David Copperfield

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From the series: Klassiker bei Null Papier
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Peg­got­ty schi­en sich die­se Zu­mu­tung sehr zu Her­zen zu neh­men, wie mir vor­kam.

»Und mein lie­ber Jun­ge«, schrie mei­ne Mut­ter, kam zu mir in den Lehn­stuhl und lieb­kos­te mich. »Mein ein­zi­ger klei­ner Davy! Las­se ich es viel­leicht an Lie­be für mein Herz­blatt feh­len? Für den al­ler­bes­ten klei­nen Jun­gen, den es je ge­ge­ben hat?«

»Kein Mensch hat das be­haup­tet«, sag­te Peg­got­ty.

»Ja du, Peg­got­ty«, gab mei­ne Mut­ter zu­rück, »du weißt es ganz gut. Was soll ich denn an­de­res aus dei­nen Wor­ten schlie­ßen, du un­freund­li­ches Ge­schöpf, wo du doch recht gut weißt, dass ich mir bloß sei­net­we­gen kei­nen neu­en Son­nen­schirm ge­kauft habe, ob­wohl der alte, grü­ne ganz ab­ge­scho­ben ist und gar kei­ne Fran­sen mehr hat. Du weißt es, Peg­got­ty, und kannst es nicht leug­nen.« Dann wand­te sie sich wie­der zärt­lich zu mir, leg­te ihre Wan­ge an mei­ne. »Bin ich dir eine nichts­nut­zi­ge Mama, Davy? Bin ich eine hart­her­zi­ge, grau­sa­me, selbst­süch­ti­ge, schlech­te Mama? Sag Ja, mein Kind, und Peg­got­ty wird dich lie­ben, und Peg­got­tys Lie­be ist viel bes­ser als mei­ne, Davy. Ich lie­be dich gar nicht, nicht wahr?«

Dar­über fin­gen wir alle an zu wei­nen. Ich glau­be, ich war der lau­tes­te von ih­nen, aber ich weiß si­cher, wir mein­ten es alle gleich auf­rich­tig. Ich war tief un­glück­lich und habe, fürch­te ich, in der ers­ten Auf­wal­lung ver­letz­ter Zärt­lich­keit Peg­got­ty ein »Biest« ge­nannt. Ich er­in­ne­re mich noch, das ehr­li­che Ge­schöpf ge­riet in die tiefs­te Be­trüb­nis und muss bei die­ser Ge­le­gen­heit ganz knopf­los ge­wor­den sein, denn eine gan­ze Sal­ve die­ser Ge­schos­se flog ab, als sie vor mei­nem Stuh­le nie­der­knie­te, um sich mit mei­ner Mut­ter und mir zu ver­söh­nen.

Wir gin­gen sehr nie­der­ge­schla­gen zu Bett. Mein Wei­nen hielt mich lan­ge wach, und wenn mich ein be­son­ders hef­ti­ges Schluch­zen in die Höhe riss, sah ich, dass mei­ne Mut­ter auf dem Bett­rand saß und sich über mich beug­te. Dann schlum­mer­te ich in ih­ren Ar­men fest ein.

Ob schon am fol­gen­den Sonn­tag der Herr wie­der kam, oder ob ein län­ge­rer Zeit­raum da­zwi­schen lag, ist mir nicht mehr er­in­ner­lich. In der Zeit­rech­nung bin ich mei­ner nicht ganz si­cher. Aber er war in der Kir­che und be­glei­te­te uns dann nach Hau­se.

Er trat auch zu uns her­ein, um ein schö­nes Gera­ni­um an­zu­se­hen, das im Fens­ter stand. Es kam mir nicht so vor, als ob er es be­son­ders be­ach­te­te, aber ehe er ging, bat er mei­ne Mut­ter, ihm eine Blü­te da­von zu ge­ben. Sie bat ihn, sich selbst eine aus­zu­su­chen, aber das woll­te er nicht – warum, war mir un­be­greif­lich –, und so pflück­te sie ihm denn eine Blü­te und gab sie ihm in die Hand. Er sag­te, er wer­de sich nie­mals im Le­ben da­von tren­nen, und ich dach­te mir, er müs­se sehr dumm sein, weil er nicht wis­se, dass die Blät­ter in ein oder zwei Ta­gen aus­fal­len wür­den.

Peg­got­ty fing an, uns abends we­ni­ger Ge­sell­schaft zu leis­ten als frü­her. Mei­ne Mut­ter gab ihr in sehr vie­len Din­gen nach, mehr noch als ge­wöhn­lich, wie mir schi­en, und wir blie­ben alle drei die al­ler­bes­ten Freun­de.

Aber doch war es zwi­schen uns an­ders ge­wor­den, und es war uns nicht mehr so be­hag­lich zu Mute. Manch­mal kam es mir so vor, als ob Peg­got­ty nicht recht zu­frie­den wäre, wenn mei­ne Mut­ter die schö­nen Klei­der an­zog, die sie im Schrank hän­gen hat­te, und so oft die Nach­barn be­su­chen ging. Aber ich war ganz froh, dass ich mir kei­ne Ge­dan­ken dar­über zu ma­chen brauch­te.

