, bot ich ihm als Zeichen meiner Erkenntlichkeit einen Kuchen an, den er auf einen Bissen verschlang, gerade wie ein Elefant, und der auf sein breites Gesicht nicht mehr Eindruck machte, als er auf das eines Elefanten gemacht hätte.
»Hat sie den gebacken?« fragte Mr. Barkis, der immer vorwärtsgebeugt auf seinem Sitze hockte, auf jedes Knie einen Arm gestützt.
»Peggotty, meinen Sie, Sir?«
»Hm«, sagte Mr. Barkis. »Sie.«
»Ja, sie backt alle unsere Kuchen und kocht für uns.«
»Wahrhaftig!«
Er spitzte den Mund, als wollte er pfeifen, aber er pfiff nicht. Er saß da und zielte nach den Ohren des Pferdes, als sähe er dort etwas ganz Besonderes. So saß er eine geraume Zeit. Endlich sagte er: »Keine Schätze?«
»Sagten Sie Plätzchen, Mr. Barkis?« Ich dachte, er wollte noch etwas zu essen haben und hätte auf diese Art Erfrischung angespielt.
»Schätze«, sagte Mr. Barkis. »Schätze! Niemand geht mit ihr?«
»Mit Peggotty?«
»Hm. Mit ihr.«
»O nein, sie hat niemals einen Schatz gehabt.«
»Wahrhaftig!?«
Wieder spitzte er den Mund zum Pfeifen, aber wieder pfiff er nicht, sondern zielte nach den Ohren des Pferdes.
»Sie macht also die Apfeltorten und besorgt die Küche, was?« fragte er nach einer langen Pause des Nachdenkens.
Ich bejahte.
»Gut. Ich will Ihnen was sagen; schreiben Sie ihr ’leicht?«
»Ich schreibe jedenfalls an sie.«
»Hm«, sagte er und wandte mir langsam seine Augen zu. »Gut. Wenn Sie ihr schreiben, sagen Sie ihr, dass Barkis will. Ja?«
»Dass Barkis will?« fragte ich unschuldig. »Ist das alles?«
»Jawoll«, sagte er nachdenklich. »Jawoll. Barkis will.«
»Aber Sie sind doch morgen wieder zurück in Blunderstone, Mr. Barkis«, sagte ich, und meine Stimme bebte ein wenig bei dem Gedanken, dass ich dann so weit fort sein würde, »und könnten Ihre Botschaft doch selber viel besser ausrichten.«
Da er aber diesen Vorschlag mit einem Ruck seines Kopfes zurückwies und seinen ersten Wunsch mit tiefstem Ernst wiederholte: »Barkis will«, übernahm ich bereitwillig den Auftrag. Später nachmittags, während wir im Gasthof in Yarmouth auf die Postkutsche warteten, ließ ich mir einen Bogen Papier und ein Tintenfass bringen und schrieb folgenden Brief an Peggotty: »Meine liebe Peggotty. Ich bin hier glücklich angekommen. Barkis will. Viele herzliche Grüße an Mama. Dein getreuer Davy. Nachschrift. Es ist mir nochmals aufgetragen worden: Barkis will.«
Als ich Mr. Barkis noch im Wagen mein Versprechen gegeben hatte, verfiel er wieder in sein tiefes Schweigen, und ich, ganz ermattet von den letzten Ereignissen, legte mich auf einen Sack im Wagen und schlief ein. Ich schlief gesund, bis wir in Yarmouth ankamen, das mir von dem Gasthof aus, vor dem wir hielten, so neu und seltsam vorkam, dass ich sogleich die stille Hoffnung aufgab, hier jemand von Mr. Peggottys Familie oder vielleicht gar die kleine Emly selbst zu treffen.
Die Postkutsche stand, über und über glänzend, im Hofe, aber noch waren keine Pferde vorgespannt, und sie sah in diesem Zustande aus, als wäre nichts unwahrscheinlicher, als dass sie je nach London fahren könnte. Ich fragte mich, was wohl aus meinem Koffer werden sollte, den Mr. Barkis auf das Pflaster gesetzt hatte, und aus mir, als eine Frau aus einem Bogenfenster, an dem Geflügel und Fleischstücke aufgehangen waren, heraussah und fragte:
»Ist das der junge Herr aus Blunderstone?«
»Ja, Ma’am«, sagte ich.
»Wie heißen Sie?« fragte die Frau.
»Copperfield, Ma’am«, sagte ich.
»Stimmt nicht. Für Copperfield ist nichts bestellt.«
»Vielleicht für Murdstone«, sagte ich.
»Wenn Sie Master Murdstone sind, warum sagen Sie da zuerst einen anderen Namen?«
Ich erklärte ihr den Zusammenhang, worauf sie eine Glocke zog und rief: »William, bring ihn ins Frühstückszimmer.« Aus der Küche am anderen Ende des Hofes kam ein Kellner herausgerannt und schien sehr erstaunt, als er bloß mich sah.