All­mäh­lich ge­wöhn­te ich mich dar­an, den Herrn mit dem schwar­zen Ba­cken­bart zu se­hen. Er ge­fiel mir nicht bes­ser als am An­fang, und ich fühl­te im­mer noch die­sel­be un­be­stimm­te Ei­fer­sucht. Aber wenn ich spä­ter ei­nem in­stink­ti­ven, kind­li­chen Wi­der­wil­len und dem Ge­dan­ken im All­ge­mei­nen, dass Peg­got­ty und ich voll­kom­men aus­rei­chen müss­ten, mei­ne Mut­ter ohne wei­tern Bei­stand glück­lich ge­nug ma­chen zu kön­nen, noch einen an­de­ren Grund da­für hat­te, war es doch ge­wiss nicht der, den ich im rei­fern Al­ter für mei­ne Ab­nei­gung her­aus­ge­fun­den hät­te. Nichts Der­ar­ti­ges fiel mir ein. Ich konn­te wohl stück­wei­se be­ob­ach­ten, aber aus sol­chen Fä­den ein Netz zu ma­chen und dar­in je­mand zu fan­gen, das ging und geht noch jetzt über mein Kön­nen hin­aus.

An ei­nem Herbst­mor­gen stand ich mit mei­ner Mut­ter in dem Vor­gar­ten, als Mr. Murd­sto­ne, ich kann­te jetzt sei­nen Na­men, vor­bei­ge­rit­ten kam. Er hielt sein Pferd an, um mei­ne Mut­ter zu be­grü­ßen, und sag­te, er rit­te nach Lo­we­stoft, um ei­ni­ge Freun­de zu be­su­chen, die dort eine Jacht hät­ten, und mach­te den lus­ti­gen Vor­schlag, mich vor sich auf den Sat­tel zu neh­men, wenn ich rei­ten woll­te.

Das Wet­ter war so wun­der­schön, und das Pferd schnaub­te und stampf­te so mun­ter vor der Gar­ten­tür, dass ich große Lust dazu hat­te. Mei­ne Mut­ter schick­te mich da­her zu Peg­got­ty hin­auf zum An­zie­hen, und mitt­ler­wei­le stieg Mr. Murd­sto­ne ab und schritt, die Zü­gel über dem Arm, lang­sam vor der Ro­sen­he­cke auf und ab, wäh­rend mei­ne Mut­ter an der in­nern Sei­te ne­ben ihm her­ging. Ich er­in­ne­re mich noch, wie Peg­got­ty und ich aus dem klei­nen Fens­ter hin­ab­sa­hen, er­in­ne­re mich auch noch, wie eif­rig mei­ne Mut­ter und Mr. Murd­sto­ne die Ro­sen­he­cke zwi­schen sich zu be­trach­ten schie­nen, wäh­rend sie dar­an ent­lang­schlen­der­ten, und wie Peg­got­ty, die vor­her in wah­rer En­gel­slau­ne ge­we­sen, plötz­lich ganz är­ger­lich wur­de und mein Haar wü­tend ge­gen den Strich bürs­te­te.

Mr. Murd­sto­ne und ich wa­ren bald un­ter­wegs und trab­ten auf dem grü­nen Ra­sen ne­ben der Land­stra­ße da­hin. Er hielt mich leicht mit ei­nem Arm, und ich glau­be nicht, dass ich be­son­ders un­ru­hig war. Aber ich konn­te mich nicht ent­hal­ten, von Zeit zu Zeit den Kopf zu wen­den und ihm ins Ge­sicht zu se­hen.

Er hat­te jene Art seich­ter schwar­zer Au­gen – ich fin­de kei­nen bes­sern Aus­druck da­für –, die, wenn sie nach­sin­nen, durch ir­gend­ei­ne son­der­ba­re Licht­bre­chung zu schie­len schei­nen. Ver­schie­de­ne Male, wenn ich ihn an­sah, be­merk­te ich das mit ei­ner Art Scheu und hät­te gern ge­wusst, wor­über er so tief nach­den­ke. Sein Haar und sein Bart wa­ren in der Nähe noch schwär­zer und dich­ter, als ich ge­glaubt. Das star­ke Kinn und die schwar­zen Punk­te, die von dem sorg­fäl­tig ra­sier­ten Bar­te üb­rig blie­ben, er­in­ner­ten mich an eine Wachs­fi­gur, die vor ei­nem hal­b­en Jahr in un­se­rer Ge­gend ge­zeigt wor­den war. Die­ses, sei­ne re­gel­mä­ßi­gen Au­gen­brau­en und das rei­che Weiß, Schwarz und Braun sei­nes Teints ver­wünscht sei sein Teint und ver­wünscht sein An­den­ken – mach­ten, dass ich ihn trotz mei­ner Ab­nei­gung für einen schö­nen Mann hielt. Ich zweifle nicht, dass mei­ne arme, lie­be Mut­ter ganz der­sel­ben Mei­nung war.

Wir gin­gen in ein Gast­haus am Mee­re, wo zwei Her­ren in ei­nem Zim­mer Zi­gar­ren rauch­ten. Je­der von ih­nen lag auf min­des­tens vier Stüh­len und hat­te eine wei­te zot­ti­ge Ja­cke an. In ei­ner Ecke la­gen auf ei­nem Hau­fen über­ein­an­der Rö­cke und Boots­män­tel und eine Flag­ge. Bei­de Her­ren rich­te­ten sich schwer­fäl­lig auf, als wir ein­tra­ten, und rie­fen: »Hal­lo, Murd­sto­ne! Wir dach­ten schon, du wä­rest tot.«

»Noch nicht«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was ist das für ein Gelb­schna­bel?« frag­te ei­ner der Gent­le­men und fass­te mich am Arm.

»Das ist Davy«, ant­wor­te­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was für ein Davy?« frag­te der Herr Jo­nes.

»Cop­per­field«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was? Der himm­li­schen Mrs. Cop­per­field Bei­ga­be? Der rei­zen­den klei­nen Wit­we?«

»Qui­ni­on«, sag­te Mr. Murd­sto­ne, »nimm dich in acht, man ist schlau.«

»Wer denn?« frag­te der Gent­le­man la­chend.

Ich blick­te rasch auf, denn ich hät­te es auch gern ge­wusst.

»Bloß Brooks von Shef­field«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

Ich fühl­te mich or­dent­lich er­leich­tert, dass es bloß Brooks von Shef­field sei, denn an­fangs hat­te ich wirk­lich ge­glaubt, man mei­ne mich.

Mr. Brooks von Shef­field muss­te wohl je­mand sehr Ko­mi­sches sein, denn die bei­den Gent­le­men lach­ten herz­lich, als sein Name fiel, und Mr. Murd­sto­ne war auch sehr be­lus­tigt. Nach län­ge­rem La­chen sag­te der Herr, der Qui­ni­on hieß: »Und wie ist Mr. Brooks’ von Shef­field Mei­nung in be­treff des ge­plan­ten Ge­schäf­tes?«

»Hm, ich weiß nicht, ob Brooks vor­der­hand viel da­von ver­steht«, ent­geg­ne­te Mr. Murd­sto­ne, »aber ich glau­be, im All­ge­mei­nen ist er ihm nicht be­son­ders güns­tig.«

Dar­über wur­de noch viel mehr ge­lacht, und Mr. Qui­ni­on sag­te, er wol­le nach Sher­ry klin­geln, um auf Brooks Ge­sund­heit zu trin­ken. Das tat er dann, und als der Wein kam, gab er mir ein we­nig da­von und ein Bis­kuit, und be­vor ich trank, stand er auf und sag­te: »Ver­wir­rung kom­me über Brooks von Shef­field.«

Der Toast wur­de mit großem Bei­fall und so herz­li­chem Ge­läch­ter auf­ge­nom­men, dass ich selbst mit­la­chen muss­te, wor­über sie dann noch mehr lach­ten. Kurz, es war sehr lus­tig.

Wir gin­gen hier­auf an den Klip­pen des Stran­des spa­zie­ren und setz­ten uns ins Gras und schau­ten durch ein Fern­rohr – ich konn­te nichts se­hen, als sie es mir vor das Auge hiel­ten, be­haup­te­te aber, ich könn­te es – und dann gin­gen wir zu­rück in das Ho­tel, um zei­tig zu Mit­tag zu es­sen.

Wäh­rend un­se­res Spa­zier­gan­ges rauch­ten die bei­den Her­ren un­auf­hör­lich, was sie – nach dem Ge­ruch ih­rer zot­ti­gen Rö­cke zu schlie­ßen – wohl seit dem ers­ten Tage an ge­macht ha­ben muss­ten, seit sie sie vom Schnei­der be­kom­men hat­ten. Ich darf nicht ver­ges­sen, dass wir auch an Bord der Jacht gin­gen, wo sie alle drei in die Ka­jü­te hin­un­ter­stie­gen und sich eif­rig mit ver­schie­de­nen Pa­pie­ren be­schäf­tig­ten. Ich sah sie an­ge­strengt ar­bei­ten, wenn ich durch das of­fe­ne Lu­ken­fens­ter hin­un­ter­blick­te.

 

Die gan­ze Zeit über lie­ßen sie mich in Ge­sell­schaft ei­nes sehr net­ten Man­nes mit ei­nem großen Kopf voll ro­ter Haa­re und ei­nem sehr klei­nen la­ckier­ten Hut. Er hat­te ein bunt­ge­streif­tes Hemd an, mit dem Wor­te »Feld­ler­che« in großen Buch­sta­ben quer über der Brust. Ich dach­te, es sei sein Name und er schrei­be ihn auf die Brust, weil er auf dem Schif­fe wohn­te und kein Hau­stor hat­te, wor­auf er ihn hät­te an­schla­gen kön­nen. Als ich ihn aber Mr. Feld­ler­che nann­te, sag­te er, das Schiff hie­ße so.

Den gan­zen Tag über be­merk­te ich, dass Mr. Murd­sto­ne erns­ter und ver­schlos­se­ner war als die bei­den an­de­ren Her­ren. Die­se wa­ren sehr lus­tig und un­ge­zwun­gen, scherz­ten mit­ein­an­der, aber sel­ten mit ihm. Er kam mir ge­schei­ter und küh­ler vor als sie, und sie moch­ten ziem­lich mei­ner Mei­nung sein. Ich be­merk­te näm­lich, dass Mr. Qui­ni­on ein- oder zwei­mal, wenn er sprach, Mr. Murd­sto­ne von der Sei­te an­sah, wie um sich zu über­zeu­gen, ob ihm nicht ir­gen­det­was miss­fie­le, und dass er ein­mal, als Mr. Pass­nid­ge, der an­de­re Herr, be­son­ders aus­ge­las­sen war, die­sem auf den Fuß trat und ihm heim­lich mit den Au­gen zu­wink­te, auf Mr. Murd­sto­ne zu ach­ten, der stumm und ver­dros­sen da­saß. Ich er­in­ne­re mich auch nicht, dass Mr. Murd­sto­ne den gan­zen Tag über ein­mal ge­lacht hät­te, au­ßer über den Shef­field-Witz, den er ja üb­ri­gens sel­ber ge­macht hat­te.