Es war ein sehr geräumiges Zimmer mit verschiedenen großen Landkarten an den Wänden. Ich setzte mich scheu mit der Mütze in der Hand auf die Ecke des Stuhles, der der Tür am nächsten stand, und als der Kellner für mich einen Tisch deckte, muss ich ganz rot vor Bescheidenheit geworden sein.
Er brachte mir einige Koteletten mit Gemüse und nahm den Deckel in so heftiger Weise herunter, dass ich glaubte, ich hätte ihn irgendwie beleidigt. Aber ich beruhigte mich wieder, als er mir den Stuhl an den Tisch schob und sehr leutselig sagte: »Nun, Sechsfußhoch, kommen Sie her.«
Ich dankte ihm und setzte mich an den Tisch, fand es aber sehr schwer, mit Messer und Gabel zu hantieren, ohne mich zu bespritzen. Währenddessen stand er mir gegenüber und wandte kein Auge von mir und machte mich immer schrecklich erröten, wenn ich seinem Blick begegnete.
Nachdem er mir bis zum zweiten Kotelett zugesehen, sagte er:
»Es ist auch eine halbe Pinte Ale für Sie bestellt. Wollen Sie sie jetzt haben?«
Ich dankte und sagte: »Ja.« Hierauf goss er das Bier aus einem Krug in ein großes Glas und hielt es gegen das Licht.
»Meiner Seel«, sagte er, »s scheint eine ganze, ganze Menge, was?«
»Ja, es scheint eine ganze Menge«, antwortete ich lächelnd, denn ich war ganz entzückt, dass er zu mir so freundlich war. Er war ein Mann mit zwinkernden Augen und sinnigem Gesicht, und das Haar stand ihm zu Berge. Wie er den Arm in die Seite gestemmt hatte und das Glas gegen das Licht hielt, sah er jedoch ganz gemütlich aus.
»Gestern war ein Gentleman hier«, fing er wieder an, »ein großer, starker Gentleman, der hieß Oberniedersäger. Kennen Sie ihn vielleicht?«
»Nein«, sagte ich, »ich glaube nicht.«
»Kurze Hosen und Gamaschen, breitkrempigen Hut, scheckiges Halstuch«, sagte der Kellner.
»Nein«, sagte ich gedrückt. »Ich habe nicht das Vergnügen.«
»Er kehrte hier ein«, sagte der Kellner und sah immer noch durch das Glas, »bestellte auch Ale, trotzdem ich ihm abriet, trank es und war tot auf der Stelle. War zu alt für ihn. Es sollte nicht ausgeschenkt werden. Das ist die Sache.«
Der tragische Vorfall machte mich ganz bestürzt und ich sagte, ich würde ein Glas Wasser vorziehen.
»Ja, sehen Sie«, sagte der Kellner, immer noch mit dem einen Auge durch das Glas spähend, das andere hatte er zugemacht, »unsre Leute sehens nicht gern, wenn etwas bestellt wird und stehen bleibt. Nehmens übel. Aber ich wills trinken, wenn Sie erlauben. Bin dran gewöhnt und Gewohnheit kann alles. Ich glaube nicht, dass es mir schadet, wenn ich den Kopf zurücklege und es rasch hinuntergieße. Was?«
Ich erwiderte, ich wäre ihm sehr verpflichtet, wenn er es tränke und es ihm nicht schaden würde. Sonst aber möge er es ja nicht tun. Als er den Kopf zurücklegte und es rasch hinuntergoss, erfasste mich eine schreckliche Angst, er könnte das Schicksal des bedauernswerten Mr. Oberniedersäger teilen und tot zu Boden fallen. Aber es tat ihm nichts. Im Gegenteil, es schien ihn nur erfrischt zu haben.
»Was haben wir denn da?« sagte er und fuhr dann mit einer Gabel in meine Schüssel. »Doch nicht Koteletten?«
»Koteletten«, sagte ich.
»Gott bewahre!« rief er aus. »Ich wusste gar nicht, dass es Koteletten sind. Ein Kotelett ist das beste gegen das Bier. Ist das ein Glück, was?«
Damit nahm er ein Kotelett, den Knochen in die eine Hand und eine Kartoffel in die andere, und verschlang beide zu meiner größten Befriedigung mit außerordentlichem Appetit. Dann nahm er noch ein Kotelett und noch eine Kartoffel und noch ein Kotelett und noch eine Kartoffel. Hierauf brachte er mir einen Pudding, setzte ihn auf den Tisch und schien ein paar Augenblicke ganz in Gedanken zu versinken.
»Wie ist die Pastete?« fragte er, wie aus einem Traum erwachend.
»Es ist Pudding«, gab ich zur Antwort.