Wir gin­gen abends zei­tig nach Hau­se. Es war ein sehr schö­ner Abend, und mei­ne Mut­ter und Mr. Murd­sto­ne gin­gen wie­der an der Ro­sen­he­cke auf und ab, wäh­rend ich hin­ein­ge­schickt wur­de, um mei­nen Tee zu trin­ken.

Als er weg­ge­gan­gen war, frag­te mich mei­ne Mut­ter aus über die Ta­ge­s­er­leb­nis­se. Ich er­zähl­te, was sie über sie ge­äu­ßert hat­ten, und sie lach­te und sag­te, es sei­en un­ver­schäm­te Bur­schen, die Un­sinn schwatz­ten, aber ich merk­te ganz gut, dass es ihr ge­fiel. So ge­nau, wie ich es jetzt weiß. Ich be­nutz­te die Ge­le­gen­heit, sie zu fra­gen, ob sie einen ge­wis­sen Brooks aus Shef­field ken­ne, sie er­wi­der­te, nein, aber es müs­se ein Mes­ser- und Ga­bel­fa­bri­kant sein.

Kann ich von ih­rem Ge­sicht, so­sehr es sich spä­ter ver­än­der­te, so ver­blüht ich es weiß, sa­gen, es sei nicht mehr, wenn es hier in die­sem Au­gen­blick so deut­lich mir vor Au­gen tritt, wie je­des be­lie­bi­ge Ge­sicht, das auf be­leb­ter Stra­ße an mir vor­bei­geht? Kann ich von ih­rer un­schulds­vol­len, mäd­chen­haf­ten Schön­heit sa­gen, sie sei ver­welkt und da­hin, wenn ihr Atem jetzt mei­ne Wan­ge be­rührt, wie er es an je­nem Abend tat? Kann ich sa­gen, sie habe sich je­mals ver­än­dert, wenn mei­ne Erin­ne­run­gen sie nur mit die­sen Zü­gen ins Le­ben zu­rück­ru­fen?

Ich schil­de­re sie ge­nau so, wie sie war, als ich nach die­ser Un­ter­hal­tung zu Bett ge­gan­gen und sie zu mir kam, um mir gute Nacht zu sa­gen. Sie knie­te ne­ben mei­nem Bett nie­der, leg­te ihr Kinn auf ihre Hän­de und frag­te la­chend:

»Was sag­ten sie, Davy? Sag es noch ein­mal. Ich kann’s nicht glau­ben.«

»Der himm­li­schen –« fing ich an.

Sie leg­te mir die Hand auf den Mund.

»Himm­lisch ge­wiss nicht«, sag­te sie la­chend. »Himm­lisch kann es nicht ge­we­sen sein, Davy. Jetzt weiß ichs, dass es nicht wahr ist.«

»Doch! Der himm­li­schen Mrs. Cop­per­field«, wie­der­hol­te ich stand­haft, »und der rei­zen­den –«

»Nein, nein, rei­zend ge­wiss nicht. Nicht rei­zend«, un­ter­brach mich mei­ne Mut­ter und leg­te mir wie­der die Fin­ger auf die Lip­pen.

»Ja, es war so. Der rei­zen­den klei­nen Wit­we.«

»Was für när­ri­sche, un­ver­schäm­te Men­schen!« rief mei­ne Mut­ter la­chend und be­deck­te ihr Ge­sicht, »was für al­ber­ne Bur­schen, nicht wahr, mein lie­ber Davy?«

»Ja­wohl, Mama.«

»Sag Peg­got­ty nichts. Sie könn­te böse drü­ber wer­den. Ich bin auch sehr böse drü­ber, aber es ist bes­ser, Peg­got­ty er­fährt nichts da­von.«

Ich ver­sprach es na­tür­lich, und wir küss­ten uns noch vie­le Male, und bald lag ich in fes­tem Schlaf.

Nach der lan­gen in­zwi­schen ver­gan­ge­nen Zeit kommt es mir jetzt so vor, als ob mir be­reits am Tage dar­auf Peg­got­ty den son­der­ba­ren Vor­schlag mach­te, von dem ich so­gleich er­zäh­len will, – aber wahr­schein­lich la­gen zwei Mo­na­te da­zwi­schen.

Wir sa­ßen wie­der ei­nes Abends, als mei­ne Mut­ter auf Be­such war, in Ge­sell­schaft des Strump­fes, des El­len­ma­ßes, des Wachs­stück­chens, des Kas­tens mit der St.-Pauls-Kir­che und des Kro­ko­dil­buchs bei­sam­men, Peg­got­ty und ich, als sie (nach­dem sie mich mehr­mals an­ge­blickt und den Mund auf­ge­ris­sen, als woll­te sie spre­chen, – ich hielt es für blo­ßes Gäh­nen, sonst hät­te es mich be­un­ru­higt, –) end­lich mit ein­schmei­cheln­der Stim­me sag­te: »Mas­ter Davy, wie wäre es, wenn du mit mir auf vier­zehn Tage mei­nen Bru­der in Yar­mouth be­such­test? Wär das nicht fein?«

»Ist dein Bru­der ein an­ge­neh­mer Mann?« frag­te ich vor­sich­tig.

»O was für ein an­ge­neh­mer Mann!« rief Peg­got­ty und streck­te die Hän­de in die Höhe. »Und dann ist das Meer da und die Boo­te und die Schif­fe und der Strand und Ham zum Spie­len.«

Ham war Peg­got­tys Nef­fe, wie be­kannt. Ich war ganz auf­ge­regt über die in Aus­sicht ge­stell­ten Freu­den von Yar­mouth und er­wi­der­te, dass es frei­lich herr­lich sein müss­te, aber was wohl die Mut­ter dazu sa­gen wür­de.

»Ich möch­te eine Gui­nee wet­ten, dass sie uns die Er­laub­nis dazu gibt. Wenn du willst, fra­ge ich sie, so­bald sie nach Hau­se kommt. Ab­ge­macht.«

»Aber was wird sie an­fan­gen, wenn wir fort sind?« frag­te ich und leg­te mei­ne Ell­bo­gen auf den Tisch, um die Sa­che gründ­lich zu be­spre­chen. »Sie kann doch nicht al­lein blei­ben?«

Wenn Peg­got­ty ganz plötz­lich jetzt nach ei­nem Lo­che in der Strumpf­fer­se späh­te, muss es wahr­haf­tig ganz klein und des Stop­fens nicht wert ge­we­sen sein.

»Peg­got­ty! Hör doch. Sie kann doch nicht al­lein blei­ben.«

»Ach Gott, rich­tig«, sag­te Peg­got­ty und sah mich end­lich wie­der an. »Weißt du es noch nicht? Sie geht auf vier­zehn Tage auf Be­such zu Mrs. Gray­per. Mrs. Gray­per be­kommt eine Men­ge Gäs­te.«

Da die Sa­che so stand, war ich ganz be­reit zur Rei­se. In größ­ter Un­ge­duld war­te­te ich, bis mei­ne Mut­ter von Mrs. Gray­per, uns­rer Nach­ba­rin, nach Hau­se kam, um sie zu fra­gen, ob sie mit dem großen Plan ein­ver­stan­den sei. Gar nicht so über­rascht, wie ich ver­mu­tet hat­te, ging mei­ne Mut­ter be­reit­wil­lig dar­auf ein, und die Sa­che wur­de die­sen Abend noch ab­ge­macht und Woh­nung und Kost für mich für die vier­zehn Tage be­zahlt.

Der Tag un­se­rer Abrei­se kam bald her­an. Er war so nahe an­ge­setzt, dass er selbst für mich bald kam, wo ich doch förm­lich vor Er­war­tung fie­ber­te und im­mer fürch­te­te, ein Erd­be­ben oder ein feu­er­spei­en­der Berg oder eine an­de­re große Ka­ta­stro­phe könn­te al­les hin­aus­schie­ben.

Wir soll­ten mit ei­nem Fuhr­mann rei­sen, der die­sen Mor­gen nach dem Früh­stück auf­brach. Ich wür­de et­was dar­um ge­ge­ben ha­ben, wenn man mir er­laubt hät­te, mich schon über Nacht in den Man­tel wi­ckeln und mit Hut und Stie­feln schla­fen zu dür­fen. Es er­schüt­tert mich jetzt noch, wenn ich es so leicht­hin er­zäh­le und be­den­ke, wie un­ge­dul­dig ich mich von dem glück­li­chen Heim weg­sehn­te, ohne zu ah­nen, was ich für im­mer ver­ließ.

Es steht wie eine fro­he Erin­ne­rung vor mir, als der Wa­gen vor der Türe hielt und mei­ne Mut­ter mich küss­te, und ich freue mich, dass ich vor zärt­li­cher Lie­be zu ihr und dem al­ten Hau­se, das ich noch nie ver­las­sen, wei­nen muss­te, freue mich über die Erin­ne­rung, dass auch mei­ne Mut­ter wein­te und ich ihr Herz an mei­nem schla­gen fühl­te.

Und als der Wa­gen da­von­fuhr, da kam mei­ne Mut­ter noch ein­mal zur Gar­ten­tür her­aus und ließ hal­ten, um mich noch ein­mal zu küs­sen. Ich ver­wei­le gern in Ge­dan­ken bei der In­nig­keit und Lie­be, mit der sie mir ins Ge­sicht blick­te und mir noch einen letz­ten Ab­schieds­kuss gab.

Als sie mit­ten auf der Stra­ße stand und uns nachsah, trat Mr. Murd­sto­ne zu ihr und schi­en ihr Vor­stel­lun­gen we­gen ih­rer großen Rüh­rung zu ma­chen. Ich sah um die Wa­gen­pla­che her­um zu­rück und war mir nicht klar dar­über, was ihn denn ei­gent­lich die gan­ze Sa­che an­gin­ge.

Peg­got­ty, die auf der an­de­ren Sei­te her­aus­schau­te, schi­en nichts we­ni­ger als zu­frie­den zu sein, wie ihr Ge­sicht ver­riet, als sie den Kopf wie­der zu­rück­zog.

Ich saß eine Zeit lang stumm ne­ben ihr in Träu­me­rei ver­sun­ken über die Lö­sung der Fra­ge: ob ich, ähn­lich wie der Däum­ling im Mär­chen, wohl im­stan­de sein wür­de, mit Hil­fe ih­rer Knöp­fe wie­der heim­zu­fin­den.

3. Kapitel – Eine Veränderung

Das Pferd des Fuhr­manns war das fauls­te Pferd der Welt, kam mir vor. Es trot­te­te mit ge­senk­tem Kopf die Stra­ße ent­lang, als ge­fie­le es ihm, die Leu­te, de­nen es Pa­ke­te brach­te, mög­lichst lan­ge war­ten zu las­sen. Ich bil­de­te mir ein, es manch­mal deut­lich ki­chern ge­hört zu ha­ben, aber man sag­te mir, es hät­te bloß Hus­ten.

Der Fuhr­mann ließ eben­falls den Kopf hän­gen wie sein Gaul und nick­te schläf­rig beim Kut­schie­ren, die Arme auf das Knie ge­stützt. Ich sage »kut­schie­ren«, aber es scheint mir, der Wa­gen wäre eben­so gut ohne ihn nach Yar­mouth ge­kom­men, denn das Pferd be­sorg­te es ganz al­lein. Und was die Un­ter­hal­tung be­trifft, so konn­te er nichts als pfei­fen.

Peg­got­ty hat­te einen Korb mit Ess­wa­ren auf dem Knie, die reich­lich bis Lon­don ge­langt hät­ten. Wir aßen viel und schlie­fen viel.

Peg­got­ty schlief im­mer mit dem Kinn auf dem Korb­hen­kel, den sie nie losließ. Ich wür­de nie ge­glaubt ha­ben, wenn ich es nicht selbst ge­hört hät­te, dass ein ein­zi­ges schutz­lo­ses Weib so viel zu­sam­men­schnar­chen kön­ne.

Wir mach­ten Um­we­ge und brach­ten so lan­ge Zeit da­mit zu, eine Bett­stel­le in ei­nem Wirts­haus ab­zu­ge­ben und an ver­schie­de­nen Or­ten vor­zu­spre­chen, dass ich ganz müde und sehr froh war, als Yar­mouth in Sicht kam.

Es sähe schwam­mig und voll­ge­so­gen aus, mein­te ich, als ich mei­ne Au­gen über die große, lang­wei­li­ge Ein­öde jen­seits des Flus­ses schwei­fen ließ; ich konn­te mir nicht hel­fen, aber ich staun­te, wie das Geo­gra­fie­buch be­haup­ten konn­te, die Welt sei wirk­lich so rund, wenn ein Teil der­sel­ben so flach war. Dann über­leg­te ich mir, dass Yar­mouth mög­li­cher­wei­se an ei­nem der bei­den Pole lie­gen könn­te, und gab mich mit die­ser Er­klä­rung zu­frie­den.

Als wir et­was nä­her ka­men und die gan­ze Land­schaft wie eine ge­ra­de nied­ri­ge Li­nie un­ter dem Him­mel lie­gen sa­hen, be­merk­te ich zu Peg­got­ty, dass ein klei­ner Hü­gel oder der­glei­chen ver­schö­nernd wir­ken müss­te, und dass es hüb­scher wäre, wenn das Land et­was deut­li­cher von der See ge­schie­den und die Stadt und die Flut nicht so sehr un­ter­ein­an­der ge­mischt wie Mehl und Was­ser sein wür­den. Aber Peg­got­ty sag­te mit grö­ße­rem Nach­druck als ge­wöhn­lich, dass wir die Din­ge eben neh­men müss­ten, wie wir sie fän­den, und dass sie ih­rer­seits stolz sei, ein »He­ring von Yar­mouth« zu sein.

Als wir in die Stra­ße ein­bo­gen und den Fisch-, Pech-, Werg- und Teer­ge­ruch ein­so­gen und die See­leu­te um­her­ge­hen, und die Kar­ren über die Stei­ne schwan­ken sa­hen, fühl­te ich, dass ich ei­nem so ge­schäf­ti­gen Orte Un­recht ge­tan hat­te. Ich ge­stand es Peg­got­ty ein, die mei­ne Aus­drücke des Ent­zückens sehr wohl­ge­fäl­lig auf­nahm und mir sag­te, es sei all­ge­mein be­kannt (wahr­schein­lich un­ter de­nen, die das große Glück ha­ben, ge­bo­re­ne Yar­mouth-He­rin­ge zu sein), dass Yar­mouth über­haupt die schöns­te Stadt der Erde sei.

»Da ist mein Ham«, schrie sie plötz­lich auf, »in Ge­lehr­sam­keit auf­ge­wach­sen.«

Wirk­lich er­war­te­te Ham uns beim Gast­hau­se und er­kun­dig­te sich nach mei­nem Be­fin­den wie ein al­ter Be­kann­ter. An­fangs schi­en es mir nicht, als ob ich ihn so gut ken­ne, wie er mich, weil er seit der Nacht, als ich ge­bo­ren wur­de, nicht in un­ser Haus ge­kom­men war.

 

Be­greif­li­cher­wei­se hat­te er in die­ser Hin­sicht einen Vor­sprung vor mir. Aber un­se­re Ver­trau­lich­keit wuchs sehr, als er mich auf den Rücken nahm und nach Hau­se trug. Er war jetzt ein großer, star­ker Bur­sche von sechs Fuß Höhe, ent­spre­chen­der Brei­te und mas­si­ven Schul­tern, aber mit ei­nem Dum­men­jun­gen­ge­sicht, und krau­sem hel­lem Haar, das ihn et­was scha­f­ar­tig aus­se­hen mach­te. Sein An­zug be­stand aus ei­ner Se­gel­tuch­ja­cke und ei­nem Paar so stei­fer Ho­sen, dass sie ganz al­lein hät­ten auf­recht ste­hen kön­nen. Dass er einen Hut trü­ge, hät­te nie­mand so recht be­haup­ten dür­fen. Es schi­en eher ein al­tes Haus mit ein we­nig Pech dar­auf zu sein.

Ham trug mich auf dem Rücken und un­se­re klei­ne Schach­tel un­ter dem Arm, wäh­rend Peg­got­ty einen Hand­kof­fer schlepp­te. So gin­gen wir durch schma­le Gäss­chen, die mit Ab­fall von Zim­mer­holz und klei­nen Sand­häuf­chen be­deckt wa­ren, an Gas­an­stal­ten, Sei­ler­stät­ten und Werf­ten, wo Schif­fe und Boo­te ge­baut, zer­legt, kal­fa­tert und auf­ge­ta­kelt wur­den, an Schmie­den und Kal­kö­fen vor­bei, bis wir auf die öde Flä­che ka­men, die ich schon von wei­tem ge­se­hen hat­te. Da rief Ham: »Dats un­ser Hus, Masr Davy.«

Ich sah mich nach al­len Sei­ten um und ließ mei­ne Au­gen über die öde Ebe­ne, über das Meer und den Fluss hin­schwei­fen, aber nir­gends konn­te ich ein Haus ent­de­cken. Nicht weit von uns auf ei­ner klei­nen An­hö­he er­blick­te ich wohl ein schwar­zes Boot, eine Art aus­ge­dien­ter Bar­ke, aus dem ein Stück ei­ser­nes Rohr als Schorn­stein her­aus­rag­te und sehr ge­müt­lich rauch­te, aber sonst war nichts da, was nach ei­ner Woh­nung aus­ge­se­hen hät­te.

»Es ist doch nicht das dort?« frag­te ich. »Das Ding, das wie ein Schiff aus­sieht?«

»Dje­woll, Masr Davy«, ant­wor­te­te Ham.

Ich glau­be, wenn es Alad­ins Palast ge­we­sen wäre oder das Ei des Vo­gels Roc, hät­te ich nicht ent­zück­ter sein kön­nen, als über den ro­man­ti­schen Ge­dan­ken, hier woh­nen zu dür­fen.

In die Sei­ten­wand war eine köst­li­che Tür ge­schnit­ten, mit ei­nem Dach dar­über, und klei­ne Fens­ter sa­hen her­aus; aber der wun­der­bars­te Reiz für mich lag dar­in, dass es ein wirk­li­ches Boot war, das ge­wiss hun­der­te Mal auf dem Was­ser ge­schwom­men und nie­mals dazu be­stimmt ge­we­sen war, auf fes­tem Lan­de zur Woh­nung zu die­nen. Das fes­sel­te mich ganz und gar. Wenn es je­mals von An­fang an hät­te ein Haus sein sol­len, wür­de es mir viel­leicht klein oder un­be­quem oder ein­sam vor­ge­kom­men sein. So aber er­schi­en es mir voll­kom­men in je­der Art.

In­nen war al­les au­ßer­or­dent­lich rein­lich und so hübsch wie mög­lich.

Ein Tisch und eine Schwarz­wäl­der­wand­uhr und eine Kom­mo­de, und auf der Kom­mo­de stand ein Tee­brett, dar­auf war eine Dame mit ei­nem Son­nen­schirm ge­malt, und ne­ben ihr spa­zier­te ein mi­li­tä­risch aus­se­hen­des Kind mit ei­nem Rei­fen. Das Tee­brett wur­de durch eine Bi­bel am Her­un­ter­fal­len ge­hin­dert und hät­te, wenn es ab­ge­rutscht wäre, eine Men­ge Tas­sen und eine Tee­kan­ne, die alle um das Buch her­um­stan­den, zer­schla­gen. An der Wand hin­gen ein paar roh ge­mal­te Bil­der aus der Hei­li­gen Schrift, wie ich sie seit­dem nie in Trö­del­lä­den se­hen kann, ohne dass nicht so­fort das gan­ze In­ne­re je­nes Hau­ses klar vor mei­nen Au­gen steht. Ein ro­ter Abra­ham, im Be­griff einen blau­en Isaak zu op­fern, und ein Da­niel in gelb un­ter grü­ne Lö­wen ge­wor­fen, sta­chen am meis­ten her­vor.

Über dem Ka­min­sims hing ein Bild des Lug­gers »Sa­rah Jane«, in Sun­der­land ge­baut, mit ei­nem wirk­li­chen klei­nen, höl­zer­nen Schiffs­hin­ter­teil dar­an, ein Kunst­werk, das Ge­mäl­de und Zim­mer­manns­ar­beit ver­ei­nigt zeig­te und mir als ei­nes der nei­dens­wer­tes­ten Be­sitz­tü­mer der Welt er­schi­en. Im Deck­bal­ken sta­ken ein paar Ha­ken, de­ren Be­stim­mung mir rät­sel­haft war, und ei­ni­ge Schiffs­kis­ten und Kof­fer stan­den um­her und dienten als Stüh­le.

Dies al­les über­sah ich auf den ers­ten Blick, wie es nach mei­ner An­sicht Kin­der zu tun pfle­gen; dann öff­ne­te Peg­got­ty eine klei­ne Tür und zeig­te mir mein Schlaf­zim­mer. Es war das voll­kom­mens­te und wün­schens­wer­tes­te Schlaf­zim­mer, das ich je­mals ge­se­hen habe, im Hin­ter­teil des Schif­fes mit ei­nem klei­nen Fens­ter, – da, wo frü­her das Steu­er durch­ge­gan­gen, – mit ei­nem klei­nen Spie­gel, ge­ra­de in der rech­ten Höhe für mich an die Wand ge­na­gelt und mit Aus­tern­scha­len ein­ge­rahmt, ei­nem klei­nen Bett und ge­ra­de ge­nug Platz da­vor, um hin­aus­stei­gen zu kön­nen, und ei­nem Strauß von See­gras in ei­nem blau­en Krug auf dem Tisch. Die Wän­de wa­ren so weiß ge­tüncht wie Milch. Die Bett­de­cke, aus Fle­cken kun­ter­bunt zu­sam­men­ge­setzt, blen­de­te mei­ne Au­gen fast durch ihre Far­ben­pracht.

Ganz be­son­ders ge­fiel mir in die­sem herr­li­chen Hau­se der Fisch­ge­ruch, der so durch­drin­gend war, dass mein Ta­schen­tuch, als ich es ein­mal her­aus­zog, ge­ra­de so roch, als ob ein Hum­mer dar­in ein­ge­wi­ckelt ge­we­sen wäre. Als ich die­se Ent­de­ckung Peg­got­ty an­ver­trau­te, be­lehr­te sie mich, dass ihr Bru­der mit Hum­mern, Krab­ben und Kreb­sen han­del­te.

Spä­ter fand ich her­aus, dass ein Hau­fen die­ser Ge­schöp­fe in wun­der­ba­rer Ver­knäu­e­lung, in der sie nicht wie­der loslie­ßen, was sie ein­mal mit ih­ren Sche­ren ge­fasst hat­ten, drau­ßen in ei­nem klei­nen höl­zer­nen Schup­pen, in dem Töp­fe und Kes­sel hin­gen, auf­be­wahrt wur­den.

Eine sehr höf­li­che Frau mit wei­ßer Schür­ze, die ich schon drau­ßen in der Türe hat­te kni­xen se­hen, als ich auf Hams Rücken noch eine Vier­tel­mei­le vom Hau­se ent­fernt war, emp­fing uns. Des­glei­chen ein sehr schö­nes, klei­nes Mäd­chen – so kam sie mir we­nigs­tens vor, – mit ei­nem Hals­band aus blau­en Glas­per­len.

Die Klei­ne ließ sich nicht küs­sen, als ich sie dazu auf­for­der­te, son­dern rann­te fort und ver­steck­te sich. Spä­ter, als wir ein präch­ti­ges Mit­ta­ges­sen, be­ste­hend aus ge­koch­ten Fi­schen, ge­schmol­ze­ner But­ter und Kar­tof­feln, so­wie ei­ner Ham­mel­rip­pe für mich, zu uns ge­nom­men hat­ten, kam ein stark be­haar­ter Mann mit sehr gut­mü­ti­gem Ge­sicht nach Hau­se. Er nann­te Peg­got­ty »Mä­chen« und gab ihr einen herz­haf­ten Schmatz auf die Wan­ge, wor­aus ich bei der sons­ti­gen Züch­tig­keit ih­res We­sens schloss, dass es ihr Bru­der sein müss­te. Er war es auch und wur­de mir als Mr. Peg­got­ty, der Herr des Hau­ses, vor­ge­stellt.

»Freut mich, Sie zu se­hen, Sir«, sag­te Mr. Peg­got­ty »– wer­den uns rau fin­den, aber stets be­reit.«

Ich dank­te ihm und gab zur Ant­wort, dass ich mich an so ei­nem an­ge­neh­men Ort ge­wiss wohl­be­fin­den wür­de.

»Wie geits to Hus, Sir?« frag­te Mr. Peg­got­ty, plötz­lich in sei­nen Schif­fer­dia­lekt ver­fal­lend. »Ha­ben Sie Ihre Mama frisch und mun­ter ver­las­sen?«

Ich teil­te Mr. Peg­got­ty mit, dass sie so mun­ter und frisch sei, wie ich nur wün­schen könn­te, und dass sie sich ihm emp­feh­len lie­ße, was eine klei­ne, höf­li­che Lüge mei­ner­seits war.

»Ick bünn Ehr sehr ver­bun­nen«, ant­wor­te­te Mr. Peg­got­ty. »Wenn Sej et hier for­tein Dag ut­hol­len könt mit der da«, er nick­te sei­ner Schwes­ter zu, »und Ham und lütt Emly, sünn wi stolz op Ehr Ge­sell­schaft.«

Nach­dem Mr. Peg­got­ty in so gast­freund­li­cher­wei­se die Hon­neurs sei­nes Hau­ses ge­macht hat­te, ging er mit der Be­mer­kung, kal­tes Was­ser rich­te ge­gen Dreck nichts aus, hin­aus, um sich warm zu wa­schen.